Wir leben in einer Gesellschaft des langen Lebens. Nach aktuellen Berechnungen ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass von den jetzigen Geburtsjahrgängen jeder Dritte 100 Jahre alt wird. Mit der Alterung der Gesellschaft wächst aber auch die Zahl der Menschen, die im Alter auf Hilfe, Unterstützung und Pflege angewiesen sind. Im Jahre 2030 werden es wohl 5 Millionen Menschen in Deutschland sein, die dauerhaft Hilfe und Unterstützung brauchen. Damit wächst auch der Bedarf an helfenden Händen, sprich Pflegekräften. Der zusätzliche Bedarf in den kommenden Jahren wird zum Teil mit einigen Hunderttausend berechnet (z.B. durch die Bertelsmann Stiftung). Eine aktuelle Untersuchung des Pflegedarfs in Bayern, die erst vor wenigen Tagen vorgelegt wurde, spricht allein im Freistaat von einem zusätzlichen Bedarf von 62.000 Vollzeit-Pflegekräften bis zum Jahr 2050.

Nicht nur Experten gehen daher davon aus, dass es trotz der enormen Anstrengungen auf allen Ebenen allein schon aufgrund der demografischen Entwicklungen nicht möglich sein wird, so viele Menschen für eine Aufgabe in der Pflege zu gewinnen. Man weiß, dass es schon schwierig genug sein wird, all die Pflegekräfte, die in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen, zu ersetzen. Und die Rekrutierung von Pflegekräften aus dem Ausland ist auch endlich und ethisch zumindest fragwürdig. 

Seit gut und gerne 15 Jahren wird daher – mit großer öffentlicher Unterstützung und Förderung auf Bundes- und Landesebene – daran geforscht, inwieweit Technik, digitale Hilfen oder sogar Robotik uns helfen kann, diese Pflegeaufgaben zu schultern. Neben dem Einsatz von Technik in den Heimen, die die Tätigkeiten für die Pflegekräfte erleichtern können, soll vor allem mithilfe von technischen Assistenzsystemen erreicht werden, dass Pflegebedürftigen in ihrer eigenen Häuslichkeit verbleiben können. Smart home, eHome und AAL – ambient assisted living sind hier die Schlagwörter. Gemeint ist damit zum einen ein intelligentes Zuhause und ebenso intelligenter Haustechnik sowie Methoden und Konzepte, (digitale) Systeme mit Produkten und Dienstleistungen zu verbinden, welche das alltägliche Leben älterer Menschen (und Menschen mit Behinderung) wenn möglich unaufdringlich unterstützen. Beste Beispiele dazu sind die Systeme, die den Wohnraum überwachen, beispielsweise einen Wasseraustritt oder eine Rauchentwicklung registrieren und eine Warnmeldung abgeben oder bemerken, dass eine Person in der Wohnung gestürzt ist und dann automatisch den Pflegedienst oder den Rettungswagen verständigen. Und gleichzeitig erhält ein Angehöriger, der vielleicht weiter weg wohnt, eine Information auf sein Handy und kann sich kümmern. Technisch ist das schon jetzt alles möglich. Und es gibt auch die Such-App für Menschen, die Probleme mit der Orientierung haben, die geortet werden können, wenn sie nicht mehr den Weg nach Hause finden oder einen zuvor definierten Raum verlassen. Und auch die körpernahe Erfassung von Vitalwerten, die dann online direkt zum Arzt weitergeleitet werden können, ist heute zumindest technisch kein größeres Problem mehr. Selbst die App, die mit der ganz normalen Handykamera verlässlich ein Sturzrisiko ermitteln kann, ist heute schon Realität. Weitere Beispiele sind Legion, und selbst die komplizierten Fragen des Datenschutzes sind (weitgehend) geklärt.

In den vergangenen Jahren wurde in der Tat sehr viel geforscht, erfunden und auf dem Markt gebracht, aber eine wirklich spürbare Entlastung der Pflegebranche und des Gesundheitswesens hat sich dadurch noch nicht wahrnehmbar eingestellt. Denn es gibt mittlerweile so viele Produkte, dass man den Überblick verloren hat. Auf gemeinsame Standards konnten sich die Entwickler – ähnlich wie bei den Ladegeräten für Smartphones – bisher nicht einigen. Und so gehen Forschung und Entwicklung vollkommen unabgestimmt in ihrer Zielsetzung munter weiter, mit millionenschwerer öffentlicher Förderung. Und die Finanzierungsfragen zur flächendeckenden Ertüchtigung der digitalen Infrastruktur im Lande sind noch lange nicht befriedigend gelöst. 

Das ist sehr schade, denn wir brauchen natürlich lebensdienliche Technik, damit die Pflegenden auch künftig für den Menschen wirken können und Zeit für ihn haben und ihm Zuwendung schenken können. Denn Pflege als Beziehungsarbeit von Mensch zu Mensch kann nicht durch Technik ersetzt werden. 

