Summary
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Mangels an Pflegekräften ist nicht davon auszugehen, dass die häusliche Pflege in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung verlieren wird. Im Fokus stehen im Folgenden deshalb vor allem Angehörige und Zugehörige (so nennen wir hier Nahestehende, die keine Verwandten sind), die als Pflegepersonen Verantwortung übernehmen und die gesellschaftlich notwendige Arbeit der Versorgung von Pflegebedürftigen leisten. Die häusliche Pflege darf keine ‚Black Box‘ bleiben, für die sich Gesellschaft und Staat nicht interessieren, weil deren ‚Innenleben‘ als reine Privatsache betrachtet wird. Im Gegenteil: In privaten Haushalten können sowohl das Wohl der Pflegebedürftigen als auch das Wohl der Pflegepersonen erheblichen Gefährdungen ausgesetzt sein. Hinsichtlich dieser Gefährdungslagen ist der Staat verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, Grundrechtsbeeinträchtigungen von beiden Personengruppen vorzubeugen bzw. diesen entgegenzuwirken. Im Sinne einer doppelten Personenzentrierung argumentieren wir daher für eine staatliche Schutzverantwortung für Pflegebedürftige und eine subsidiäre Verantwortung des Staates für Pflegepersonen. Über den Medizinischen Dienst (MD) und seine regelmäßige Erfassung von Potenzialen und Risiken in häuslichen Pflegesettings, aber auch über die Pflegestützpunkte plus in kommunaler Trägerschaft, die ein umfangreiches Case- und Care-Management übernehmen sollen, kann der Staat seiner Schutzverantwortung für Pflegebedürftige nachkommen. Seiner subsidiären Verantwortung für Pflegepersonen kann der Staat – neben der Begleitung durch die Pflegestützpunkte plus – auch durch die Einführung eines steuerfinanzierten Pflegendengeldes entsprechen, das der Absicherung der Hauptpflegepersonen dient. Keine Person soll arm sein oder werden, weil sie pflegt. Dabei plädieren wir – auch aus verteilungspolitischen Erwägungen – für ein einkommensunabhängiges Transfereinkommen, nicht für eine Lohnersatzleistung. Zudem können Pflegebedürftige nur gut versorgt und Pflegepersonen nur wirksam vor Überlastung geschützt werden, wenn eine ambulante und teilstationäre Pflegeinfrastruktur flächen- deckend in ausreichendem Maße zur Verfügung steht und Pflegestützpunkte plus eingerichtet sind, die die Menschen beraten, ihnen Koordinationsleistungen abnehmen und den Leistungsmix in der häuslichen Versorgung verlässlich begleiten und sichern.
Die zitierfähige und autorisierte Druckfassung des Policy-Papers finden sie hier: https://www.doi.org/10.17879/93049463318.
Gliederung
In diesem Policy Paper zur Pflegepolitik konzentrieren wir uns auf Desiderate und Reformansätze in Bezug auf den Leistungsmix in der häuslichen Versorgung. Wir führen zunächst die normativen Grundannahmen ein, die unsere Überlegungen leiten: die doppelte Personenzentrierung sowie die staatliche Schutzverantwortung für Pflegebedürftige und die subsidiäre Verantwortung des Staates für Pflegepersonen (Abschnitt 1). Im Anschluss stellen wir das Pflegendengeld als einkommensunabhängiges Transfereinkommen zur Absicherung von Pflegepersonen (Ab- schnitt 2) und Maßnahmen zum Auf- und Ausbau der ambulanten Pflege- und Versorgungsstrukturen (Abschnitt 3) vor. Erst wenn Pflegestützpunkte im Rahmen eines substanziellen Case- und Care-Managements u. a. Beratungs- und Koordinationsleistungen erbringen, können die in den Abschnitten 2 und 3 skizzierten Maßnahmen wirksam werden. Deshalb argumentieren wir für die Einrichtung von wohnortnahen Pflegestützpunkten plus, die im staatlichen Auftrag gemäß der staatlichen Schutzverantwortung und subsidiären Verantwortung die Begleitung von häuslichen Pflegearrangements übernehmen und vor Grundrechtsbeeinträchtigungen und / oder Überlastungssituationen schützen (Abschnitt 4). Abschließend diskutieren wir das Risiko einer zunehmenden Familialisierung der Pflege, das z. B. mit Transfereinkommen an pflegende An- oder Zugehörige sowie mit ausgebauten ambulanten und teilstationären Strukturen verbunden werden könnte (Abschnitt 5). Ein Fazit (6.) resümiert unsere Vorschläge.
1 Normative Überlegungen
Empirische Befunde zu Missständen in häuslichen Pflegearrangements, insb. zu fehlenden Unterstützungsangeboten für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige (Hauptpflegepersonen), die eine adäquate Versorgung gefährden bzw. nicht vor Überlastung schützen, weisen auf ein zweifaches Problem hin: die Gefährdung des Pflegebedürftigen- und des Pflegepersonenwohls. In Analogie zur Kindeswohlgefährdung sprachen Annette Riedel und Konrad Stolz (2008) von einer „Altenwohlgefährdung“ in der häuslichen Pflege. Die physischen und psychischen Belastungen der Hauptpflegepersonen, die u. a. zu einer Zunahme der Erkrankungshäufigkeit bei dieser Personengruppe führen, und die teils erheblichen Einschränkungen der persönlichen Lebensführung und des Soziallebens1 lassen aber auch auf eine Gefährdung des Pflegepersonenwohls schließen.2
Aufgrund dieser doppelten Gefährdungslage plädieren wir für eine doppelte Personenzentrierung der auf die häusliche Pflege bezogenen Pflegepolitik. Dadurch sollen sowohl die Pflegebedürftigen als auch deren Pflegepersonen als Träger von Rechtsansprüchen auf Schutz und unterstützende Leistungen in den Blick kommen. Der aus der Teilhabeforschung bekannte personenzentrierte Ansatz legt den Schwerpunkt darauf, die Leistungen pflegerischer Versorgung anhand der Bedürfnisse und Bedarfe der pflegebedürftigen Person unter Berücksichtigung des sozialen Umfeldes zu ermitteln und zu erbringen, und zwar unabhängig vom Versorgungsort und von Leistungskomplexen, die gegenwärtig noch die Zuordnung und Praxis im Bereich der Langzeitpflege bestimmen. Auch der Leistungszugang in der Pflege sollte personenzentriert statt einrichtungsbezogen erfolgen.3 Im Fokus steht hierbei die pflegebedürftige Person. Wir erweitern den personenzentrierten Ansatz hin zu einer doppelten Personenzentrierung und begründen damit eine auf beide Gruppen bezogene Schutzverantwortung bzw. subsidiäre Verantwortung des Staates.
Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für „unantastbar“; ihre Achtung und ihr Schutz sind unbedingte „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Die bis in die 2000er Jahre maßgebliche verfassungsrechtliche Kommentierung von Art. 1 Abs. 1 GG bestimmte den Inhalt der Menschenwürde wie folgt: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“4 Die Freiheit zur Selbstbestimmung und Umweltgestaltung wird „für alle Menschen gleich gedacht“, unabhängig davon, ob konkrete Menschen z. B. wegen einer demenziellen Erkrankung diese Freiheit noch in Gänze verwirklichen können oder nicht.5 Um sie substanziell zu sichern und die freiheitliche Gesellschaft dauerhaft zu stabilisieren, enthält das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 das Sozialstaatsgebot, das zu den unabänderlichen und insofern höchsten objektiv- rechtlichen Prinzipien des Grundgesetzes zählt. Der „demokratische und soziale Bundesstaat“ soll mit starken sozialstaatlichen Institutionen die individuelle Freiheit zur Selbstbestimmung und Umweltgestaltung gesellschaftlich unterstützen und staatlich sichern.6
Die Übernahme staatlicher Schutzverantwortung für Pflegebedürftige ist verfassungsrechtlich nicht nur für Bewohner*innen stationärer Pflegeeinrichtungen plausibel zu begründen,7 sondern auch für Pflegebedürftige in häuslicher Versorgung.8 Denn unabhängig von der Art der Unterbringung in stationären Einrichtungen oder privaten Haushalten sind pflegebedürftige Menschen physisch und / oder mental nicht in der Lage, vollumfänglich für sich selbst zu sorgen. Dem Staat kommt gemäß den grundgesetzlichen Normen eine Garantenstellung dafür zu, etwaigen Grundrechtsbeeinträchtigungen von Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen ebenso wie in der häuslichen Versorgung vorzubeugen bzw. diesen entgegenzuwirken. Die aktuelle Bundesregierung rekurriert im Koalitionsvertrag auf diese Ansprüche und will ermöglichen, „dass Menschen im Alter selbstbestimmt in ihrem frei gewählten Umfeld leben können.“9
Um Grundrechtsbeeinträchtigungen von Pflegebedürftigen in häuslicher Versorgung vorzubeugen, müssen überlastende Pflegearrangements in den Blick genommen und Pflegepersonen wirksam entlastet werden. Hinzu kommt: Durch anhaltende Überlastung geben Pflegepersonen – analog zu den Pflegebedürftigen10 – die Selbstverfügung über wesentliche Bereiche ihres eigenen Lebens auf und können insofern ihre Freiheit zur Selbstbestimmung und Umweltgestaltung allenfalls eingeschränkt wahrnehmen. Da Hauptpflegepersonen in erheblichem Umfang11 notwendige gesellschaftliche Arbeiten leisten und sich an der Erfüllung einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe beteiligen, sind die Gesellschaft und mit ihr der Staat gefordert, Bedingungen zu schaffen, die diese Personengruppe vor Überforderung schützen.12 Wir nennen dies die subsidiäre Verantwortung des Staates für Pflegepersonen. Gemäß dieser Verantwortung hat der Staat auf zweierlei Weise zu handeln: einerseits Situationen andauernder Überforderung zu beenden; andererseits präventiv so zu wirken, dass es nicht zur Überlastung der Hauptpflegepersonen kommt.
