Eine virtuelle Therapie kann bei Angststörungen und nach Schlaganfällen helfen. Einige Pflegeheime experimentieren ebenfalls mit VR-Brillen. Aber ist die neue Technik wirklich für Demenzkranke geeignet?   

Reisen in virtuelle Welten sind in der Medizin nichts Ungewöhnliches mehr. Virtual Reality (VR) wird gegen Angstzustände und bei Kriegstraumata sogar schon seit den neunziger Jahren verwendet.

„Für Angststörungen, insbesondere spezifische Ängste wie zum Beispiel Höhen- oder Spinnenangst und auch in der Rehabilitation nach Schlaganfall, gibt es mittlerweile eine Reihe von Einzelstudien und Meta-Analysen, die einen positiven therapeutischen Effekt von VR-und augmented reality gestützter Therapie zeigen.“

Neurologe Philipp Kellmeyer, Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Freiburg.

In der Regel verwenden Therapeuten  virtuelle Realitäten ergänzend zu herkömmlichen therapeutischen Settings, wie zum Beispiel der Physiotherapie in der Schlaganfall-Reha. Studien über den Nutzen von VR-Technologien laufen auch für Essstörungen, Alkohol- und Zigarettenabhängigkeit. Schmerzpatienten könnten ebenfalls profitieren, wenn zum Beispiel Brandverletzte bei einem Wechsel der Verbände in virtuelle Eislandschaften eintauchen.

In Pflegeeinrichtungen kommt die neue Technik bisher nur zögerlich zum Einsatz. Eines dieser Heime ist die Demenzpflege Riedlingen in Baden-Württemberg. Seit zwei Jahren nutzen etwa acht bis zehn Bewohner immer mal wieder VR-Brillen. Einrichtungsleiter Michael Wissussek ist von dem Prinzip überzeugt.

„Als beruhigendes Element ist VR toll. Allerdings ist es in der Praxis oft schwierig, die Menschen dazu zu bringen, die Brillen aufzusetzen. Die Pflegekräfte müssen immer dabei sein und anleiten“.

Michael Wissussek, Demenzexperte und Einrichtungsleiter

Die VR-Brille zeigt eine Welt, in der man sich mittels Kopfbewegungen in 360 Grad umsehen kann. Der Nutzer gewinnt den Eindruck, sich in dieser Welt zu befinden. In der Demenzpflege Riedlingen sehen die Bewohner Filme – in langsamen Einstellungen- aus Gegenden, die sie aus ihrer Vergangenheit kennen. So können sie zum Beispiel am Federsee spazierengehen, einem in Oberschwaben beliebten See. Produziert wurden die Filme von der Firma ANDERS VR, einem ehemaligen Start-up der Universität Hohenheim. „Wir haben bei der Entwicklung der Brillen eng mit Psychologen und Therapeuten zusammengearbeitet“, berichtet der Gründer Andreas Haas. „Die Produktion anspruchsvoller und für therapeutische Zwecke geeigneter VR-Inhalte ist nicht einfach. Die Ich-Perspektive in der Virtuellen Welt muss der Sitz- oder Liegeposition des Betrachters entsprechen, ansonsten verfehlen wir die gewünschte Wirkung der Ruhe und Entspannung. Ebenso sind in unseren Anwendungsfällen schnelle Kamerabewegungen tabu“.

ANDERS VR arbeitet zurzeit vorwiegend mit Krankenhäusern in den Bereichen Onkologie, Schmerztherapie sowie Rehabilitation zusammen. Auch die Nachfrage aus anderen Bereichen steigt. Zehn Pflegeheime in Deutschland nutzen schon die VR-Brillen der Firma, berichtet Geschäftsführer Haas. Die Ausstattung besteht aus einer App zur einfachen Anwendung im Pflegealltag, diversen Content-Paketen für unterschiedliche Nutzungsszenarien, der VR-Brille sowie Hygienemasken. Sie kann für 2000 Euro zuzüglich MwSt. gekauft werden. Miete ist ebenfalls möglich. Ein Paket mit einem Fokus auf Beruhigung und Entspannung kostet zum Beispiel monatlich 270 Euro. Nach Einschätzung von Andreas Haas gibt es derzeit weltweit fünf bis zehn seriöse Anbieter von VR-Inhalten, die für den Einsatz im Gesundheitsbereich geeignet. „Natürlich gibt es neben uns noch mehr Anbieter auf dem Markt. Aber nicht jeder hat ein seriöses und vor allem jahrelang validiertes Produkt. Ich habe es schon erlebt, dass VR-Flipper probeweise in Altenheimen verteilt wurden – das ist nicht nur unseriös sondern meines Erachtens auch gefährlich“, erzählt Haas. „Wir glauben, dass eine VR-Brille ein sinnvolles, komplementäres Therapiekonzept neben anderen sein sollte – jedoch niemals ein Ersatz für den Kontakt zu Menschen in der Pflege“.

„Wenn es mit dem Aufsetzen klappt, löst die VR-Brille einen richtigen Wow-Effekt aus.“

Michael Wissussek

Menschen, die sonst kaum mehr reden oder auf äußere Reize reagieren, werden plötzlich wieder lebhaft, wenn sie vertraute Umgebungen erkennen. Solche Gelegenheiten nehmen die Pflegekräfte dankbar wahr. Für kurze Momente können sie mit den Patienten über ihre Erinnerungen sprechen. „Eine nachhaltige beruhigende Wirkung kann ich persönlich nicht erkennen. Aber die virtuelle Realität ist wertvoll, weil sie einen Bezug zur früheren Lebenswelt der Menschen und der Natur herstellt und weil sie therapeutische Tiefenwirkung besitzt, wenn sie häufig emotionale Reaktionen hervorrufen kann“, erklärt Wissussek. Wissenschaftliche Nachweise für die Wirksamkeit eines VR-Einsatzes bei Demenzpatienten gibt es zurzeit nicht. Einzelne Studien zeigen jedoch eine positive Wirkung auf das Wohlbefinden. „Definitive Aussagen kann man hier nicht machen. Bislang liegen keine systematischen Vergleichsstudien vor, weil die Methoden der Einzelstudien sehr heterogen und zum Teil methodisch unzureichend sind“, betont der Freiburger Forscher Philipp Kellmeyer. Er sieht im Einsatz von VR auch ein ethisches Problem.

„Wenn Demenzkranke nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können, ist das ein gravierender Eingriff in ihre Autonomie.“

Philipp Kellmeyer

Denn eine Simulation ist letzten Endes eine Täuschung, eine Illusion. Eine solche Instrumentalisierung schränkt die Autonomie der Patientinnen und Patienten ein. Sollte VR, gibt Kellmeyer zu, aber tatsächlich die effektivste Methode sein, um Angst, Unruhe und Weglauftendenzen zu lindern, ergäben sich für Patienten einige Vorteile. „Man könnte Ihnen zum Beispiel die unerwünschten Nebenwirkungen vieler Psychopharmaka wie von Benzodiazepinen ersparen. Und das Pflegepersonal hätte wieder mehr Zeit für zuwendungsorientierte Arbeiten“.

Fotos: Andreas Haas

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