Mit großer Sorge wenden sich Selbsthilfe- und Verbraucherschutzorganisationen gegen die geplante Novellierung des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes (WTPG) in Baden-Württemberg. Der nun vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, ambulant betreute Pflege-Wohngemeinschaften vollständig und ersatzlos aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes zu streichen. Damit würden diese künftig keinerlei Regelungen und Aufsicht mehr unterliegen.
Von der Landesstrategie zur Abkehr von politischer Verantwortung
Bis vor kurzem galten Pflege-WGs als wichtiger Baustein der „Landesstrategie 2030 – Gemeinsam.Gestalten“ und Motor für neue innovative Wohn- und Pflegeformen in den Kommunen. Mit der geplanten Deregulierung verabschiedet sich das Land jedoch von seiner Verantwortung für eine qualitätsgesicherte Weiterentwicklung dieser Wohnform. Statt klare und zukunftsfähige Vorgaben zu machen, überlässt das Land die Gestaltung den Kräften des freien Marktes– ohne verbindliche Qualitätsstandards und auf Kosten des Schutzes der Bewohnerinnen und Bewohner.
Entbürokratisierung ja – aber nicht auf Kosten von Schutzrechten
Die unterzeichnenden Organisationen sehen durchaus Reformpotenzial in einer rechtlichen Neuausrichtung – etwa durch eine zielgerichtete Flexibilisierung ordnungsrechtlicher und baulicher Anforderungen. Diese Chancen dürfen jedoch nicht durch die völlige Abschaffung von Mindeststandards unterlaufen werden. Statt die Qualitätssicherung klug weiterzuentwickeln, entzieht der Gesetzentwurf Schutzrechte gerade dort, wo sie am nötigsten sind: bei Menschen mit Pflegebedarf, Menschen mit Demenz und Menschen mit Behinderungen. „Was es braucht, ist eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung mit verlässlichen Rahmenbedingungen – nicht den vollständigen Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung“, warnt Gabriele Beck von der LaBeWo Landesarbeitsgemeinschaft ambulant betreuter Wohngemeinschaften Baden-Württemberg e.V.
Forderungen der unterzeichnenden Organisationen
Pflege-WGs bieten Menschen mit Menschen mit Betreuungs- und Pflegebedarf ein familiäres und wohnortnahes Wohn- und Versorgungsangebot mit Mitsprache- und Mitgestaltungsrechten. Deswegen müssen Pflege-Wohngemeinschaften erhalten und weiterentwickelt werden. Dazu bedarf es verlässlicher gesetzlicher Rahmenbedingungen.
Die unterzeichnenden Organisationen fordern daher:
- Keine ersatzlose Streichung der Regelungen für Pflege-Wohngemeinschaften
- Beibehaltung einer Anzeigepflicht mit Konzeptprüfung
- Gesicherte Beteiligungsrechte für Bewohnerinnen und Bewohner sowie Angehörige
- Anlaufstellen für Beschwerden
- Unabhängige Kontrollstrukturen zur Qualitätssicherung und zum Schutz bei fehlender Mitwirkung
Sonderweg Baden-Württemberg – mit gefährlichen Folgen
Baden-Württemberg wäre das einzige Bundesland, das Pflege-WGs vollständig aus der Gesetzgebung herausnimmt. In allen anderen Ländern wurden gesetzliche Grundlagen zur Qualitätssicherung beibehalten, überarbeitet oder als Reaktion auf dokumentierte Missstände sogar verstärkt eingeführt. Dieser Sonderweg schwächt das Vertrauen in eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung der Pflege und lässt Betroffene sowie ihre Angehörigen ohne verlässliche Anlaufstellen zurück. Der neue Gesetzesentwurf – Teilhabe- und Pflegequalitätsgesetz (TPQG) – konzentriert sich nur noch stationäre Pflegeeinrichtungen. Für alle anderen, innovativen, gemeinschaftlichen Wohnformen, die Menschen mit Pflegebedarf versorgen, sieht sich das Land in keiner ordnungsrechtlichen Verantwortung mehr.
„Im Kern geht es um eine politische Grundsatzentscheidung: Will die Landesregierung gemeinschaftlich getragene Wohn- und Versorgungsformen aktiv fördern und durch staatliche Rahmensetzung qualitativ absichern – oder überlässt sie deren Ausgestaltung künftig dem freien Markt, zulasten von Mitbestimmung, Gemeinwohl und sozialem Zusammenhalt?“
Ronny Brosende, Vorsitzender des Landespflegerats