Die normative Verpflichtung gesellschaftlich-intermediärer Akteure und des Sozialstaats, unterstützend zu wirken und hilfreiche, entlastende Maßnahmen zu ergreifen, ist in der Sozialethik, in sozialwissenschaftlichen Fächern und in den Rechtswissenschaften als Subsidiaritätsprinzip bekannt.13 Dabei wird Subsidiarität (lat. subsidium = Hilfe) als Gewährung hilfreichen Beistands diskutiert. Interpretationen, die mit dem Prinzip einen Primat individueller Eigenverantwortung oder die Forderung nach einer Rückverlegung des Schwerpunkts von solidarischer Verantwortung in die Familie verbinden, halten wir nicht für zielführend. Das Subsidiaritätsprinzip kann u. E. heute nur noch als Prinzip Verwendung finden, das Zuständigkeiten für gesellschaftlich notwendige Arbeiten so austariert, dass sie persönlich erfüllend und im Sinne aller Betroffenen gut geleistet werden können. Mit dem Subsidiaritätsprinzip geraten damit u. a. die gesellschaftlichen und sozialstaatlich-institutionell zu gewährleistenden Ressourcen in den Blick, die Menschen benötigen, um Aufgaben wie die Pflege ihrer Angehörigen unter nicht nur gerade noch erträglichen, sondern guten Bedingungen erfüllen zu können. Gut sind die Bedingungen nur dann, wenn sie den besonderen Anforderungen der zu leistenden Arbeit entsprechen. Bezogen auf die Pflege verlangt die subsidiäre Verantwortung des Staates folglich u. a. die Bereitstellung jener Ressourcen, die die Angehörigenpflege als Interaktionsarbeit notwendig voraussetzt. Angesichts der hohen (zeitlichen) Beanspruchung durch Pflegearbeit in familialen bzw. informellen Kontexten fordert das Subsidiaritätsprinzip einen – der Selbstentfaltung der Einzelnen dienlichen – Beistand des Sozialstaats ein und nimmt dabei alle Ebenen sozialstaatlichen Handelns normativ in die Pflicht.
Die Sozialraumorientierung, die im Kontext pflegerischer Versorgung stark diskutiert wird, kann ebenfalls mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet werden. So legt die Subsidiarität, immer unter der Prämisse, die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten aller Betroffenen zu stärken, den Akzent auf die Personennähe. Strukturen pflegerischer Versorgung, die den Personen näherstehen und z. B. die Personen eines Quartiers unmittelbarer zu beteiligen helfen, sind vorzugswürdig. Sofern die genannte Prämisse gewahrt ist, gibt die größere Nähe einer Organisation zu den Betroffenen den Ausschlag.
Wenn z. B. in ländlichen Sozialräumen die Lebensverhältnisse von Pflegebedürftigen und Pflegepersonen erheblich von denen in städtischen Sozialräumen abweichen oder finanzschwächere Einwohner*innen in pflegepolitisch weniger engagierten Kommunen weniger Angebote vorfinden und dadurch deren persönliche Entfaltung beeinträchtigt wird, dann ist keine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gegeben. Die grundgesetzlich verankerte Freiheit zur Selbstbestimmung und Umweltgestaltung, darunter die Möglichkeit, sich zu vertretbaren Bedingungen als pflegende*r Angehörige*r zu engagieren, ist entsprechend nicht für alle gewahrt. Vor dem Hintergrund unserer normativen Überlegungen – der Schutzverantwortung des Staates für Pflegebedürftige und der subsidiären Verantwortung für Pflegepersonen – stellt dies ein Problem dar, dem der Staat mit höherem Ressourceneinsatz in benachteiligten Sozialräumen zu begegnen verpflichtet ist.
Für alle Pflegebedürftigen und Pflegepersonen muss ein inklusiver Zugang zu Pflege- und Hilfeleistungen geschaffen und sichergestellt werden. Dabei sind die Pflege- und Unterstützungsleistungen auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Pflegebedürftigen und Hauptpflegepersonen zuzuschneiden; dies betrifft etwa kulturspezifische Erwartungen aufgrund einer Migrationsgeschichte oder besondere Bedürfnisse aufgrund einer Behinderung. Diskriminierungsfreie Pflege und Unterstützung lassen sich anhand der vier Kriterien des UN-Sozialpaktausschusses (4-A-Schema) überprüfen: der Verfügbarkeit (availability; es gibt ausreichend Pflege- und Unterstützungsangebote), der Zugänglichkeit (accessibility; der Zugang ist frei von Barrieren aller Art), der Annehmbarkeit (acceptability; es wird z. B. auf den Wunsch nach geschlechtsspezifischer Pflege Rücksicht genommen) und Anpassungsfähigkeit (adaptability; die Pflege passt sich an unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse an, u. a. die von Pflegebedürftigen mit fortschreitender Demenz).
2 Das Pflegendengeld – ein einkommensunabhängiges Transfereinkommen zur Absicherung von Pflegepersonen
Die Leistungen der Pflegeversicherung zielen auf das Wohl der*des Pflegebedürftigen. Bezeichnenderweise wird das Pflegegeld, das ja auch eine Anerkennung der Leistungen pflegender Angehöriger ermöglichen soll, an die Pflegebedürftigen ausgezahlt. Selbst solche Leistungen, mit denen pflegende Angehörige unterstützt oder vorübergehend entlastet werden sollen (z. B. Kurzzeit- oder Verhinderungspflege), werden letztlich mit dem Wohl der Pflegebedürftigen legitimiert: Sie sollen helfen, die Pflegefähigkeit der pflegenden Angehörigen – im Interesse der Stabilität und des Wohlbefindens der Pflegebedürftigen – dauerhaft zu erhalten bzw. wiederherzustellen.
Im Sinne der skizzierten doppelten Personenzentrierung ist es unseres Erachtens notwendig, die Pflegeversicherung in einem Zwei-Säulen-Modell so weiterzuentwickeln, dass den Leistungen für die Pflegebedürftigen (bisher vor allem die Sachleistungen und das Pflegegeld) eine eigenständige finanzielle Absicherung der pflegenden An- bzw. Zugehörigen zur Seite gestellt wird.14 In diese Richtung weist die Aussage des Koalitionsvertrags, dass die Bundesregierung den Vorschlag insbesondere des Unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf15 aufgreifen und die Pflegezeit und die Familienpflegezeit zu einer „Lohnersatzleistung im Falle pflegebedingter Auszeiten“16 weiterentwickeln will. Damit wird u. E. eine hochbedeutsame pflegepolitische Weichenstellung angekündigt.
