Der Pädagoge Jörg Rövekamp-Wattendorf von der katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen erläutert, warum es wichtig ist, über psychische Gesundheit aufzuklären.

Herr Professor Rövekamp, Sie haben ein Buch über psychosoziale Belastungen in helfenden Berufen geschrieben. Warum gerade darüber?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Nach über 10 Jahren in der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung und 5 Jahren an der Hochschule für Soziale Arbeit und Heil- und Inklusionspädagogik stelle ich immer wieder fest, dass der Umgang mit beruflichen Belastungen eine besondere Herausforderung darstellt. Das ist nicht nur in der Pflege so. Das ist quasi eine Art Schattenarbeit.

Den Begriff Schattenarbeit hat ursprünglich der Philosoph Ivan Illich geprägt. Damit ist der Balanceakt gemeint, sich einerseits um die Bedürfnisse der Adressaten zu kümmern und andererseits damit klar kommen zu müssen, dass dieser Teil der Arbeit gewissermaßen on top geschieht und trotzdem unsichtbar bleibt. 

Wenn zum Beispiel jemand eine Pflegekraft einen Tag lang begleitet, wird man bestimmte Tätigkeiten der Pflegenden beobachten und aufzählen können, die direkt sichtbar sind, aber wenn die Pflegekraft Gefühlen wie Angst, Trauer, Scham oder Ekel begegnet und managen muss, wird das häufig nicht gesehen. 

Es geht also darum, sich seiner Gefühle bewusst zu werden?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Genau. 

Diese Gefühlsarbeit muss man aber zweiseitig sehen. Einmal ist es die Schattenarbeit mit den Gefühlen der Pflegenden selbst. Es braucht ein Verständnis und es braucht Techniken, wie wir mit den eigenen Gefühlen professionell umgehen.

Auf der anderen Seite soll ich als Pflegender auch immer auf die Emotionen der zu versorgenden Menschen professionell eingehen. Richtig kompliziert wird es dann, wenn die beiden Seiten nicht zusammenpassen. Dann kommt es zu einem besonderen Stress, wenn der Umgang mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen und der Umgang mit den Emotionen und Bedürfnissen der Pflegebedürftigen widersprüchlich sind. Vielleicht ist dieser Stress sogar etwas, was viele Pflegende gar nicht wahrnehmen, also das permanente Balancieren zwischen den Gefühlen. Dieser Punkt interessiert mich sehr, weil der Umgang mit dieser Dissonanz von einerseits und andererseits in der Pflege ständig geleistet werden muss, damit man überhaupt pflegerische Maßnahmen gut durchführen kann. 

Im Vergleich zu anderen sozialen Berufen: Was belastet Pflegekräfte in Pflege/Altenheimen besonders?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Es gibt natürlich eine Reihe von Herausforderungen, aber sicherlich ist es auch das Dilemma, dass wir zum einen möglichst wirtschaftlich arbeiten müssen und andererseits bedürfnisorientiert pflegen wollen und müssen. Das ist für Pflegende eine Zwickmühle. Beides gleichzeitig geht meines Erachtens aktuell nicht. Wir kommen früher oder später zu der Erkenntnis, ich kann nicht so arbeiten, wie ich es gelernt habe und wie es meiner Haltung entspricht, weil die Rahmenbedingungen es nicht ermöglichen. 

Da tritt das Dilemma zutage, zum einen sich fachlich eingestehen zu müssen „ich habe das doch mal ganz anders gelernt, als wie ich das hier mache“ oder ethisch zu erkennen, „das kann ich eigentlich nicht verantworten, wenn ich mir jetzt nicht die Zeit für eine bestimmte Bewohnerin nehme“. 

Doch auf der anderen Seite muss ich immer die Zeit im Auge behalten, auch Kolleginnen und Kollegen und andere Bewohnerinnen brauchen meine Unterstützung. Diese Ambivalenz führt dann irgendwann vielleicht in ein sogenanntes Coolout Phänomen.

Wie kann man den Begriff am besten übersetzen?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: 

Coolout ist ein Prozess der moralischen Abstumpfung von Pflegekräften, man könnte sagen, es ist ein Erkalten ihrer fachlichen und ethischen Ideale, wenn sie diese Unvereinbarkeit zu den Effizienzanforderungen in ihrem Beruf erleben. 

Deutlich wird: Dem krankmachenden Stress wird mit dem Versuch des pragmatischen Herabsenkens der eigenen Ansprüche begegnet. 

Pragmatisch sein ist doch gar nicht so schlecht?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Das hilft erst einmal ein Stück, aber am Ende ist es dennoch dysfunktional. Eine solche Einstellung wirkt auf Stationen ansteckend im Sinne des Beobachtungslernens. Wir sehen, wie unsere Teamkollegen handeln und machen es dann genauso. Mit der Equity Theorie kann man das gut erklären. Nach dieser Theorie sind auch Pflegende nur so lange bereit, in etwas hinein zu investieren, zum Beispiel in wohlwollende Arbeitsbeziehungen, wie sie glauben, dass ihr Arbeitsengagement dem der Kolleginnen und Kollegen entspricht. Ansonsten entsteht irgendwann Unzufriedenheit. Wir sagen dann: „Warum soll ich eigentlich mehr leisten als andere?“ Und das führt dann zu Reaktionen, die nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner nachteilig sind, sondern auch für die Pflegekräfte selbst.

