Der Praxisalltag in Deutschland wird zunehmend zum Belastungstest: Eine aktuelle YouGov-Studie im Auftrag des Healthtech-Unternehmens Doctolib zeigt, dass drei Viertel der Ärzt:innen, Pflegekräfte und medizinischen Fachangestellten in den vergangenen zwölf Monaten mit Konfliktsituationen oder Gewalt konfrontiert waren. Besonders alarmierend: Junge Fachkräfte zwischen 25 und 34 Jahren zweifeln nach Gewalterfahrungen doppelt so häufig an ihrer Berufswahl wie Kolleg:innen über 55 Jahre (32 vs. 16 Prozent).
Angesichts dieser Entwicklung plant die Bundesregierung für Herbst 2025 einen neuen Gesetzesentwurf, um Beschäftigte im Gesundheitswesen besser zu schützen. Die politische Initiative reagiert auf eine gesellschaftliche Realität, in der Aggression und Gewalt gegen medizinisches Personal kein Randphänomen mehr sind.
Verbale Aggressionen dominieren den Praxisalltag
Beleidigungen, Bedrohungen, körperliche Übergriffe: 66 Prozent der Befragten berichten von verbaler Gewalt, 38 Prozent von Bedrohungen. Jede vierte Fachkraft war im vergangenen Jahr körperlicher Gewalt ausgesetzt, ebenso viele berichten von Diebstählen in Praxen oder Kliniken.
Besonders betroffen sind männliche Beschäftigte: Fast ein Drittel (32 Prozent) wurde körperlich angegriffen.
Die psychischen Folgen sind gravierend: Zwei Drittel der Befragten empfinden Wut und Frustration über mangelnden Respekt. Männer zeigen häufiger Angst und Unsicherheit am Arbeitsplatz und erwägen überdurchschnittlich oft einen Jobwechsel.
„Wir sprechen hier nicht über Einzelfälle, sondern über ein systemisches Problem, das die Zukunft unserer Gesundheitsversorgung massiv belastet. Viele Eskalationen ließen sich jedoch durch bessere Organisation vermeiden.“
Dietmar Karweina, Praxismanagement-Experte
Ursachen: Wartezeiten, Halbwissen und Überforderung
Die Studie zeigt: Gewalt entsteht selten aufgrund der medizinischen Behandlung selbst. Lange Wartezeiten (42 Prozent), Terminprobleme (47 Prozent) und Halbwissen von Patient:innen (46 Prozent) sind die häufigsten Auslöser. In Kliniken kommen Überforderung und Angst vor der eigenen Erkrankung (45 Prozent) hinzu.
Hier können digitale Lösungen helfen: Fast drei Viertel der Befragten (74 Prozent) sehen in Technologien wie Online-Terminbuchungen, automatischen Terminerinnerungen oder digitaler Patientenkommunikation einen Weg, Stress und Eskalationen zu reduzieren. Besonders die jüngere Generation setzt auf solche Tools.
„Wo organisatorische Abläufe funktionieren, sinkt das Konfliktpotenzial deutlich.“
Susanne Dubuisson, Product Director bei Doctolib Deutschland
Gesetz, Sicherheit und Schulung: Ein Dreiklang gegen Gewalt
Zwei Drittel der Befragten begrüßen die geplante Gesetzesverschärfung. Dennoch wünschen sich viele zusätzliche Maßnahmen:
- Sicherheitspersonal in Einrichtungen (47 Prozent)
- Aufklärungskampagnen über respektvolles Verhalten (46 Prozent)
- Psychologische Betreuung nach Vorfällen (46 Prozent)
Trotz Personalmangel zeigen die Fachkräfte hohe Eigeninitiative: Über die Hälfte hat bereits Schulungen zu Deeskalation und Gewaltprävention absolviert, weitere 28 Prozent haben großes Interesse daran.
Wie wirksam diese Trainings sein können, bestätigt Andrea Kammerl, leitende Medizinische Fachangestellte aus Mudersbach:
„Wenn man den Patient:innen das Gefühl gibt, verstanden zu werden, entschärft das viele Situationen. Ein bisschen Empathie kann viel bewirken.“
Auch Patient:innen können beitragen
Gewaltprävention ist keine Einbahnstraße. Hypnose-Coachin Sarah-Lisa Besemer empfiehlt einfache Techniken zur Selbstregulation:
- Tief atmen, doppelt so lange ausatmen – das beruhigt das Nervensystem.
- Den Blick weiten, um Distanz zu schaffen und Emotionen zu regulieren.
- Das eigene Bedürfnis benennen, etwa: „Ich bin unsicher und brauche Klarheit.“
So können auch Patient:innen dazu beitragen, dass Arztbesuche nicht zum Konflikt, sondern zu einem respektvollen Miteinander werden.
Fazit
Die Ergebnisse der YouGov-Studie verdeutlichen: Gewalt im Gesundheitswesen ist ein strukturelles Problem – und sie trifft die Jüngeren besonders hart. Gesetzliche Maßnahmen allein reichen nicht aus.
Erforderlich ist ein ganzheitlicher Ansatz, der Organisation, Kommunikation, Schulung und Digitalisierungmiteinander verbindet. Nur so kann die Gesundheitsversorgung langfristig sicher und attraktiv bleiben – für alle, die sie leisten, und für alle, die sie brauchen.
Informationen zur Studie
Die Ergebnisse basieren auf einer Online-Befragung von YouGov im Auftrag von Doctolib. Zwischen dem 27. August und 4. September 2025 nahmen 1.008 Gesundheitsfachkräfte teil, die aktuell oder in den letzten zwölf Monaten in einer Praxis oder Klinik tätig waren.