Im Sinne dieses Reformvorschlags plädieren auch wir dafür, ein Transfereinkommen für Pflegepersonen einzuführen, das für die*den Pflegende*n bei einem Einsatz im Umfang einer Vollzeit-Stelle existenzsichernd ist.17 Damit soll verhindert werden, dass Angehörige (zumeist Frauen) arm sind oder werden, weil sie pflegen.18 Zudem soll so das Risiko einer Abhängigkeit der Hauptpflegeperson von ihrem (häufig männlichen) Partner reduziert werden. Allerdings votieren wir aus verteilungspolitischen Überlegungen gegen eine Lohnersatzleistung (etwa nach dem Vorbild des Elterngelds) und schlagen stattdessen ein von uns als Pflegendengeld bezeichnetes Transfereinkommen vor.19 Sinnvoll wäre es u. E., das Pflegendengeld als ein Entgelt für die von An- bzw. Zugehörigen übernommene Versorgung und Pflege zu konzipieren. Die Höhe des Transfereinkommens soll sich an der Reduktion der Erwerbsarbeit orientieren, nicht – wie bei einer Lohnersatzleistung – am früheren Erwerbseinkommen der Pflegeperson.20 Der Konzeption als Entgelt für Pflegearbeit würde es eigentlich entsprechen, bei der Berechnung des Pflegendengelds auch die aktuellen sonstigen Einnahmen unberücksichtigt zu lassen. In diesem Fall wäre jedoch – im Vergleich zum aktuellen Pflegegeld – mit sehr hohen zusätzlichen Kosten zu rechnen.21 Daher soll in die Diskussion auch eine Variante einbezogen werden, bei der es für die Auszahlung des Pflegendengeldes eine Obergrenze des sonstigen Einkommens der Pflegeperson gibt.22 Die (Haupt-)Pflegeperson kann das Pflegendengeld ab PG 2 der gepflegten Person beantragen. Begründet ist dieses Transfereinkommen – im Sinne der doppelten Personenzentrierung – auch darin, dass die Pflegeperson in der Phase ihres Pflegeeinsatzes einer eigenständigen finanziellen Absicherung bedarf. Dieser Bedarf ist bei einer*einem pflegenden An-/Zugehörigen, die*der vor- her ein geringes Erwerbseinkommen bezog, nicht geringer als bei einer*einem An-/Zugehörigen, die*der vorher eine gut bezahlte Vollzeitstelle hatte. Bei einem Vollzeit-Einsatz für die Pflege sollte das monatlich ausgezahlte Pflegendengeld in etwa dem Netto-Monatslohn einer Vollzeit-erwerbstätigen Person auf dem Niveau des allgemeinen Mindestlohns entsprechen. Ab Oktober 2022 wären das ca. 1.500,- Euro.
Das Pflegendengeld wird bei der Pflegekasse beantragt und von dieser ausgezahlt. Finanziert wird es nicht über Beiträge, sondern über einen zweckgebundenen Steuerzuschuss an die Kasse. In voller Höhe kommt es nur pflegenden An-/Zugehörigen zugute, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Sofern An-/Zugehörige die Erwerbsarbeits- zeit für die Pflege reduzieren, wird es anteilig entsprechend der Reduktion der Erwerbsarbeit ausgezahlt. Bei Voll- zeit-Erwerbstätigkeit wird kein Pflegendengeld ausgezahlt. Pflegepersonen, die zuvor in Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig waren, können beantragen, dass der Umfang ihrer Sorgearbeit für den*die jeweilige*n Pflegebedürftige*n geprüft wird.23 Zur finanziellen Absicherung der Pflegeperson soll das Pflegendengeld auch bei Inanspruchnahme von Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege weiter ausgezahlt werden. Wenn zwei Partner*innen sich die Pflege teilen, wird der Geldbetrag um einen Partnerschaftsbonus erhöht, der eine geschlechtergerechte Verteilung der Pflegearbeit begünstigen soll. Die Auszahlung des Pflegendengeldes ist zudem von einer räumlichen / geographischen Nähe von Pflegeperson und zu pflegender Person (nicht zwangsläufig ein Wohnen im selben Haushalt) abhängig zu machen und wird an regelmäßige Beratungsgespräche mit einer*einem Mitarbeiter*in des Pflegestützpunktes plus (vgl. Abschnitt 4) gebunden.24 Das an die Pflegepersonen zu zahlende Pflegendengeld tritt an die Stelle des bisher an die Pflegebedürftigen ausgezahlten Pflegegeldes. Die Inanspruchnahme von Sachleistungen bleibt davon unberührt. Diese werden im Rahmen eines persönlichen Budgets flexibler gestaltet. Grundsätzlich soll das Pflegendengeld Pflegepersonen in nicht-kommerziellen Sorgebeziehungen absichern. Um zu erschweren, dass das Pflegendengeld genutzt wird, um Live-In-Care zu finanzieren,25 sind zu dessen Bezug zum einen (Ehe-)Partner*innen berechtigt sowie Personen, die mit dem*der Gepflegten verwandt sind. Zum anderen sollen aber auch Personen gefördert werden können, die in einem persönlichen Nahverhältnis bzw. in einem familien- oder verwandtschaftsähnlichen Verhältnis zur pflegedürftigen Person stehen. Dafür verlässliche Regelungen zu finden, bleibt ein Desiderat, das in diesem Papier nicht eingelöst werden kann.
3 Notwendige unterstützende Care- und Pflegestrukturen
Das Pflegendengeld allein reicht nicht aus, um Pflegepersonen abzusichern. Nicht-kommerzielle Sorge- und Pflegearbeit zu vertretbaren Bedingungen zu gewährleisten und Pflegepersonen vor Überlastung zu schützen, wird nur gelingen, wenn ein Kranz unterstützender Leistungen zur Verfügung steht, der je nach Umfang der Pflegebedürftigkeit in wachsendem Maße in Anspruch genommen werden kann.
Daher sind weitere Strukturen auf- bzw. auszubauen, die eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung von Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung ermöglichen sowie die Arbeit der Hauptpflegepersonen unterstützen und das Ressourcensystem Angehörigenpflege vor Übernutzung schützen. Im Folgenden blicken wir dabei vor allem auf teilstationäre Unterstützungsstrukturen und Angebote der Verhinderungs- oder der Kurzzeitpflege, betrachten das Spektrum der ambulanten Pflegedienstleistungen, Hilfs- und Betreuungsdienste und beziehen uns schließlich besonders auf die haushaltsnahen, hauswirtschaftlichen Dienstleistungen. Zuletzt gehen wir kursorisch auf Engagementförderung, Quartiersentwicklung und den Aufbau digitaler Infrastrukturen ein.
Teilstationäre Leistungen und Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege bilden zentrale Elemente zur Sicherung und Stärkung häuslicher Pflegearrangements. Um Lücken in der häuslichen Versorgung zu schließen und Hauptpflegepersonen zu entlasten, können Pflegebedürftige für einen Teil des Tages oder während der Nacht in einer Einrichtung versorgt werden (Tages- oder Nachtpflege; § 41 SGB XI), wobei die entsprechenden Angebote auch die Fahrt von der Wohnung zur Einrichtung und zurück umfassen. Obwohl teilstationäre Pflegeangebote mit der Sicherung und Stärkung häuslicher Pflege(-bereitschaft) begründet und breit diskutiert wurden,26 bewegt sich das Angebot verfügbarer Plätze quantitativ nach wie vor auf niedrigem Niveau. Plätze in der Tagespflege wurden zwischen 2009 und 2019 ausgebaut – die Zahl der Plätze verdreifachte sich auf 82.600 Plätze deutschlandweit.27 Dagegen nahm die Zahl der Plätze in der Nachtpflege (2009: lediglich 425) bis 2019 auf 260 Plätze in ganz Deutschland ab – die Zahl der Nutzer*innen lag im unteren zweistelligen Bereich. 2019 nahmen lediglich 4,2 % aller zu Hause versorgten Leistungsbezieher*innen der Pflegeversicherung teilstationäre Pflege in Anspruch. 2009 waren es prozentual weniger als halb so viele (1,9 %).
Verhinderungspflege bezeichnet eine in häuslicher Umgebung fortgesetzte Ersatzpflege, die bei Ausfall der Pflegeperson finanziert wird und die anfallenden Bedarfe deckt (§ 39 SGB XI). Kurzzeitpflege bildet ein vorübergehendes vollstationäres Pflegeangebot (§ 42 SGB XI). Beide Pflegeangebote sollen der Stabilisierung häuslicher Pflegearrangements dienen und damit dem Vorranggrundsatz häuslicher Pflege vor stationärer Versorgung eine materiale Grundlage verschaffen. Ihr Ziel ist es, den Pflegepersonen temporär Entlastung zu gewähren und zu „verhindern, daß der Pflegebedürftige bei Ausfall der Pflegeperson auf Dauer in vollstationäre Pflege überwechseln muß.“28 Trotz der Bedeutung, die der Gesetzgeber den Leistungen der Verhinderungs- und Kurzzeitpflege beimaß, war zwischen 2009 und 2019 ein Abschmelzen der verfügbaren Kurzzeitpflegeplätze um 8,7 % zu beobachten.29 2019 nahmen lediglich 0,7 % aller zu Hause versorgten Leistungsbezieher*innen der Pflegeversicherung Kurzzeit- pflege in Anspruch. 2009 waren es noch 1,1 %. Die schwankende Personal- bzw. Belegungsnachfrage und die dadurch erschwerte Kostenkalkulation bei der Verhinderungspflege in häuslicher Umgebung und der Kurzzeitpflege in Einrichtungen bilden eine besondere Herausforderung. Diese Unterstützungsstrukturen bedürfen daher spezieller Förderung, darunter einer abgestimmten Anschubfinanzierung. Erschwerend wirkten sich in einzelnen Bundesländern Verordnungen aus,30 die mit strengen Auflagen den Auf- und Ausbau der genannten Unterstützungsstrukturen hemmten.
