„Die Mahnungen der letzten Jahre haben nicht dazu beigetragen, in der Politik mutige Lösungen voranzubringen. Mutig heißt: eine grundlegende Reform unseres Gesundheitssystems ist überfällig. Die Bewältigung der pflegerischen Versorgung wird außerdem niemand alleine schaffen. Das wissen wir alle“, betonte Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerates e.V., zur Eröffnung des neunten Deutschen Pflegetages am 06.10.2022 vor rund 2.000 Teilnehmenden vor Ort in Berlin.
„Sollte die benötigte Unterstützung durch die Politik nicht kommen, wird pflegerische Versorgung in Zukunft nicht mehr ausreichend stattfinden. Was wird dann passieren, beispielsweise in den Kliniken? Operationen werden nicht durchgeführt werden können, Krebskranke auf ihre Behandlungen warten müssen und die Wartezeiten auf lebensqualitätsverbessernde Maßnahmen von Wochen zu Jahren wachsen – weil Pflegende fehlen. Und in der ambulanten Versorgung? Menschen könnten verhungern, verdursten und im besten Falle nur von sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden. Und wir werden unsere pflegebedürftigen Angehörigen in keinem Heim mehr unterbringen können, sondern zu Hause versorgen müssen – mit allen Konsequenzen. Pflege wird eine Frage von Arm und Reich sein.“
Christine Vogler
Die Profession Pflege, so Christine Vogler, stehe heute an einem Scheideweg: Richtung Aufbruch oder Abgrund. Der Deutsche Pflegerat e.V. (DPR) hat daher vier zentrale Forderungen an die Bundesregierung:
Pflege braucht mehr Befugnisse
Pflege ist ein professioneller Heilberuf und fußt auf einer fundierten Ausbildung. Das muss sich im Berufsalltag durch mehr Entscheidungsbefugnisse im Umgang mit Patient:innen widerspiegeln. Die Pflege kann derzeit ihre Kompetenz und Professionalität nur eingeschränkt ausüben. Hier liegt ein großes Potenzial brach. Ändert sich dies nicht, wird die eigentliche pflegerische Fachkompetenz der Bevölkerung systematisch verweigert. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Koalition ein Allgemeines Heilberufegesetz auf den Weg bringen will. Das ist der richtige Weg und er muss sofort und konsequent beschritten werden: Es geht darum Versorgungswege zu kürzen und alle Gesundheits- und Pflegeberufe zu befähigen, unabhängig und selbstständig Pflege und Therapie auszuüben. Das bedeutet: Ausgebildete
Pflegefachpersonen übernehmen die pflegerische Versorgung souverän, selbstständig und eigenverantwortlich. Sie können beispielsweise impfen, Heil- und Hilfsmittel, sowie definierte Medikamente bei Erkältungen, Schmerzen verschreiben oder empfehlen und Aufklärungsgespräche führen. Das ist international längst Standard. Das dürfen in Deutschland bisher nur Ärzt:innen.
Ein Allgemeines Heilberufegesetz würde die Pflege- und Therapieberufe befähigen, eine qualitativ bessere Versorgung zu sichern. Die Attraktivität und Wertschätzung des Berufes ließen sich steigern, da Zusammenarbeit auf Augenhöhe entsteht. „Ich fordere die Bundesregierung daher an dieser Stelle auf, den Koalitionsvertrag zu erfüllen und das Allgemeine Heilberufegesetz schnellstmöglich voranzubringen“, so die Präsidentin des DPR.
Pflege braucht einen Weg zur Mündigkeit.
Der unterschwellige Vorwurf der ‚Undankbarkeit‘ der Pflege angesichts kürzlich umgesetzter Reformen zeugt von der unmündigen Behandlung eines ganzen Berufsstandes. Aus dieser Unmündigkeit muss die Pflege entlassen werden. Dazu gehört, dass die Länder die Selbstverwaltung in der Pflege (Pflegekammern) zwingend anordnen müssen, damit nicht mehr über die Köpfe der Pflegenden hinweg entschieden wird.
„Bis heute herrscht eine Haltung in der Politik vor, der Pflege die gleichberechtigte strukturelle Stimme zu verweigern. Wir brauchen die Selbstverwaltung der Pflege in allen Bundesländern. Unabhängig von Personen- und Parteiüberzeugungen. Nur Pflege kennt sich letztlich mit Pflege aus – gebt uns endlich die Gesetze dazu und finanziert den Aufbau, damit nicht die Zerschlagung schon im Keimprozess entsteht.“
Christine Vogler
Pflege braucht bessere Arbeitsbedingungen.
Strukturschwächen in der Pflege müssen beseitigt werden, um einen Kollaps unseres Gesundheitssystems zu verhindern. Dazu zählt nicht nur eine bessere Bezahlung (wie durch das Tariftreuegesetz geregelt), sondern auch die faktische Verbesserung von Arbeitsbedingungen, Personalausstattung und Ausbildung. Diese und weitere strukturelle Probleme führen dazu, dass im Alltag für die Kernaufgaben der Pflege kaum Zeit bleibt und sich ein negatives Berufsbild verfestigt hat.
„Pflegende lernen, die Verletzungen des Gebotenen als Normalfall anzusehen. Sich ständig unter Niveau anpassen zu müssen und gespiegelt zu bekommen, dass angemessene pflegerische Arbeit im System keinen Stellenwert besitzt, ist zerstörend. Wir fordern deshalb entsprechende Nachbesserungen im Referentenentwurf des Krankenhauspflegeentlastungsgesetzes und Klarstellungen zu den vielen offenen Fragen.“
Christine Vogler
Pflege braucht bundeseinheitliche Bildungsstrukturen.
Es herrscht Bildungschaos in der Pflege: Absprachen zur Vereinheitlichung in den Bundesländern existieren nicht. Die Sonderwege der Abschlüsse im Pflegeberufegesetz führen
dazu, dass das Gesetz ausgehöhlt wird und primärqualifizierende Studiengänge sterben, bevor sie sich richtig entwickeln können. Der Bestand an Fakultäten, Studiengängen und Studierenden reicht bei Weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Die Bundesregierung ist hier in der Verantwortung, die Bildungsarchitektur in der Pflege gemeinsam mit dem Deutschen Pflegerat und den existierenden (und neu zu gründenden) Landespflegekammern zu gestalten.
Auch Jürgen Graalmann, Geschäftsführer und Organisator des Deutschen Pflegetages, unterstützt die Forderungen des Deutschen Pflegerates:
„Die Pandemie hat die gesellschaftliche Wertschätzung der Pflege gezeigt – das ist erfreulich, aber unzureichend. Aus Systemrelevanz muss eine nachhaltige Stärkung der Attraktivität des Berufsbildes Pflege erwachsen. Es darf doch uns als Gesellschaft nicht kalt lassen, dass jährlich über 55.000 Auszubildende den Pflegeberuf wählen, dann aber zu viele ihn frustriert frühzeitig wieder verlassen. Der Deutsche Pflegetag bietet nunmehr zum neunten Mal die Bühne für politische Forderungen der größten Berufsgruppe im Gesundheitswesen und eine konstruktive Debatte über Lösungswege.“