Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen bewegen sich täglich in einem Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung ihrer Bewohner und dem gesetzlichen Schutzauftrag. In diesem Artikel wird die Bedeutung der Autonomie im Pflegealltag beleuchtet, es werden rechtliche Grenzen aufgezeigt und praxisnahe Anregungen gegeben. Sie werden eingeladen selbst in die Rolle einer pflegebedürftigen Person zu gehen.

Stellen Sie sich daher folgendes Szenario vor: Sie leben allein in Ihrem Haus, Ihre Mobilität ist eingeschränkt. Immer wieder stürzen Sie und schließlich kommt es zu einer Oberschenkelhalsfraktur. Im Krankenhaus bespricht der behandelnde Arzt mit dem sozialen Dienst und Ihrer Tochter, dass es besser ist, wenn Sie nicht mehr allein zu Hause leben. Da Ihre Tochter 400 km entfernt wohnt und der ambulante Dienst nicht ausreicht, muss zu Ihrem eigenen Schutz ein Umzug in eine Pflegeeinrichtung erfolgen. 

Wie geht es Ihnen dabei? Wie steht es gerade mit Ihrer Selbstbestimmung?

Grundsätzlich gilt in Deutschland das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen, es ist ein zentrales Menschenrecht. 

Bleiben Sie noch ein wenig in der Rolle. Stellen Sie sich vor, Sie sind Anfang 70 und haben viele Jahre als Flugbegleiterin bei einer renommierten Fluggesellschaft gearbeitet. Sie haben eine Leidenschaft für elegante Kleidung und tragen besonders gerne hohe Schuhe. Als Sie entlassen werden können, bringt Ihre Tochter Sie direkt in eine Pflegeeinrichtung. Sie hat alles geregelt, Pflegeartikel, Kleidung und Schuhe, ausschließlich hohe Schuhe befinden sich bereits in Ihrem Zimmer.

Sie wurden in den gesamten Prozess nur wenig einbezogen. Wenn Sie Wünsche oder Bedenken äußerten, wurde Ihnen gesagt, dass alles nur zu Ihrem Besten sein.

Solange ein Mensch noch kognitiv in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen, muss sein Selbstbestimmungsrecht gewahrt bleiben. 

Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die betroffene Person nicht geschäftsfähig sein muss. Auch ein beschränkt Geschäftsfähiger – also ein betreuter Patient/Bewohner oder ein minderjähriger Patient –  kann einwilligungsfähig sein. Voraussetzung für die Einwilligungsfähigkeit und damit für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist, dass die betroffene Person in der Lage ist, Schwer und Tragweite der medizinischen, pflegerischen oder therapeutischen Maßnahme beurteilen und bewerten zu können. 

In der Einrichtung lernen Sie viele freundliche Mitarbeiter kennen und Sie beginnen, sich mit dem Gedanken, dort zu sein, etwas besser zu fühlen – schließlich möchte Ihre Tochter nur das Beste für Sie! Es freut Sie sehr, dass sie Ihre schöne Kleidung und Ihre Lieblingsschuhe eingepackt hat. Eine Pflegekraft kommt und möchte mit Ihnen ein strukturiertes Gespräch führen. Sie erklärt Ihnen, dass Sie sturzgefährdet sind und daher Ihre hohen Schuhe nicht tragen dürfen. Sie möchte Ihre Tochter anrufen, damit sie flache Schuhe, idealerweise mit Klettverschluss, für sie besorgt.

Wie fühlen Sie sich?

Pflegekräfte stehen vor der Herausforderung, die Selbstbestimmung ihrer Bewohner zu respektieren und gleichzeitig für deren Sicherheit zu sorgen. Dieses Spannungsfeld wird besonders deutlich, wenn Bewohner Entscheidungen treffen, die aus der Sicht der Pflegekräfte riskant sein könnten, wie beispielsweise das Tragen von hohen Schuhen bei einem vorhandenen erhöhtem Sturzrisiko (Stürze in der Vergangenheit), was zu weiteren Stürzen führen kann. Hier entsteht die Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen der Wahrung der Selbstbestimmung und dem Schutz der Bewohnerin zu finden.

Szenario 1: Die Pflegekraft nimmt Ihnen alle Schuhe weg.

Die Wegnahme aller Schuhe durch die Pflegekraft ist rechtlich problematisch. Bewohnerinnen in einer Pflegeeinrichtung haben wie oben dargestellt ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Selbstbestimmung, das sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ergibt. Dieses Recht beinhaltet, dass im vorliegenden Szenario die Bewohnerin grundsätzlich selbst darüber entscheiden darf, ob sie trotz eines erhöhten Sturzrisikos hohe Schuhe trägt und damit ein Risiko eingeht. Zwar haben Pflegekräfte eine Fürsorge- und Schutzpflicht nach § 11 SGB XI und sind gehalten, gesundheitliche Schäden möglichst zu vermeiden, jedoch bedeutet diese Pflicht nicht, dass sie gegen den Willen der Bewohnerin Zwang ausüben dürfen.

Die vollständige Wegnahme der Schuhe stellt vielmehr eine freiheitsbeschränkende Maßnahme dar, die in ihrer Wirkung mit der Wegnahme von Hilfsmitteln vergleichbar ist. 