Die genannten Angebote sind durch ambulante Pflegedienstleistungen, Hilfs- und Betreuungsdienste (auch in dünnbesiedelten Regionen) sowie haushaltsnahe, hauswirtschaftliche Dienstleistungen zu ergänzen.31 Laut Koalitionsvertrag sollen letztere nach dem Vorbild des belgischen Gutscheinsystems zu formellen Leistungen ausgebaut und auch Pflegehaushalten zur Verfügung gestellt werden.32 In Belgien sind staatlich subventionierte Gutscheine für hauswirtschaftliche Dienste etabliert. Diese Gutscheine können nur bei zertifizierten Dienstleistern eingelöst werden, die ihre Mitarbeiter*innen sozialversicherungspflichtig anstellen.33 Ein Teilaspekt des französischen Modells sollte bei der Übertragung auf den deutschen Kontext zusätzlich berücksichtigt werden. In Frankreich können nämlich Arbeitgeber*innen für ihre Mitarbeiter*innen steuervergünstigt Gutscheine einkaufen und als betriebliche Familienförderung anbieten.34 Um die in Deutschland übliche systematische Zuordnung der Bereiche häuslich- pflegerischer Versorgung zur Pflegeversicherung zu wahren, sollten hierzulande staatlich-steuerfinanzierte Gutscheine nur zur Bezahlung hauswirtschaftlicher Tätigkeiten ausgegeben werden.
Neben den genannten Strukturen ist auch die Einbindung bürgerschaftlich-ehrenamtlichen Engagements wichtig, um angesichts des demografischen Wandels einer bedürfnis- und bedarfsgerechten Sorge und Pflege zu entsprechen. Damit sind Engagementförderung, Quartiersentwicklung im Sinne von altersfreundlichen Gemeinschaften vor Ort und der Aufbau digitaler Infrastrukturen angesprochen, die z. B. beim Matching von Leistungsgeber*innen und -empfänger*innen behilflich sein können.35
Auf- und Ausbau der verschiedenen Unterstützungsstrukturen können Hand in Hand erfolgen. So kann bspw. die Entwicklung teilstationärer Strukturen und der Kurzzeitpflege mit der Öffnung stationärer Einrichtungen ins Wohnquartier hinein verbunden werden und auf diese Weise zur Förderung altersfreundlicher Quartiere und helfender Nachbarschaften beitragen. Ohne selbst vollstationäre Pflege in Anspruch zu nehmen, frequentieren Pflegebedürftige und deren An-/Zugehörige Einrichtungen, nutzen die dortige Infrastruktur und treten mit Bewohner*innen und Personal in Kontakt. Pflegepersonen lernen neben (teil-)stationären Strukturen quartiersnahe Netze und Unterstützungsangebote kennen; sie können ihre positiven Erfahrungen weitergeben oder sich auch nach dem Tod der eigenen pflegebedürftigen An-/Zugehörigen weiter engagieren.
4 Pflegestützpunkt plus
Für eine bedürfnis- und bedarfsgerechte pflegerische Versorgung und Unterstützung bedarf es eines ausreichenden und passenden Angebots und eines sinnvollen, niederschwelligen und abgestimmten Leistungszugangs. Wir gehen davon aus, dass Infrastrukturdefizite (nicht bedarfsgerechte oder fehlende Angebote), Kooperationsdefizite der beteiligten Akteure und Koordinationsdefizite einander wechselseitig verstärken und eine bedarfsgerechte Versorgung behindern. In der pflegerischen Versorgung in Deutschland haben wir es mit einem hochentfalteten Akteurssystem zu tun, in dem die eine Hand oft nicht (oder zu spät) weiß, was die andere tut oder hätte zur Verfügung stellen können. Pflegepersonen und Pflegebedürftige wissen oft nicht, wohin sie sich mit Fragen und Hilfebedarfen wenden sollen. Um eine adäquate, der Schutzverantwortung bzw. subsidiären Verantwortung des Staates entsprechende Versorgung sicherzustellen, Risiken vorzubeugen und Gefährdungslagen von Pflegebedürftigen und Pflegepersonen zu überwinden, sind deshalb die Verantwortlichkeiten, insbesondere für die Bereitstellung und Koordination der Leistungen, an einer im Sozialraum verankerten Stelle zu bündeln. Notwendig ist eine Stelle, die vor Ort die formalisierte Bearbeitung der Deckung der Care- und Pflegebedarfe übernimmt. Sie soll nicht alles selbst machen bzw. anbieten, sondern melden, steuern und koordinieren, was gebraucht wird, und dadurch sicherstellen, dass Leistungsberechtigte (sowohl Pflegebedürftige als auch Pflegepersonen) zu Leistungsempfängern werden.
Diese Aufgabe soll – so unser Vorschlag – von sogenannten Pflegestützpunkten plus erfüllt werden.36 Bei den Pflegestützpunkten plus handelt es sich um eine zu etablierende, neue Akteursstruktur, die aus bereits bestehenden Einrichtungen (Pflegestützpunkten und kommunalen, träger- und kassenverantworteten Beratungsangeboten) und Projekten (Lotsenprojekten, Netzwerkprojekten) hervorgehen soll. In der neuen Akteursstruktur soll die erfolgreiche Arbeit der bisherigen Einrichtungen und Projekte weitergeführt werden; zugleich sollen mit der neuen Struktur Hemmnisse und Mängel, die bei bzw. zwischen den bisher unabhängig voneinander tätigen Einrichtungen zutage getreten sind, beseitigt werden. Pflegestützpunkte plus verknüpfen die Beratung von Beteiligten häuslicher Pflegekontexte und die Koordination notwendiger Leistungen im Einzelfall (Case-Management in wohnortnahen Pflegestützpunkten plus) mit der kommunalen Bedarfsplanung und der darauf aufbauenden Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen (Care-Management jeweils durch eine kommunale Hauptstelle der Pflegestützpunkte plus pro Landkreis bzw. kreisfreier Stadt). Die Pflegestützpunkte plus sollen in kommunaler Trägerschaft sein, um eine neutrale, advokatorische Beratung zu gewährleisten und Interessenkonflikte bei Versorgungsvorschlägen und planerischen Entscheidungen zu vermeiden. Diese Zuordnung entspricht auch am besten der dargelegten staatlichen Schutzverantwortung für Pflegebedürftige und der subsidiären Verantwortung des Staates für Pflegepersonen. Als Teil der pflegerischen Infrastruktur sollen sie durch Landesmittel finanziert werden.37
Case-Management
Informieren und beraten: Die präventive Gesundheitsberatung durch den Pflegestützpunkt plus wird (z. B. im Rahmen eines Gratulationsschreibens zum 75. Geburtstag) allen gemeldeten Bürger*innen als Hausbesuch angeboten. Die Berater*innen geben hierbei einen Überblick über verfügbare Leistungen und Angebote für Senior*innen vor Ort38 und stellen die Arbeit des Pflegestützpunkts plus vor.39 So wird ein positiver Bezug zum Pflegestützpunkt plus geschaffen, der im Bedarfsfall niedrigschwellig wieder aufgenommen werden kann. Diese Informationsgespräche können auf Anfrage auch vor dem 75. Lebensjahr in Anspruch genommen werden.
Spezifischere Beratungsangebote bei sich ankündigender40 oder bereits bestehender Pflegebedürftigkeit werden durch (mindestens pflegerisch nachqualifizierte) Fachkräfte41 umgesetzt und umfassen je nach vorliegenden Beeinträchtigungen und Bedarfslagen
- kommunale Beratung im Vor- und Umfeld von Pflege (auch zu verfügbaren Wohnformen) nach § 71 (3) SGB XII,
- individuelle (ab Pflegegrad 2 verpflichtende) Pflegeberatung im Sinne eines Case-Managements nach § 7a SGB XI, in sozialgesetzbücherübergreifender Perspektive, inkl. der Erstellung eines individuell abgestimmten Pflegeplans,
- Beratung im Bereich der Eingliederungshilfe nach § 106 SGB IX.42
Dabei werden neben professionellen Dienstleistungen auch die vorhandenen Potentiale der Selbstpflege sowie informelle Ressourcen im Rahmen der Pflege und Unterstützung durch An-/Zugehörige, nachbarschaftliche Netze oder ehrenamtliche Initiativen berücksichtigt.
