Es ist ja nicht so, dass sich in der Pflege jenseits von Corona gerade nichts bewegt. Ganz im Gegenteil. Das betrifft vor allem die Bezahlung der Beschäftigten. Zwischen 19 % und 30 % Lohnerhöhung dürfen Pflege- und Betreuungskräfte zum Jahresende erwarten. Das betrifft zumindest einen großen Teil der Mitarbeitenden, die bei einem nicht tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt sind. Das begrüßen (fast) alle und natürlich auch die Arbeitgeber der Ruhrgebietskonferenz Pflege. Angesichts des Reformstaus in der Pflegeversicherung geht diese Steigerung aber ausschließlich zu Lasten der NutzerInnen und der kommunalen Haushalte. Die Stückwerk-Pflegereform der letzten Bundesregierung hat es versäumt, eine Antwort auf die Frage nach der Entlastung der Pflegebedürftigen für den Fall einer – gewollten – Erhöhung der Bezahlung der Beschäftigten zu geben. Beispielsweise würde sich der Eigenanteil von Bewohnern in der stationären Pflege um 30 – 45 % (je nach Bundesland) erhöhen. Gleiches gilt für die Zuzahlungen in der ambulanten Pflege, da die Angehörigen den zeitlichen Unterstützungsumfang aufrechterhalten wollen und müssen. Gerade in der ambulanten Pflege müssen die Punktwerte und die Stundenpreise für die Leistungen erheblich steigen, was entweder zu höheren Eigenanteilen der Betroffenen oder Leistungskürzungen führen würde. Eine dynamische Erhöhung der Sachmittelbudgets bei diesen Kostensteigerungen ist immer noch nicht vorgesehen. Im Gegenteil: die ursprünglich im Gesetz stehende regelmäßige Dynamisierung ist gestrichen worden.
„Hier wird Pflege- und Arbeitsmarktpolitik auf dem Rücken der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen gemacht. Jetzt fällt die Stückwerk-Pflegereform den Betroffenen auf die Füße, in dem ein tiefer Griff in deren Portemonnaie gemacht wird. Die Ampel muss noch in diesem Jahr ihre Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag zeitnah umsetzen und gegensteuern.“
Thomas Eisenreich, Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege
Deutlich bessere Bezahlung in Aussicht
Was für eine Woche für die Vergütung in der Pflege. Zuerst wurden die regional üblichen Vergütungsniveaus veröffentlicht und dann auch noch die neuen Pflege-Mindestlöhne. Wobei die Mindestlöhne klar von regional üblichen Entgelten übertroffen werden. Die regional üblichen Entgelte haben es in sich. Die gerade veröffentlichten Vergütungswerte tarifgebundener Organisationen liegen im Durchschnitt aller Bundesländer bei 16,18 € für eine ungelernte Hilfskraft, für eine mind. 1-jährig qualifizierte Hilfskraft 17,82 € und für die Fachkräfte 21,96 €. Das führt zu monatlich 2.700 Arbeitnehmer-Brutto-Entgelten für ungelernte Hilfskräfte, 3.000 € für 1-jährig qualifizierte Hilfskräfte und 3.700 Euro für examinierte Fachkräfte. Die Werte sind Brutto-Arbeitnehmer-Werte ohne Zeitzuschläge, diese kommen noch separat hinzu. Je nach Region ergeben sich damit durchschnittliche Vergütungen auf Niveau der hohen Tarife, wie TVöD etc. Welche kurzfristigen Steigerungen das beinhaltet, wird deutlich, wenn die Zahlen der Bundeagentur für Arbeit hinzugezogen werden. Danach betrug im Mai 2021 die durchschnittliche Vergütung einer Altenpflegefachkraft 3.034 € und die einer Hilfskraft 2.146 €. Gegenüber dem regionalen Durchschnitt, müsste sich für die Hilfskraft die Entlohnung um 24 % erhöhen und für die Fachkraft um mind. 19 %. Für die Beschäftigten und auch die Arbeitgeber aus der Pflege sieht das im Kampf um Mitarbeitende und die Refinanzierung wettbewerbsfähiger Vergütungen nach einem Meilenstein aus.
„Natürlich begrüßen wir diese Entwicklung. Das war lange überfällig. Uns ärgert aber, dass sich die Politik hier mal wieder aus der Finanzierungverantwortung stiehlt.“
Silke Gerling vom Diakoniewerk Essen und ebenfalls Sprecherin der Ruhrgebietskonferenz-Pflege
Weitreichende Auswirkungen für Träger und Nutzer
Es wäre nämlich alles sehr schön und eine tolle Botschaft in Zeiten von Corona, wenn da nicht die absehbaren Konsequenzen für die Betroffenen wären. Einen Gegenfinanzierung durch eine Erhöhung der Sachmittelbudgets oder eine Begrenzung der Eigenanteile in der stationären Pflege ist mit den Tariftreueregelungen nicht vorgesehen und ebenfalls nicht in Sicht. Im Koalitionsvertrag steht zwar, „wir werden in der stationären Pflege die Eigenanteile begrenzen und planbar machen. Die zum 1.Januar 2022 in Kraft tretende Regelung zu prozentualen Zuschüssen zu den Eigenanteilen werden wir beobachten und prüfen, wie der Eigenanteil weiter abgesenkt werden kann“, aber eine entsprechende Gesetzesinitiative zur Absenkung der Entgelte ist weit und breit nicht erkennbar.
„Und zu den steigenden Zuzahlungen in der ambulanten Pflege wird im Koalitionsvertrag gar nichts gesagt. 80 % aller Menschen mit Pflegebedarf werden zu Hause versorgt und mit den steigenden Kosten der pflegerischen und betreuerischen Unterstützung im Regen stehen gelassen.“
Thomas Eisenreich
Aktuell passiert also sogar das genaue Gegenteil. In der stationären Pflege kann als Faustregel angenommen werden, dass sich der einrichtungseinheitliche Eigenanteil um den Faktor 2-3 in Bezug auf die Budgetsteigerung erhöht. Gesetzt dem Fall, dass die Pflegepersonalkostensteigerung von 20 % zu einer Pflegesatzbudgetsteigerung von insgesamt 15 % führen würden, würde sich der Eigenanteil um 30-45 % auf einen Schlag erhöhen. Aber auch die Preise der ambulanten Pflege und Betreuung, der teilstationären Tagessätze und alternativen Vergütungen wie Service- oder Betreuungspauschalen werden sich erheblich verteuern, teilweise um bis zu 25%.
„Ohne massive Steigerungen der Sachleistungsbudgets kommt es zu steigenden Belastungen der Pflegebedürftigen. Damit sind noch mehr Menschen auf Leistungen der kommunalen Sozialhilfe als Hilfen zur Pflege angewiesen. Gesellschaftlich schaffen wir uns gerade ein Riesenproblem, dass keiner bei Verabschiedung des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) bedacht zu haben scheint.“
Thomas Eisenreich