Aus pflegeethischer Sicht ist festzuhalten, dass professionelle Pflege darauf ausgerichtet sein muss, die Autonomie der Bewohnerin zu erhalten. Angemessen wäre daher eine umfassende Information über die Risiken sowie das Aufzeigen von Alternativen, etwa stabileren, aber dennoch ansprechenden Schuhen. Sollte die Bewohnerin trotz entsprechender Information darauf bestehen hohe Schuhe tragen zu wollen und ist sie einwilligungsfähig, stellt die Wegnahme sämtlicher Schuhe einen unverhältnismäßigen Eingriff und damit einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht dar. Strafrechtlich könnte dieses Verhalten als Nötigung gemäß § 240 StGB bewertet werden. Zivilrechtlich könnte ein solches Vorgehen Schadensersatzansprüche begründen. 

Szenario 2: Sie erhalten eine Beratung zu Ihrem erhöhtem Sturzrisiko und entscheiden sich, weiterhin Ihre hohen Schuhe zu tragen. Es ist alles dokumentiert. Sie stürzen auf dem Weg in die Wohnküche und werden erneut operiert. Ihre Tochter strebt eine Klage an und die Einrichtung fordert die Kosten zurück. Die Begründung dafür ist, dass die Einrichtung sicherstellen hätte müssen, dass Sie, da Sie ein erhöhtes Sturzrisiko haben, geeignetes Schuhwerk tragen.

Es ist gefestigte Rechtsprechung, dass eine Pflegeeinrichtung nicht für jeden Sturz eines Bewohners haftet. Stürze lassen sich nicht immer verhindern, insbesondere dann nicht, wenn sie auf das eigenverantwortliche Handeln oder Wollen des Bewohners zurückzuführen sind. Solange der Bewohner noch in der Lage ist Schwere und Tragweite seiner Willenserklärung beurteilen und bewerten zu können, muss sein Selbstbestimmungsrecht gewahrt bleiben – auch wenn dies wie oben bereits dargestellt beispielsweise das Tragen hoher Schuhe ist.

Für die Praxis ist daher entscheidend, alle Risikoeinschätzungen, Beratungen und Gesprächsangebote sorgfältig zu dokumentieren und ein individuelles Risikomanagement durchzuführen. Bestehen Zweifel an der Urteilsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit des Bewohners, kann zudem die Bestellung eines Betreuers angezeigt sein. Eine offene Kommunikation mit den Angehörigen, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung der Selbstbestimmung und die Grenzen pflegerischer Aufsicht, trägt zu einem transparenten Vorgehen bei. 

Eine Haftung der Einrichtung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn sie gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen hat – etwa durch mangelhafte Information, fehlende Dokumentation oder unzumutbare Zustände (z. B. unbeleuchtete, gefährlich zugestellte Wege). Wurde jedoch nachweislich über das Sturzrisiko beim Tragen hoher Schuhe informiert und ist die Bewohnerin einwilligungsfähig und hat freiwillig beschlossen ihre hohen Schuhe zu tragen, entfällt eine Haftung der Einrichtung.


Die Krankenkasse kann die Kostenübernahme nur verweigern bzw. von der Einrichtung Ersatz fordern, wenn der Sturz auf ein nachweisbares Fehlverhalten oder eine Pflichtverletzung durch das Pflegepersonal zurückzuführen ist. Hier spricht die Dokumentation dafür, dass die Einrichtung ihrer Verpflichtung nachgekommen ist und das erhöhte Risiko ausdrücklich besprochen hat. Ein Rückgriff der Krankenkasse ist somit nicht gegeben. 

Es ist entscheidend die Selbstbestimmung der Bewohner aktiv zu fördern. Eine ganzheitliche Pflege, die die Autonomie der Bewohner respektiert und gleichzeitig präventive Maßnahmen zur Vermeidung eines Sturzes ergreift, trägt wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität bei. In diesem Fall bedeutet das Tragen der Schuhe Lebensqualität. 

In der Pflege spielt Sturzprophylaxe eine entscheidende Rolle. Stürze können gravierende Folgen haben und die Selbstständigkeit von pflegebedürftigen Menschen gefährden. Deshalb ist es wichtig, präventive Strategien zu entwickeln, die auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner und die Gegebenheiten der Einrichtung zugeschnitten sind. Durch eine ganzheitliche Betrachtung der Situation können effektive Maßnahmen zur Sturzprävention umgesetzt werden.

Fazit: Jeder Mensch ein Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und die Selbstbestimmung steht an oberster Stelle!

Mit anderen Worten gesagt: Jeder hat das Recht auf einen Sturz!

Weiterführende Informationen:

Großkopf, Volker & Stöcker, Margarete: Rechtsfälle in der Pflegepraxis, 2025 Vincentz
Großkopf, Volker & Klein, Hubert: Recht in Medizin und Pflege, 2025 G&S Verlag
Großkopf, Volker: Vorschriften und Gesetz für das Gesundheitswesen, 2025 G&S Verlag
Großkopf, Volker: Kompaktwissen Haftpflichtrecht, Die Vertragshaftung in der Pflege, 2019 G&S Verlag
DNQP, Expertenstandard Sturzprophylaxe 2022

https://www.rechtsdepesche.de/jeder-hat-das-recht-auf-einen-sturz/


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