Entlasten und koordinieren: Die Mitarbeiter*innen des Pflegestützpunkts plus unterstützen bei Anträgen an die Sozialversicherungen (auch für das Pflegendengeld) und ermöglichen ggf. eine Rechtsberatung, wenn es sinnvoll ist, gegen einen Bescheid (z. B. Pflegegradeinstufung) Widerspruch einzulegen.43 Sie organisieren für die anspruchsberechtigte Person das Ensemble der notwendigen Leistungen, basierend auf dem individuellen Pflegeplan.44
Das Angebot zielt im Sinne der doppelten Personenzentrierung in der häuslichen Pflege sowohl auf die pflegebedürftige Person als auch auf die Hauptpflegeperson. Neben explizit pflegerischen Leistungen, die zur Entlastung der Pflegepersonen nötig sind (Tages-, Nacht-, Kurzzeit- und Verhinderungspflege), können auch Pflegekurse (als Präsenzveranstaltung oder online) und mögliche Reha-Leistungen sowie präventive Gesundheitsförderung für pflegende An-/Zugehörige über den Pflegestützpunkt plus beantragt bzw. direkt gebucht sowie der Kontakt zu passen- den Selbsthilfegruppen hergestellt werden.
Case-Monitoring: Sowohl mit der pflegebedürftigen als auch mit der pflegenden Person werden regelmäßig Gespräche geführt. Der individuelle Pflegeplan wird in halbjährlichen (ab Pflegegrad 2 verpflichtenden) Gesprächen überprüft und an den aktuellen Bedarf der*des Pflegebedürftigen angepasst. Gespräche zur Begleitung und Beratung der Pflegepersonen45 werden ebenfalls halbjährlich (im Bedarfsfall auch häufiger) angeboten. Das regelmäßige Angebot von Hilfestellungen, Entlastung sowie pflegefachlicher Begleitung soll eine gute Pflegesituation unterstützen und die Pflegeperson vor Überlastung schützen. Durch die kontinuierliche Begleitung der Pflegesituation entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis zu den Mitarbeiter*innen des Pflegestützpunkts plus, das es ermöglicht, Sorgen und Belastungen anzusprechen, bevor eine Überlastungssituation zu gewaltförmigem Selbstschutz der Pflegepersonen führt (z. B. Vernachlässigung, Sedieren oder Einschließen der pflegebedürftigen Person).
Kontrollieren der pflegerischen Versorgung: Die häuslichen Versorgungssettings werden wie bisher im Rahmen der Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst (MD) überprüft. Ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass Verwahrlosung und Gewalt in der häuslichen Pflege eingetreten und Hilfeangebote erfolglos sind, plädieren wir für eine dem Umgang mit Kindeswohlgefährdung vergleichbare und mit dem MD46 abgestimmte „helfende Intervention“ seitens des zuständigen Pflegestützpunkts plus. Mögliche Konsequenzen können weitere (angeordnete) Hilfen, Beratung und Mediation sein, die der Pflegestützpunkt plus koordiniert. Für die Einleitung solcher Interventionen soll die Leitung des Pflegestützpunkts plus zuständig sein. Wenn keine Verbesserung eintritt und sich die oben genannten Anhaltspunkte verdichten, soll der MD – im staatlichen Auftrag – dazu verpflichtet sein, das Familiengericht anzurufen. Falls das Gericht eine Gefährdungssituation feststellt, erfolgt eine (vorübergehende) Auflösung des häuslichen Pflegearrangements: die Unterbringung der pflegebedürftigen Person in einer Gastfamilie oder einer stationären Einrichtung.47
Kommunales Care-Management
Evaluieren und Bedarfe melden: Als regelmäßiger Schritt im Rahmen der fallbezogenen Begleitungen erfolgt ein systematischer Abgleich der Bedarfe mit den zugänglichen Angeboten. Die Evaluation ist also gleichzeitig Teil des Case-Managements und Ausgangspunkt des Care-Managements. Die im Einzelfall dokumentierten fehlenden Kapazitäten und/oder Kooperationsdefizite von Akteuren werden von einer Hauptstelle der Pflegestützpunkte plus auf der Ebene des Landkreises bzw. der jeweiligen kreisfreien Stadt ausgewertet und als Desiderate der kommunalen Pflegestrukturplanung im Sinne einer integrierten Sozialplanung48 ausgewiesen.
Prozessorientierte Kooperation (Kontaktpflege und Netzwerkarbeit): Das Forum, in dem diese Desiderate angesprochen werden, ist die kommunale Pflegekonferenz. Diese bildet eine neutrale Plattform für die Vernetzung kommunaler Akteure, zu denen die jeweilige kommunale Hauptstelle der Pflegestützpunkte plus zählt, der Pflegekassen49 und der in die konkrete pflegerische Versorgung involvierten Akteure aller Sektoren (vgl. Endnote 44).50 Der Austausch in der kommunalen Pflegekonferenz ermöglicht ein transparentes, partizipatives und abgestimmtes Vorgehen in der Sozialplanung.51 Die kommunale Hauptstelle der Pflegestützpunkte plus als Moderatorin fördert die Zusammenarbeit aller Akteure im Interesse einer passgenauen Versorgung der Bevölkerung.
Planungsorientierte Kooperation (Absprachen zur Bedarfsdeckung): Im Kontext des Case-Managements zutage getretene Kooperationsdefizite, Veränderungen der lokalen Bedarfslage sowie die Anzeige noch gänzlich fehlender Angebote werden im Rahmen halbjährlicher Versammlungen durch die kommunale Hauptstelle der Pflegestützpunkte plus eingebracht, und es werden pragmatische Lösungen durch eine Abstimmung zwischen den Anbietern gefunden. Hier kommen innovative Wohn-(Pflege-)Formen, digitale Angebote, aber auch eine insgesamt leistungsstarke, aufeinander abgestimmte ambulante und (teil-)stationäre Versorgung in den Blick.
Vernetzung auf Landes- und Bundesebene: Bedarfe, die nicht auf der kommunalen Ebene eingelöst werden können52 und deren Deckung auf höherer Ebene zu steuern ist,53 werden in regelmäßigen Vernetzungstreffen der kommunalen Hauptstellen der Pflegestützpunkte plus auf Landes- und Bundesebene besprochen. Dort können u. a. hartnäckige Problemstellungen erörtert und gute Lösungen anderen Kommunen zugänglich gemacht werden. Aus diesen Strukturen heraus wird den Ministerien und/oder Bundesverbänden der Kassen Rückmeldung gegeben.
5 Weitere Familialisierung der Pflege?
Abschließend greifen wir den Einwand auf, durch unsere Vorschläge würde die Familialisierung des deutschen Pflegesystems, die sich bereits seit Jahren in einem steigenden Anteil der häuslichen und einem Rückgang der stationären Pflege zeigt, weiter verstärkt.
Mit unserem Vorschlag des Pflegendengeldes wollen wir nicht den überkommenen deutschen Familialismus und dessen strukturelle Rücksichtslosigkeit fortschreiben. Das Pflegendengeld ist nicht als Anreiz gedacht, Frauen in die Angehörigenpflege zu locken, ihr Arbeitsvermögen (wie gehabt) ohne Anerkennung abzuschöpfen und sie vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Vielmehr ist unser sozialethisches Denken von einem substanziellen right to care und right not to care geprägt.54 Jede Person soll sich frei für oder auch gegen die Übernahme einer umfangreichen alltäglichen Pflegeverantwortung entscheiden können. Dafür bedarf es in beiden Fällen nicht nur formaler Rechte, sondern auch substanzieller Grundlagen zur Ausübung beider Rechte. Mit dem Vorschlag des Pflegendengeldes, dem Ausbau der ambulanten und teilstationären Pflegeinfrastruktur sowie dem Aufbau von Pflegestützpunkten plus, die u. a. Beratungs- und Koordinationsleistungen für häusliche Pflegesettings bereitstellen, ‚materialisieren‘ wir das right to care. Auch das right not to care (im Sinne des Rechtes, nicht in das alltägliche Pflegearrangement eingebunden zu sein) darf kein ‚substanzloses‘ Recht bleiben. Deshalb plädieren wir zugleich für den Ausbau attraktiver stationärer Strukturen, die pflegebedürftige Personen versorgen, bei denen An- bzw. Zugehörige die Pflege selbst nicht leisten können oder wollen.
Auch wenn wir in diesem Sinne eine zweigleisige Strategie der mittel- und längerfristigen Reform des deutschen Pflegesystems befürworten, beschränken wir uns in dem vorliegenden Policy Paper auf die Strukturen, die Menschen benötigen, die sich für die Pflege von Menschen, mit denen sie sich verbunden fühlen, entschieden haben oder in Zukunft entscheiden werden.
