Die häusliche Pflege ist am Limit. Der Mangel an Fachkräften und hohe Kosten führen dazu, dass immer mehr alte oder kranke Menschen von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt werden. Jeder dritte pflegende Angehörige ist überfordert und kann die Pflegesituation kaum oder gar nicht mehr bewältigen. Das sind die zentralen Ergebnisse der bislang größten Studie zur Situation in der häuslichen Pflege, die die Hochschule Osnabrück im Auftrag des Sozialverbands VdK 2022 durchgeführt hat. Lösungen könnten digitale Tools schaffen, die die pflegenden Angehörigen bei der Organisation und Informationsbeschaffung unterstützen. 

Die digitale Pflege steckt noch in den Kinderschuhen

In Deutschland steht die digitale Pflege noch ganz am Anfang. In der Vergangenheit gab es einige Versuche von Start-ups, digitale Lösungen für pflegende Angehörige zu entwickeln, die aber alle gescheitert sind. Das lag vorrangig an drei Gründen: Erstens war vor circa 15 Jahren die Digitalisierung noch nicht so weit vorangeschritten, zweitens ist es in der informellen Pflege schwierig, die Zielgruppe zu dem Zeitpunkt zu erreichen, wenn der Pflegebedarf eintritt. Denn klar ist: Jeder kann von heute auf morgen zum Pflegefall werden. Und drittens gestaltet sich bis heute die Monetisierung problematisch, weil die Bereitschaft der Menschen, für digitale Anwendungen in der Pflege zu zahlen, nach wie vor niedrig ist. 

Digitale Tools helfen, den Alltag zu meistern

Seit etwa fünf Jahren stellt sich die Situation allerdings anders dar. Insbesondere durch die Corona-Pandemie sind die Menschen digitaler und damit offener dafür geworden, digitale Tools zu nutzen. Das gilt vor allem für die Zielgruppe 40 bis 60 Jahre, die für das Thema Pflege besonders sensibilisiert ist. Eine Herausforderung besteht aber weiterhin: Da das Thema Pflege so komplex ist, gibt es in den digitalen Anwendungen − anders als in anderen medizinischen Bereichen − nicht die EINE digitale Funktion, die die Lösung für pflegende Angehörige ist. Deshalb ist es wichtig, Plattformen wie Nui Care zu schaffen, die sowohl die organisatorischen Belange der Pflegenden bedienen als auch bei der konkreten Umsetzung der Pflege im Alltag helfen und dazu entsprechendes Wissen vermitteln.  Auch in Sachen Usability und Look & Feel müssen Apps für pflegende Angehörige der Zielgruppe Rechnung tragen und einfach und intuitiv sein.  

Solche Plattformen sollten vornehmlich auf die größten Herausforderungen für pflegende Angehörige eingehen und Unterstützung anbieten:

  1. Informationsbeschaffung – viele Angehörige von Pflegebedürftigen haben sich vorher noch nicht mit dem Thema häusliche Pflege beschäftigt. Sie haben Fragen zu vielen unterschiedlichen Themen: von der Kostenübernahme über den Umgang mit dem Kranken bis hin zu Pflegemitteln. Eine App kann sie durch die Anforderungen dieser speziellen Situation leiten.
  2. Organisation des Alltags in einer Sorgegemeinschaft – zum Beispiel in Form eines gemeinsamen Kalenders und einer gemeinsamen To-do-Liste
  3. Informationen über Entlastungsangebote – welche gibt es? Wo finde ich sie? Welche werden von der Kasse bezahlt? Im Idealfall sollten diese Angebote über die jeweilige Plattform buchbar sein. 
  4. Digitale Hilfe für alleinlebende Pflegebedürftige – hier werden die Themen Smart Home und Sensorik in den kommenden Jahren eine immer größer werdende Rolle spielen. Ziel ist es, durch solche digitalen Anwendungen pflegebedürftigen Menschen die Möglichkeit zu bieten, so lange wie möglich allein zu Hause leben zu können. 

Selfcare ist für pflegende Angehörige enorm wichtig

Ein Thema, das für pflegende Angehörige sehr wichtig ist, aber von ihnen häufig beiseitegeschoben wird, ist Selfcare. Pflegende Angehörige verdrängen oftmals die enorme Belastung und letztlich werden sie selbst körperlich krank oder erleiden einen Burn-out. Meist stellen sie ihr eigenes Wohl zurück. Der VdK-Studie zufolge haben 63 Prozent täglich körperliche Beschwerden, 59 Prozent geben an, wegen der Pflege die eigene Gesundheit zu vernachlässigen.