Darauf hat übrigens schon der Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning (1890 – 1991), bereits vor fast 60 Jahren in seiner Schrift über das Alter hingewiesen, nämlich dass 

„die wachsende Zahl der pflegebedürftigen Menschen […] eine entsprechend wachsende Zahl von Kräften, die in pflegerischen Berufen wirken [erfordert]. In dem, was diesem beruflichen Wirken eigen ist und seinen Kerngehalt ausmacht, gibt es keinen Ersatz des menschlichen Faktors durch die Technik, denn hier geht es ja gerade darum, dass der Mensch dem Mitmenschen, dem verlassenen, müden, traurigen, entmutigten, Rat und Hilfe suchenden Mitmenschen seine Person und seine Zeit schenkt. Unterhalten kann ihn auch das Radio, aber ihm das Bewusstsein geben, dass er nicht nur immer noch Glied der menschlichen Gesellschaft ist, sondern auch als solches gewertet und behandelt wird, das kann nur der andere Mensch.“

Intelligente Technik kann aber heute den Pflegenden den Rücken für diese Beziehungsarbeit freihalten und sie von Zeitdieben befreien: Zum Beispiel durch automatisierte Dokumentation, durch Mobilisationshilfen, durch intelligente Notrufsysteme, durch Ferndiagnostik und die Vernetzung verschiedener Akteure, die gemeinsam Sorgearbeit leisten. So wird insbesondere in der ambulanten Pflege zuhause die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen gesichert bzw. erst möglich gemacht.

Wie geht es weiter? Im Internet kann man ungezählte Videos sehen, von zum Teil schon menschenähnlichen, humanoiden Gerätschaften, die mit Pflegebedürftigen kommunizieren und sie unterhalten, sie transportieren, waschen (in Seniorenwaschmaschinen) und viele ganz alltägliche Aufgaben übernehmen. Und Pflegende können in futuristische Exoskelette schlüpfen, die auf Knopfdruck die Körperkräfte vervielfachen oder elegant kompensieren. Schöne neue Welt!?  Ob es diese Technik aber wirklich gibt, kann nicht abschließend beantwortet werden. Denn diese Filme kursieren im Netz, aber kaufen kann man die Produkte in der Regel (noch) nicht.

Die Diagnostik ist hingegen in den vergangenen Jahren immer umfassender und genauer geworden und hat neue Bereiche erschlossen: Bluttests auf Alzheimer, bildgebende Verfahren in Sachen Demenz und differenzierte Gen-Analysen, die uns Aufschluss über unser Innerstes geben können. Und künstliche Organe aus dem 3 D-Drucker ersetzten schon bald die eigenen bei Versagen, bei Verschleiß oder übermäßigem Gebrauch?   

Ist das ein Fluch oder Segen? Wie gehen wir damit um? Was heißt das für uns als Individuen und für die Gesellschaft? Droht uns das wenige Leben, der immer wiederkehrende Jungbrunnen oder einfach nur die alterslose Gesellschaft? Forever young? Wird damit ein zentraler Traum der Menschheit (endlich) wahr? Wir wissen es (noch) nicht, wir wissen aber, dass es Forschungsinstitute, zum Beispiel – wie könnte es anders sein – in Kalifornien gibt, die seit Jahren exakt an diesen Fragen mit Milliardenbudgets forschen! 

Neben Begeisterung und Hoffnung angesichts neuer, spannender Perspektiven durch technischen Fortschritt machen sich auch Angst und Bedenken breit. Reimer Gronemeyer, der große (alters)weise Gießener Gelehrte hat in seinem Buch „Alt werden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann“ (2014) dazu formuliert:

„Ein Worldstream wird die Alten irgendwann unterhalten und kontrollieren, das heißt rundum managen – ob alle Werte in Ordnung sind, ob sich das Verhalten im grünen Bereich bewegt, ob die präventiven Medikamente genommen werden, ob Bewegungseinheiten absolviert werden, ob die Ernährung richtig abgestimmt ist, ob Untersuchungstermine eingehalten werden (man darf sich eine virtuelle TÜV-Plakette für Alte vorstellen). Sanktionen lassen sich leicht ausmalen: Da klopft nicht unbedingt der Digital-Kommissar an die Tür, aber man kann sich eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge für jene vorstellen, die nicht zu Vorsorgeuntersuchungen gehen und sich nicht checken lassen. SMS und E-Mails, in denen zu gesundheitsbewusstem Verhalten ermahnt wird, könnte die Vorstufe sein: Mit Ihrem BMI, dem Body-Mass-Index, stimmt etwas nicht! […] Das ganze wird dann natürlich auch noch abgeglichen mit meinem genetischen Code, der im Worldstream mitfließt. Da werde ich kontinuierlich darüber informiert, welche Risiken wann auf mich warten, welcher Krebs mich wahrscheinlich dahinraffen wird oder ob ich bald einen Schlaganfall zu gewärtigen habe. […] Desertieren aus der digitalen Welt: Das dürfte schwerer und schwerer werden. Nicht nur für die Alten. Die Macher von Big Data, von Timeline oder Worldstream lachen über die Versuche, sich aus dem Netz zu befreien.“

Wir werden uns einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion und Auseinandersetzungen über diese (existentiellen) Fragen nicht entziehen können. Wegducken wird nicht funktionieren. Wir werden Position beziehen müssen: Wollen wir alles, was technisch möglich ist oder ziehen wir – wo auch immer – „rote Linien“. Geht das überhaupt? Oder müssen wir dem technischen Fortschritt nachhecheln, weil wir gar keine andere Wahl haben? Die Fragen sind formuliert und in der Welt, die Antworten sind aber noch lange nicht gegeben. Dem ist bis auf weiteres nichts hinzuzufügen!


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