6 Fazit
Zur Unterstützung von Personen, die sich entscheiden, die alltägliche Versorgung und Pflege ihrer pflegebedürftigen An- bzw. Zugehörigen zu übernehmen, plädieren wir in dem vorliegenden Papier für ein steuerfinanziertes Pflegendengeld und für eine flächendeckend ausgebaute Pflegeinfrastruktur, welche die Pflegepersonen wirksam vor Überlastung schützt und die gute Versorgung von Pflegebedürftigen gewährleistet. Wir streben damit eine ei- genständige, existenzsichernde Absicherung der Pflegeperson, aber auch eine leistungsstarke Infrastruktur im Be- reich der Pflege und Teilhabe an, auf die bei Bedarf zurückgegriffen werden kann. Zudem soll jede pflegebedürftige Person (auch diejenige, die – z. B. wegen ausstehender Begutachtung durch den MD – noch nicht Leistungsempfängerin der Pflegeversicherung ist) und jede Pflegeperson in erreichbarer Nähe einen Pflegestützpunkt plus vorfinden können, der wirklich hilfreichen Beistand (vgl. Abschnitt 1) leistet. Der Stützpunkt soll den häuslichen Leistungsmix koordinieren und (gemeinsam mit dem MD) sowohl die pflegebedürftige Person und ihre Versorgungslage als auch die Pflegeperson und ihre physische wie psychische Beanspruchung im Blick behalten. Vor allem mit Hilfe eines Partnerschaftsbonus zum Pflegendengeld soll einer geschlechterungerechten Arbeitsteilung – dem Status quo der Geschlechterbeziehungen in Deutschland – entgegengewirkt werden.
Info: Dieses Arbeitspapier [Hagedorn, Jonas; Hänselmann, Eva; Emunds, Bernhard; Heimbach-Steins, Marianne (2022): Policy Paper: Doppelte Personenzentrierung – Leitidee für den Leistungsmix in der häuslichen Versorgung (ICS AP Nr. 17 / FAgsF Nr. 80)] entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Zukunftsfähige Altenpflege. Sozialethische Reflexionen zu Bedeutung und Organisation personenbezogener Dienstleistungen“. Alle neueren Frankfurter Arbeitspapiere zur gesellschaftsethischen und sozial- wissenschaftlichen Forschung sind abrufbar unter: https://nbi.sankt-georgen.de/forschung/frankfurter-arbeitspapiere
Endnoten
1 Vgl. Rothgang/Müller 2018, 147, 159 f.
2 In ihrer Forschung arbeitete Verena Rossow (2021, 157 ff.) die Gefährdung der eigenen Autonomie der (pflegenden) Angehörigen als zentralen Beweggrund für die Externalisierung bzw. Delegierung von Pflegearbeit an Dienstleister*innen heraus. Die existentiellen Care- und Pflegebedarfe der zu Pflegenden können nämlich so bestimmend werden, dass die Lebenspläne der Angehörigen und deren jeweilige persönliche Entfaltung ganz hinter die notwendige Pflegearbeit und Bedarfsdeckung zurückzutreten drohen. Auf den primären Autonomieverlust der Pflegebedürftigen folgt demnach ein sekundärer Autonomieverlust der Pflegepersonen bzw. ein drohender Autonomieverlust derjenigen, die sich – unabhängig von der konkreten Beteiligung an der Deckung der Bedarfe – als Angehörige für das Wohl ihrer Pflegebedürftigen verantwortlich fühlen. Die qualitative Forschung und die darauf aufbauende Argumentation von Rossow fokussieren vor allem Angehörige, die sich ihres drohenden Autonomieverlustes bewusst sind und dieser Gefahr begegnen, indem sie Pflegearbeit an Live-Ins delegieren oder andere Strategien der persönlichen Autonomiesicherung verfolgen. Dagegen ist unser Begriff des Pflegepersonenwohls enger gefasst. Er bezeichnet das Wohl der Hauptpflegepersonen, die relevante Bedarfe ihrer pflegebedürftigen Angehörigen selbst decken und für die die Bearbeitung ihres faktischen Autonomieverlustes zunächst sekundär ist. In Deutschland ist die Gruppe der pflegenden Angehörigen, die aus eigener Kraft Pflegeleistungen für ihre pflegebedürftigen Angehörigen erbringt, eine große und wachsende Gruppe.
3 Vgl. auch Klie et al. 2021, 15.
4 Dürig 1956, 125; Dürig 1958, 11.
5 Vgl. Böckenförde 2004/13, 409.
6 Dahinter steht ein bestimmtes Verständnis sozialer Grundrechte und, damit zusammenhängend, substantieller Bedingungen, die die Ausübung dieser Freiheit erst ermöglichen: „Soll rechtliche Freiheit zur realen Freiheit werden können, bedarf ihr Träger eines Grundanteils an den sozialen Lebensgütern; ja dieser Anteil an den sozialen Lebensgütern ist selbst ein Teil der Freiheit, weil er notwendige Voraussetzung ihrer Realisierung ist. Die sozialen Grundrechte zielen ihrer Idee nach auf die Gewährleistung dieses Anteils an den Lebensgütern: Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnung, Recht auf Bildung, Recht auf Versorgung im Krankheitsfall u. a. m. Sie sind, wie die Freiheitsrechte, staats- gerichtet, nur ist der Staat nicht mehr Adressat eines Nichteingriffsanspruchs, wie bei den Freiheitsrechten, sondern Adressat eines Verschaffungsanspruchs. Durch staatliche soziale Leistungen und Gewährleistungen soll die Freiheit real ermöglicht und gesichert werden. Die Idee sozialer Grundrechte […] ist der Ausdruck dafür, daß die Freiheit nicht mehr vor sozialen Einbindungen und Rechtsbeziehungen, als Bereich von Autarkie, sondern in solchen Einbindungen und Rechtsbeziehungen ihre Wirklichkeit hat und erhält.“ (Böckenförde 1975/92, 149)
7 Vgl. Moritz 2013; 2014; Graser 2017.
8 Vgl. Zenz 2015; 2017; 2018.
9 Koalitionsvertrag 2021, 102.
10 Vgl. Emunds et al. 2022, 103 f.
11 Pflegende Angehörige leisten insgesamt den größten Beitrag zur pflegerischen Versorgung in Deutschland.
12 Im Falle von Menschen mit Verantwortung für die „Pflege“ von Neugeborenen oder Kleinkindern wird eine besondere Belastung der Erziehungs- bzw. Sorgeberechtigten politisch und institutionell anerkannt (siehe „Frühe Hilfen“).
13 Vgl. Emunds et al. 2022, 64-70; Hagedorn 2022.
14 Es gibt bereits kleine Schritte in diese Richtung; s. z. B. das Familienpflegezeitgesetz (FPfZG), das die Anrechnung von Pflegephasen bei der Rentenberechnung regelt. Unser Vorschlag des Pflegendengeldes zielt darauf ab, die bestehenden Regelungen zu einer tragenden zweiten Säule auszubauen. Neben dem Pflegendengeld bedarf es bei Pflegepersonen, die nicht kranken- und pflegeversichert sind, auch der Übernahme dieser Absicherungen. Pflegepersonen sind vollumfänglich ins Sozialversicherungssystem zu integrieren.
15 Vgl. Unabhängiger Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf 2019, 45 f., 68 f.
16 Koalitionsvertrag 2021, 81.
17 Ein anderer bedenkenswerter Vorschlag zur eigenständigen Absicherung von Pflegepersonen besteht in der Etablierung von Beschäftigungsverhältnissen für pflegende Angehörige bei den Kommunen (vgl. wir pflegen! e.V. 2020, Realisierung z. B. in Dänemark). Die häusliche Pflegearbeit der Pflegepersonen wird dabei im Rahmen eines regulären Beschäftigungsverhältnisses der Pflegeperson mit der Kommune vergütet. Die Arbeit ist sozialversicherungspflichtig. Arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen gelten auch für Pflegepersonen.
