Etwa 40 Prozent aller demenzkranken Heimbewohner erhalten Neuroleptika. Viel geeigneter sind Methoden, die auf Medikamente verzichten. Das beweisen die Ergebnisse einer neuen kanadischen Metastudie.
163 Studien mit über 23.000 Demenzkranken: Diese riesige Datenmenge nahm die kanadische Forscherin Jennifer Watt und ihr Team von der Universität Toronto unter die Lupe. Die Wissenschaftler beruteilten pharmakologische und nicht-pharmakologischen Interventionen bei Menschen, die sich aggressiv und agitiert verhielten. Verglichen wurden die Maßnahmen mit Placebo und der üblichen Begleitung durch Betreuer.
Bewegung im Freien hat den stärksten Nutzen, danach folgen Musik- und Massagetherapien in Kombination sowie Massage- oder Berührungstherapien.
„Wir haben uns über die Ergebnisse der Meta-Studie sehr gefreut. Vergleichende Studien über nicht-medikamentöse und medikamentöse Therapien sind sonst kaum zu finden“
Susanna Saxl, Deutsche Alzheimer Gesellschaft.
„Das ist eine wichtige Studie, die weltweit Beachtung gefunden hat“, erklärt auch Richard Dodel, Chefarzt des Geriatriezentrums Haus Berge und Professor für Geriatrie der Universtiät Duisburg-Essen. Sich im Freien körperlich zu bewegen hilft sowohl bei dem Endpunkt Aggression und Agitation, also krankhafter Unruhe, als auch wenn nur die körperliche Aggression als Endpunkt gesetzt wird. „Aktivitäten im Freien sind natürlich sehr gut. Aber viele Einrichtungen, die mitten in der Stadt liegen, haben solche Möglichkeiten leider nicht“, sagt Richard Dodel, Experte der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Gegen verbale Aggression scheinen Aktivitäten im Freien genauso gut zu wirken wie Massage- und Berührungstherapien. Geht es um körperliche Agitation stehen Bewegung zusammen mit Lebensstilmodifikationen an erster Stelle. Nur bei verbaler Agitation bringen Maßnahmen wie Bewegung, Massage oder Musik merkwürdigerweise keine Vorteile.
Die kanadische Studie ist allerdings nicht ganz auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Denn in Kanada und in den USA werden zum Teil andere Medikamente verwendet, die hier nicht zugelassen sind. Ein weitere Schwäche: Die Demenztypen und die Schweregrade der Erkrankungen wurden nicht angegeben, so dass man Untergruppen bzw. Subgruppen nicht analysieren kann. Dies ist aber wichtig, um positive wie auch negative Effekte von Medikamenten herauszufiltern. „Es gibt Situationen, die Neuroleptika bzw. Psychopharmaka rechtfertigen. Wenn ein Betroffener zum Beispiel unter starken Angst- und Unruhezuständen leidet und andere Maßnahmen nicht helfen“, betont Susanna Saxl. „Es geht also nicht darum, Psychopharmaka in Bausch und Bogen zu verdammen. Aber leider verwenden sie viele Einrichtungen bzw. die verordnenden Ärzte ohne die notwendige Sorgfalt, vor allem wenn die Medikamente dauerhaft über Monate und Jahre zum Einsatz kommen“. Nach dem AOK-Pflegereport 2017 erhielten 40 Prozent der demenzkranken Bewohner von Pflegeheimen dauerhaft ein Neuroleptikum. Viel zu viel, denn die Tabletten verursachen erhebliche Nebenwirkungen wie Stürze, Schlaganfälle und Thrombosen. „Mindestens alle drei Monate muss die Einnahme überprüft werden“, sagt der Geriater Dodel. „In sehr vielen Fällen kann ein Medikament abgesetzt werden, weil es zu keinen Komplikationen oder Nebenwirkungen kommt, wenn eine Neuroleptika-Therapie abgesetzt wird“. Das zeigen eine Reihe von Studien. Die Neuroleptika Haloperidol und Risperidon schaden wahrscheinlich sogar mehr als das sie nutzen. Dies legt eine Übersichtsstudie der Stiftung Gesundheitswissen (SGW) nahe, die vor einigen Monaten veröffentlicht wurde. Die Experten untersuchten dabei elf randomisiert-kontrollierte Studien. So litten zum Beispiel Patienten bei Haloperidol unter mehr Nebenwirkungen, als diejenigen, die ein Scheinmedikament erhielten. Beobachtet wurden Händezittern, Gang- und Sprachstörungen und starke Muskelanspannungen. In der Praxis ist es aber alles andere als einfach, ein Medikament abzusetzen. „Einmal haben viele Angst, dass der Patient sich dann wieder verschlechtert. Zum anderen ist die Beurteilung schwierig, weil die emotionale Verfassung der Patienten von Tag zu Tag schwanken kann. Und schließlich werden der überwiegende Anteil der Pflegeheime von internistisch orientierten Kollegen versorgt. In diesen Situationen ist aber eine interdisziplinäre Behandlung zwischen Behandlungsteam und Ärzten mit neuropsychiatrischem Fachwissen notwendig“, erklärt Richard Dodel.
Die Leitlinien sagen es ja ziemlich klar: Zunächst sollen nicht-medikamentöse Behandlungen ausprobiert werden. Tabletten werden erst dann verordnet, wenn Massage und Co versagen oder wenn Menschen mit Alzheimer-Demenz sich oder andere gefährden können. Und ein sensibler und leitliniengerechter Umgang mit bewusstseinsdämpfenden Medikamenten ist auch in Zeiten von Personalknappheit möglich.
„Demenzstationen und Demenzzentren haben zum Beispiel eine deutlich niedrigere Rate bei Verschreibungen für Neuroleptika.“
Susanne Saxl
Deren Mitarbeiter kennen die Probleme von Wechselwirkungen und die Gefahren von Verschreibungskaskaden – wenn Nebenwirkungen nicht als solche erkannt werden, worauf hin das nächste Medikament verschrieben wird.
Dringend notwendig ist es aber auch, genauer festzulegen, in welchen Fällen Antipsychotika an- oder abgesetzt werden können. Dieses Thema ist bislang noch nicht ausreichend untersucht. Abhilfe schaffen können hier Studien wie zum Beispiel das Forschungsprojekt “Optimierung der Medikation bei Heimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz“, das zur Zeit im Zentrum für kognitive Störungen am Klinikum rechts der Isar in München läuft. Generell sollten Ärzte bei der Gabe von Psychopharmaka immer im Auge behalten: Start low – go slow. Also mit möglichst geringer Dosierung beginnen und nur sehr langsam steigern.
Weitere Informationen:
Comparative Efficacy of Interventions for Aggressive and Agitated Behaviors in Dementia: A Systematic Review and Network Meta-analysis. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31610547