Wir haben festgestellt, dass man diese Personen eher erreicht, wenn man an sie appelliert, auf sich zu achten, um für die zu pflegenden Menschen gesund und fit zu sein. Das ist ein wichtiges Thema, das wir noch in diesem Jahr in unsere Nui App integrieren wollen. Wir werden ihnen Entlastungsangebote wie die von den Krankenkassen finanzierte Kurzzeitpflege vorschlagen. Außerdem wollen wir sie dabei unterstützen, Momente zu schaffen, in denen sie sich entspannen können. Uns ist bewusst, dass das kein leichtes Thema ist, weil für pflegende Angehörige die zu Pflegende oberste Priorität haben. Wir werden aber dazu mehr Themen in unseren Ratgeber integrieren, die wichtige Impulse für das eigene Wohlbefinden geben. 

Das Zusammenspiel von digital und analog

Der große Vorteil digitaler Tools ist, dass sie skalierbar sind. In der Pflege gibt es zu wenig Fachkräfte, die auch Beratung anbieten; hier können digitale Anwendungen mit ihren Informationsangeboten einspringen. Das bedeutet aber nicht, dass die Digitalisierung die einzig wahre Lösung ist. Es geht nicht darum, alle persönlichen Beratungen und menschlichen Interaktionen in digitale umzuwandeln, sondern um den Mix von digital und analog. Es geht darum, zu schauen, in welchem Fall man eine menschliche, einfühlsame Beratung und Unterstützung braucht und wo die digitale Lösung eine wichtige Ergänzung sein kann, zum Beispiel beim standardisierten Prozess im Bereich Pflegeleistungen. So etwas können digitale Tools, wie Chatbots, hervorragend leisten. Das muss allerdings von allen Marktteilnehmern erkannt werden.

Mutiger sein, mehr Innovation zulassen

Das deutsche Gesundheitssystem stellt die größte Herausforderung bei der Durchsetzung von digitalen Lösungen dar. Die Politik ist eindeutig ein Hemmschuh, weil sie oft zu zögerlich reagiert, um innovative digitale Lösungen wirklich voranzutreiben. Hier in Deutschland sind die regulatorischen Hürden bei der Einführung eines digitalen Produkts so hoch, dass es kaum eine Chance hat, auf den hiesigen Markt zu kommen. 

Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland bei der Lancierung von neuen digitalen Anwendungen mutiger voranschreiten, denn nur so können echte Innovationen entstehen. In den kommenden zwölf Monaten wird es ohne Gesetzesänderung nur sehr wenige digitale Pflegeanwendungen geben, die es auf den Markt schaffen. 

Dem hybriden Ansatz gehört die Zukunft

Auf der einen Seite wächst die Zahl der Pflegebedürftigen und auf der anderen Seite gibt es immer weniger Pflegefachkräfte und pflegende Angehörige. Das ist in Zukunft eine riesige Herausforderung, die sich nur mithilfe von digitalen Tools bewältigen lässt. Dieser hybride Ansatz ist für uns die einzig realistische Lösung in der Pflege. Tatsache ist: Die informelle Pflege wird in Zukunft noch mehr Unterstützung brauchen, sonst müssen immer mehr pflegebedürftige Menschen in Pflege- und Altenheimen untergebracht werden − und so viele Plätze gibt es in Deutschland nicht, geschweige denn die dazu benötigten Pflegefachkräfte. 

Wenn wir die zukunftsweisenden technologischen Entwicklungen betrachten, gibt es zwei Themen, die auch unsere Branche betreffen: zum einen Sensorik, also die intelligente Steuerung der häuslichen Pflege, für ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden. Hier bedarf es standardisierter Lösungen, die in ihrer Anwendung einfach zu bedienen und auch leicht implementierbar sind. Zum anderen: künstliche Intelligenz. Die KI kann viel individueller auf die Situation der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehörigen eingehen. Zukünftig wird sie über die von ihr gesammelten Erfahrungswerte Szenarien schneller analysieren und antizipieren können. Hier bedarf es zuverlässiger Daten. 

Im ersten Schritt gilt es aber zunächst im Hier und Jetzt, die Entwicklung und Etablierung unterstützender digitaler Anwendungen in der informellen Pflege zu fördern. Denn wer die Pflege für die Zukunft sichern will, muss den Fokus darauf richten, wo Pflege heute stattfindet und wo die Menschen auch in Zukunft gepflegt werden wollen: zu Hause, in der Familie. Und das wird zukünftig ohne digitale Unterstützung nicht funktionieren. 

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