18 Vgl. Auth et al. 2020, 198.
19 Mit unserem Vorschlag des Pflegendengeldes brechen wir mit vier ‚Systemrationalitäten‘: (a) Während das Pflegegeld an die pflegebedürftige Person ausgezahlt wird, die dieses dann z. B. an pflegende Angehörige weiterreichen kann, kommt das Pflegendengeld unmittelbar den Hauptpflegepersonen zugute und wird auch an diese ausgezahlt; das Pflegegeld entfällt; der pflegebedürftigen Person wird ein persönliches Sachleistungsbudget zur Verfügung gestellt. (b) Anders als das Pflegegeld, das sich mit jedem Pflegegrad erhöht, erhöht sich das ab PG 2 ausgezahlte Pflegendengeld nicht; während das Pflegendengeld konstant bleibt, erhöht sich jedoch das Sachleistungsbudget; entsprechend vergrößert sich der Kranz unterstützender Leistungen. (c) Anders als das unkonditionierte Pflegegeld, das auch zur Finanzierung von Live-In-Care verwendet wird, soll das Pflegendengeld ausschließlich von nicht-kommerziell Sorgenden in Anspruch genommen werden können. (d) Das Elterngeld ist als Lohnersatzleistung konzipiert; das Pflegendengeld soll hingegen ein einkommensunabhängiges Transfer- einkommen sein.
20 Allein der Umfang der Erwerbstätigkeit hätte in dem oben beschriebenen Sinne einen Einfluss.
21 Gegenüber dem Pflegegeld wären (bezogen auf die Zahl der Ende 2021 zuhause Gepflegten) mit Mehrkosten von etwa 40 bis 50 Mrd. Euro zu rechnen. Hinzu kämen dann noch einmal Mehrausgaben für Pflegesachleistungen. Da diese in unserem Vorschlag nicht mehr zu einer Reduktion der Geldleistung führen sollen, würden sie stärker in Anspruch genommen werden. Für eine Gesamtrechnung der Kosten wäre allerdings auch zu berücksichtigen, dass das Pflegendengeld bei denjenigen Pflegepersonen, die selbst oder deren Partner*in über andere nennenswerte Einnahmequellen verfügt, zu höheren Einkommensteuern führen wird.
22 Die Obergrenze, ab der kein Pflegendengeld mehr ausgezahlt wird, könnte bei einem bestimmten Prozentsatz (z. B. bei 150 %) des Median-Nettoäquivalenzeinkommens liegen. Dabei wird es (unterhalb dieser Obergrenze) einer Übergangszone des Einkommens bedürfen, in welcher der ausgezahlte Betrag bereits sukzessive abschmilzt. Weil das Pflegendengeld auf die eigenständige finanzielle Absicherung der Pflegeperson zielt, wäre bei den Berechnungen jeweils nur das Einkommen der jeweiligen Pflegeperson selbst zu berücksichtigen.
23 Dies impliziert eine Ausrichtung am Vollzeit-Erwerbsarbeitsregime. Es hat insofern einen diskriminierenden Effekt, als Personen, die vor Übernahme von Angehörigenpflege bereits unentgeltlicher Sorgearbeit nachgegangen sind und / oder arbeitslos waren, einer gesonderten Prüfung unterzogen werden. Zu rechtfertigen ist dieses Vorgehen damit, dass im Ausgang von der reduzierten Erwerbsarbeitszeit der bürokratische Aufwand klein gehalten wird und die Verwendung des Pflegendengeldes zur Finanzierung von Live-In-Care gegenüber einer Orientierung der Leistung an Pflegegradeinstufungen der zu versorgenden Angehörigen erschwert wird. Die Diskriminierung von Menschen, die unentgeltliche Care-Arbeit leisten, gegenüber Erwerbstätigen ist insgesamt weniger stark als im Falle einer Entgeltersatzleistung.
24 Das Pflegendengeld kann sukzessive von verschiedenen Pflegepersonen in Anspruch genommen werden; sollten zwei Familienangehörige zeitgleich pflegebedürftig werden, ist die Aufteilung auch zwischen mehreren (d.h.: mehr als zwei) Pflegepersonen (Geschwistern, Partner*innen, Kindern usw.) möglich.
25 Das ist u. E. notwendig, weil Live-In-Care (vor allem als Ersatz und nicht als Ergänzung von Angehörigenpflege) nicht selten zu einem für die*den Beschäftigte*n ausbeuterischen Pflegearrangement führt (vgl. Emunds 2016; Hagedorn 2020; Aulenbacher et al. 2021). Zur politischen Gestaltung dieses Felds vgl. Emunds et al. 2021.
26 „Um die Pflegebereitschaft und die Pflegefähigkeit im häuslichen Bereich zu erhalten und zu fördern, ist es notwendig, Hilfen auch für die Fälle vorzusehen, in denen die häusliche Pflege nicht oder nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann. Häusliche Pflege kann nur dann Vorrang vor stationärer Pflege haben, wenn für Pflegebedürftige und ihre Pflegepersonen Leistungen angeboten werden, die sie beispielsweise in Krisensituationen entlasten […]. Durch den Ausbau der Tagespflege kann zudem erreicht werden, daß rehabilitative Möglichkeiten voll ausgenutzt werden.“ (Bundestag 1993, Drucksache 12/5262, 114)
27 Die Zahl der in der Tagespflege versorgten Personen vervierfachte sich (4,4) auf 139.200 Klient*innen.
28 Bundestag 1993, Drucksache 12/5262, 115.
29 Zwischen 2013 und 2019 kam es sogar zu einem Rückgang um 14,1 %.
30 Vgl. z. B. die Ausführungsverordnung zum Hessischen Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen [HGBPAV] vom 29. November 2017.
31 Neben dem flächendeckenden Ausbau von Leistungsangeboten besteht eine weitere wichtige Aufgabe der Pflegepolitik darin, Anreize zu schaffen, dass Hauptpflegepersonen einen Pflegemix unter Einbezug der ambulanten Pflegedienste und anderer professioneller Dienstleister etablieren. Derzeit wird noch ein gegenteiliger Anreiz gesetzt, indem die Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen zu einer Reduzierung des Pflegegeldes führt (§§ 37, 38 SGB XI). Im Kontext der Hilfs- und Betreuungsdienste wären zudem zusätzliche Quellen einer staatlichen Kofinanzierung zu erschließen. Zu prüfen wäre bspw. die Verwendung der Mittel für die häusliche Pflegehilfe im Rahmen der Sozialhilfe; vgl. § 64b SGB XII, wo bereits auf § 45a SGB XI rekurriert wird.
32 Vgl. Koalitionsvertrag 2021, 55. Bislang können hauswirtschaftliche Dienstleistungen etwa im Rahmen der Entlastungsbeträge (aktuell 125,- Euro im Monat) in Anspruch genommen werden.
33 Zur testweisen Anwendung in Deutschland vgl. u. a. Meier-Gräwe 2021.
34 Ebenso auch Emunds et al. 2021, 10 f.; BMFSFJ 2017, 173; DGB 2020; Steffen 2015.
35 Interessante Modellprojekte in diesem Bereich sind das vom BMBF geförderte Projekt SoNaTe wie auch – spezifischer für das Matching von Hilfebedarfen mit ehrenamtlichen Hilfsangeboten – die Anpacker-App des Diözesancaritasverbands Osnabrück.
36 Unsere Konzeption der Pflegestützpunkte plus versucht die Potentiale zu heben, die in § 7 a und c SGB XI gesetzlich vorgesehen sind, und knüpft an die Intention an, die die Bund-Länder-AG zur Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege mit den „Modellkommunen Pflege“ verfolgte: die Bündelung und Erweiterung der Beratungsleistungen auf kommunaler Ebene. Die Pflegestützpunkte plus stellen eine Weiterentwicklung der Pflegestützpunkte bzw. kommunaler Beratungsstellen nach § 71 (3) SGB XII dar und unterscheiden sich von den Regionalen Pflegekompetenzzentren (Klie/Monzer 2018), weil sie sich u. a. auf Beratung zu und Koordination von Dienstleistungen beschränken. Die Regionalen Pflegekompetenzzentren sind dagegen als Versorgungszentren gedacht, in denen pflegerische und ärztliche Leistungen in Anspruch genommen und kulturelle Veranstaltungen besucht werden können. Die Seniorenbüros können mit ihrer stärkeren Ausrichtung auf Engagementförderung und allgemein Förderung der Lebensqualität im Alter auf kommunaler Ebene eine sinnvolle Ergänzung zu den Pflegestützpunkten plus bilden.
37 Die Finanzierung der Pflegestützpunkte plus soll (abweichend von den Finanzierungsstrukturen der Pflegestützpunkte) ohne eine Kofinanzierung durch die Kranken- bzw. Pflegekassen auskommen. Dadurch wird ein Interessenkonflikt in der Beratung und Begleitung u. a. von Pflegendengeldbezieher*innen durch die Pflegestützpunkte plus vermieden.
38 In Orientierung an dem seit 2017 geltenden, umfassenderen Pflegebedürftigkeitsbegriff berücksichtigen die Informationsgespräche auch die Felder Prävention / Förderung der Gesundheitskompetenz, (mobile) Rehabilitation und Edukation / Förderung der (Selbst-)Pflegekompetenz.