Warum?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Weil man abstumpft. Die Folgen des Erkaltens finden sich auf der sozialen, psychischen und somatischen Ebene. Auszukühlen ist keine wirkliche Alternative, zum Beispiel weil wir dann ja nicht wirklich die Bedingungen ändern, unter denen wir leiden und vielleicht auch, weil wir dann weniger gern arbeiten gehen. Eine gute Bewohnerversorgung, das zeigt sich in Untersuchungen, verschafft mehr Zufriedenheit in der eigenen Arbeit.

Was sind die wichtigsten Hebel, um die psychische Gesundheit der Mitarbeiter zu schützen und zu fördern?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Es sind mehrere Hebel, mit denen wir ansetzen müssen. Ein gutes Erklärungsmodell ist das Salutogenese Modell des Soziologen Aaron Antonovsky. Danach befinden wir uns ständig in einem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit. Nach Antonovsky braucht es, um Gesundheit zu fördern und Stress zu bewältigen, zwei Faktoren. Auf der individuellen Ebene brauche es einen Kohärenzsinn. Pflegende müssen erstens verstehen können, was sie belastet. Sie müssen zweitens daran glauben, dass sie diese Jobbelastung bewältigen können. Und drittens sollten sie das Gefühl haben, dass sie den Arbeitsbedingungen nicht total ausgeliefert sind. Mit diesen Grundeinstellungen können die Pflegenden etwas für sich tun. Als zweiten Punkt braucht man Widerstandsquellen, also Ressourcen, etwa auf der sozialen Ebenen durch ein gutes Teamklima, um sich Unterstützung zu holen und um mit Belastungen umgehen zu können. Deshalb brauchen die Pflegenden Menschen an verschiedenen Hebeln, die ihre Verantwortung für die Pflegekräfte erkennen. Ich denke dabei an Mitarbeitende selbst, an die Leitung der Einrichtungen, an staatliche Akteure, an Medien, an Dienste und Beratungsstellen.  

Aber Tipps wie „Finden Sie Entspannung mit Yoga und Muskelrelaxation und bewegen Sie sich regelmäßig“ legen die Gesundheitsfrage wieder nur in die Hände der Helferinnen und Helfer.

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Stimmt. Es sind trotzdem wichtige Maßnahmen. Aber natürlich reichen solche Eigeninitiativen nicht aus. Es geht auch um die Gesundheit meiner Kolleginnen und Kollegen. Oder um den Umgang mit strukturellen Bedingungen, unter denen wir jeden Tag arbeiten. Oder um die Frage, wie man ein öffentliches Klima schafft, das ein echtes Verständnis für die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften generiert. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass mehr als die Hälfte der befragten Einrichtungen zwar bereits Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, wie etwa Ernährungsberatung, Raucherentwöhnung usw. anbieten. Die Leitungskräfte in dieser Studie wussten, dass Stress und Belastungen bei der Arbeit zu beruflichen Deformationen führen können. Aber ebenso wissen wir auch, dass ca. ein Drittel der Pflegenden nicht sagen können, ob sie in zwei Jahren noch in ihrem Beruf arbeiten werden. Auch Supervision und Seminare zur Verbesserung von Teamstrukturen sind alle ganz wichtig, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Supervision ändert ja auch nichts an der Struktur.

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Genau. 

Supervision oder kollegiale Beratung und Coaching sind wirksame unterstützende Maßnahmen. Aber manche Probleme lösen sich nicht, wenn die Arbeitsbedingungen gleichbleiben. Dazu braucht es partizipative Veränderungen am Arbeitsplatz, also die Mitgestaltung von Arbeitsbedingungen, zum Beispiel flexiblere Arbeitszeitmodelle. 

Das berührt übrigens auch Themen wie Macht und Hierarchie zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Die Zukunft wird zeigen, welche Einrichtungen diese Erkenntnis als Chance nutzen, um auf verschiedene Strategien zu setzen, um Arbeitszufriedenheit, Produktivität und Offenheit zu fördern. In der Pflege ist Mitbestimmung dringend nötig. So brauchen wir zum Beispiel flexible und ausgehandelte Dienstpläne, mit denen sich Systemzeiten der Einrichtungen und lebensweltliche Bedürfnisse in Einklang bringen lassen. Dafür ist auf der Leitungsebene Vertrauen nötig, aber die Mitarbeitenden müssen die Verantwortung auch übernehmen wollen.

Wie gut werden Auszubildende auf psychische Belastungen im Job vorbereitet?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Das ist abhängig davon, wie sehr sich die Bildungsträger, also die Schulen und Hochschulen, die nachhaltige Gesundheitsförderung auf die Fahnen schreiben. Grundsätzlich sind die Betriebe und die Schulen dafür wichtig Settings. 

Gefühlsarbeit ist also nicht in den Lehrplänen verankert?

Jörg Rövekamp-Wattendorf: Ansatzweise schon. Sie wird immer mal angesprochen und gilt als Bereich, in dem die Studierenden und Lernenden Wissen und Kompetenzen erwerben sollten. Psychohygiene nimmt als Gebiet der Sozialwissenschaften aber keinen großen Stellenwert in den Ausbildungsgängen ein. Es darf dabei aber nicht nur um Wissensaneignung gehen. Wir brauchen auch Lernsettings, in denen bestimmte Situationen trainiert werden.

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