39 Ähnliche Vorschläge wurden in verschiedenen Bundesländern umgesetzt und begleitet durch das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) in den Projekten PräSenZ „Prävention für Senioren Zuhause“, PiQ „Präsenz im Quartier“ und Gemeindeschwester PLUS. 40 Die Begleitung der häuslichen Situation im Sinne einer Familiengesundheitspflege beginnt bei sich ankündigender Pflegebedürftigkeit und ist zunächst präventiv und gesundheitsfördernd ausgerichtet; entsprechend der doppelten Personenzentrierung werden hierbei die (potentiell) pflegende und pflegebedürftige Person gleichermaßen einbezogen. Die Situation wird über das Eintreten der Pflegebedürftigkeit hinaus für eine Dauer von höchstens neun Monaten kontinuierlich begleitet (dies orientiert sich an der Begleitung von [werdenden] Familien vor und nach der Geburt).
41 Die Teams der Pflegestützpunkte plus sollen interdisziplinär aufgestellt sein: Neben Personal mit pflegerischen Kompetenzen sollen Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen usw. dort tätig sein, um die verschiedenen Bedarfe von der Beratung bis hin zur Hilfe bei psychosozialen Belastungen, die ein Pflegesetting destabilisieren, decken zu können. Vorzugsweise kommen hier auch qualifizierte Pflegekräfte mit Weiterbildung zur Community Health Nurse (vgl. DBfK 2019; Burgi/Igl 2021a; Burgi/Igl 2021b) bzw. Gemeindeschwestern zum Einsatz, deren verstärkte Förderung im Koalitionsvertrag angekündigt ist. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels scheint diese Option zunächst ungünstig. Es ist aber zu bedenken, dass viele Fachkräfte, die nicht mehr ‚am Bett‘ arbeiten wollen, aus der Pflege in völlig andere Bereiche abwandern, wenn ihnen keine alternativen Entwicklungswege innerhalb des Pflegesystems eröffnet werden. Wir sehen eine pflegerische und beraterische Qualifikation als optimale Ausgangsbasis für die Tätigkeit in den Pflegestützpunkten plus an.
42 Auch Klie/Ranft/Szepan 2021 schlagen vor, die Beratungsangebote in den Bereichen der Altenhilfe, der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe in „Teilhabe- und Pflegestützpunkten“ (22) zu bündeln.
43 Auf der Kreis- oder Stadtebene soll der Verbund der Pflegestützpunkte plus multiprofessionell ausgerichtet sein. Bei Rechtsfragen sollten die Stützpunkte zudem mit einer Rechtsberatung kooperieren.
44 Hier greift der Pflegestützpunkt plus auf sein Netzwerk (vgl. Care-Management) zurück, das jeweils vor Ort aktive Pflegedienste, vollstationäre Pflege, Tages-/Nacht- und Kurzzeitpflege, komplementäre Dienste (Hausnotruf, Essen auf Rädern, Haushaltsdienstleistungen, Fuß- pflege), die Freiwilligenagentur bzw. ehrenamtliche Initiativen, psychosoziale Hilfe, Selbsthilfegruppen, Palliativnetze und Hospizdienste, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, gesetzliche Betreuer*innen, Hausmeisterdienste, Sanitätshäuser, niedergelassene Ärzt*innen, Krankenhäuser, den medizinischen, sozialmedizinischen und sozialpsychiatrischen Dienst sowie ggf. auch Handwerker für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen umfasst. Der Pflegestützpunkt plus zeigt dabei auch Möglichkeiten der (staatlichen) (Ko-)Finanzierung von Leistungen auf, z. B. über den Entlastungsbetrag, den Umwandlungsanspruch oder über die im Koalitionsvertrag (2021, 70) angekündigten Gut- scheine für Haushaltsdienstleistungen.
45 Diese Gespräche sind bei Bezug von Pflegendengeld verpflichtend; das Versäumen der Beratung wird analog zu den derzeit bei Pflege- geldbezug verpflichtenden Beratungen in der eigenen Häuslichkeit (§ 37 [3] SGB XI) mit Kürzung und / oder Beenden der Zahlungen durch die Pflegekasse sanktioniert.
46 Diesbezüglich fordern wir – vergleichbar mit Klie/Ranft/Szepan (2021, 8-9, 32) – eine Erweiterung des Aufgabenspektrums des MD: von der Feststellung der Pflegegrade hin zur regelmäßigen Erfassung der in häuslichen Pflegearrangements vorhandenen Potentiale und Risi- ken.
47 Vgl. Zenz 2018, 118.
48 Integrierte Sozialplanung meint hier eine Verschränkung der kommunalen Aufgaben der Altenhilfe-, Pflegestruktur- und Teilhabeplanung (vgl. Schäper et al. 2019). Die Beratung im Pflegestützpunkt plus bezieht Leistungen nach allen drei Rechtskreisen ein, daher kann dieser – basierend auf der Evaluation der einzelnen Fallbegleitungen – in optimaler Weise zu einer am Wohl der leistungsberechtigten Personen orientierten, sozialgesetzbücherübergreifenden Abstimmung des gesamten kommunalen Angebots für ältere und / oder hilfebedürftige Menschen und deren Angehörige beitragen.
49 Die Kassen sind u. a. deshalb einzubeziehen, weil sie durch die von ihnen vorgenommenen Abschlüsse von Versorgungsverträgen die Infrastruktur vor Ort faktisch gestalten.
50 In Nordrhein-Westfalen bieten die nach § 8 APG NRW gesetzlich vorgeschriebenen halbjährlichen kommunalen Konferenzen Alter und Pflege (mit verpflichtendem Bericht an das zuständige Landesministerium) ein Vorbild eines solchen Care-Managements. Allerdings fehlen dort wichtige Akteure, z. B. Ehrenamtsbörsen. Ähnliche verpflichtende Regelungen gibt es bisher nur in Rheinland-Pfalz (Pfundstein/Bemsch 2020, 156). Diese Konferenzen sollten mit der kommunalen Teilhabe- und (dann rechtlich verbindlich, nicht als Kann-Aufgabe zu gestalten- den) Altenhilfeplanung verzahnt werden.
51 Wie u. a. von Pfundstein/Bemsch 2020 in Abgrenzung von einer „öffentlichen Verwaltungsplanung“ (159) angemahnt.
52 Z. B. das Einfordern der Refinanzierung der Investitionskosten der Einrichtungen durch Landesmittel (wie es bei Einführung der Pflegeversicherung auch intendiert war).
53 Ein Beispiel für einen in der Vergangenheit sinnvollen Impuls für die Pflegepolitik auf Bundesebene wäre ein Verweis auf die lange verweigerte Refinanzierung von stundenweiser Verhinderungspflege.
54 Vgl. Emunds et al. 2021, 48-51. Unsere Position könnte man im Anschluss an Leitner allenfalls als optionalen Familialismus bezeichnen. Dieser ist sowohl durch familialisierende Maßnahmen in großem Umfang als auch durch ambitionierte defamilialisierende Maßnahmen charakterisiert, sodass einzig in Pflegesystemen, die einem optionalen Familialismus entsprechen, ein „Recht zu pflegen“ wie ein „Recht nicht zu pflegen“ substanziell gewährleistet sind (vgl. Leitner 2010; 2013).
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wir pflegen! e.V. (2020): Mehr Pflege wagen. Handlungsempfehlungen zur Weiterentwicklung der häuslichen pflegerischen Versorgung aus Sicht pflegender Angehöriger. Berlin.
Zenz, Gisela (2015): Gewalt in der familialen Pflege. Rechtsschutzdefizite und Rechtsschutzpotenziale. In: Gunter Geiger, Elmar Gurk, Markus Juch, Burkhard Kohn, Achim Eng und Kristin Klinzing (Hg.): Menschenrechte und Alter. Ein sozialpolitischer und gesellschaftlicher Diskurs. Opladen: Barbara Budrich, S. 179–192.
Zenz, Gisela (2017): Angebote und Interventionsmöglichkeiten des Sozialstaates in der häuslichen Pflege – effektiver Gewaltschutz als Qualitätsgradmesser. In: Indra Spiecker genannt Döhmann und Astrid Wallrabenstein (Hg.): Pflegequalität im Institutionenmix. Bei- träge zur Tagung des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges) vom 23. Juni 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Frankfurt a. M.: PL Academic Research (Schriften zur Gesundheitspolitik und zum Gesundheitsrecht – Schriftenreihe des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Band 22), S. 97–108.
Zenz, Gisela (2018): Gewaltschutz im Alter. Ethik und Recht vor neuen Herausforderungen. In: Marco Bonacker und Gunter Geiger (Hg.): Menschenrechte in der Pflege. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Freiheit und Sicherheit. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 107–121.