Eine liebevolle Fürsorge und Begleitung in den letzten Stunden des Lebens sollte jedem Menschen zustehen. Ein Gespräch mit Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, über die Möglichkeiten und Grenzen der Palliativversorgung und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Herr Melching, wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in der Palliativversorgung, insbesondere in Alten- und Pflegeheimen?
Heiner Melching: Die Palliativmedizin und die Hospizversorgung allgemein hat sich in den letzten zehn Jahren extrem gut entwickelt. Es gab viel politische Unterstützung und wir haben ein Hospiz- und Palliativgesetz. Wenn ich sage, dass noch viel fehlt, jammere ich also schon auf relativ hohem Niveau. Die Situation in Pflege- und Altenheimen ist allerdings die größte Herausforderung für die nächsten Jahre.
Wir müssen die Hospiz- und Palliativversorgung endlich auch in die Heime bringen.
Da fehlt es aber bekanntlich an Personal, an qualifiziertem Personal, aber auch an der Finanzierung. Die Hospize werden ja überwiegend gut durch die Krankenkassen finanziert, ein Pflegeheim ist aber ausschließlich auf die Sätze der Pflegekasse angewiesen.
Könnte nicht die spezialisierte ambulante Palliativversorgung helfen, die der Hausarzt verordnet?
Heiner Melching: Unsere Ressourcen reichen hier leider nicht aus. Die sogenannte SAPV ist zwar ein Rechtsanspruch, den jeder hat und wobei die Krankenkasse die Kosten zahlt. Die Teams kümmern sich um die Menschen 24 Stunden lang, sie können auch in die Pflegeheime gehen. Schätzungsweise ist aber der Bedarf deutschlandweit nur ca. 60 bis 70 Prozent gedeckt. Abgesehen davon fehlt es in den Pflegeheimen selbst auch am Personal, das die Bewohner begleitet und zum Beispiel Gespräche führt. Immerhin können Pflegeeinrichtungen eigenständig nach dem SGB XI eine gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase anbieten, die von der Krankenkasse gezahlt wird. Alle Einrichtungen brauchen daher ein Palliativkonzept. Oft ist das Personal aber noch gar nicht über diese Möglichkeiten informiert.
Meist wird gleich der Rettungsdienst gerufen, wenn es jemandem schlecht geht.
Heiner Melching: Ja, und dann geht eine Maschinerie los, die oftmals keiner gewollt hat. Hier muss man viel früher entgegen steuern. Das ist auch ein Punkt, der bei der Diskussion um den vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Paragraphen 217 StGB deutlich geworden ist. Nämlich die Angst vor dem, was kommen kann: Wenn das und das passiert, dann brauche ich einen Rettungsanker. Aus unserer Sicht wäre der Rettungsanker aber nicht der assistierte Suizid, sondern die Hilfe der Palliativmedizin. Wir sorgen dafür, dass du keine Symptome hast, keine Luftnot, keine Angst, keine Schmerzen und wir kümmern uns auch um deine Familie. Diese Hilfen müssen viel stärker kommuniziert werden, auch in den Heimen.
Das Bundesverfassungsgerichts hat ja das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für nichtig erklärt. Schwächt das Urteil die Palliativmedizin?
Heiner Melching: In gewisser Weise. Im Grunde haben wir die Situation, die wir vor 2015 hatten. Der Gesetzgeber hat damals das Gesetz erlassen, nicht um die Selbstbestimmung der Menschen einzuschränken, sondern um sie vor Sterbehelfern zu schützen, die zum Teil sehr unseriös unterwegs waren. Das Verfassungsgericht hat jetzt aber sehr deutlich gemacht, dass es nicht möglich ist, Sterbehilfe auf eine bestimmte Personengruppe zu reduzieren.
Was macht Ihnen da Sorgen?
Heiner Melching: Wo soll hier die Grenze sein? Sterbehilfe steht jedem zu, dem gesunden 18-Jährigen genau so wie dem herzkranken 85-Jährigen. Natürlich ist es richtig, dass Suizid und auch die Beihilfe nicht verboten ist. Aber jetzt ist wieder die Sorge da, dass sich einige aus finanziellen oder auch aus persönlichen Gründen auf den Weg machen, Menschen „professionell“ zu helfen. Normalerweise gibt es eine gehörige Hemmschwelle einen Suizid zu begehen. Wenn aber jemand – überspitzt formuliert – sagt, ich traue mich nicht zu springen, und einer sagt, dann schubse ich dich von der Brücke runter, geht es leichter.
Es ist möglich, dass Menschen durch Sterbehelfer zu einem Suizid gebracht werden, die sich das vorher dreimal überlegt hätten. Wir wissen aus vielen Studien mit Palliativpatienten, dass geäußerte Sterbewünsche fast immer sehr ambivalent sind.
Es geht oft um das Gefühl, ob mein Leben noch einen Sinn hat. Es entsteht ein sozialer Druck. Ältere oder sozial Schwächere haben das Gefühl, in einer durchökonomisierten Welt nur noch ein Störfaktor zu sein, der durch hohe Heimkosten das Erbe auffrisst. Und wollen sich dann aus dem Leben verabschieden. Sterbewünsche bedeuten oft nicht, dass ich nicht mehr leben möchte, sondern dass ich so nicht mehr leben möchte. Da muss man genau hingucken.
Das Gericht hat in seiner Urteilsbegründung den Gesetzgeber aufgefordert, Regelungen festzulegen. Welche Grenzen sollten hier gezogen werden?
Heiner Melching: Das wird natürlich schwierig. Auf der einen Seite hat man ein Recht zum Suizid und das Recht, Hilfe in Anspruch zu nehmen und zwar von jedem, auch von Organisationen. Der Gesetzgeber sollte Kriterien für die Sterbehilfe-Organisationen festlegen, um eine bestimmte Qualifikation zu garantieren. Also zum Beispiel verpflichtende Beratungsgespräche über andere Möglichkeiten ein Leiden zu verringern oder dass ein Wunsch mit einem gewissen zeitlichen Abstand geäußert werden muss. Das fehlende Wissen wurde zum Beispiel auch deutlich bei einem der Kläger in dem Verfahren, der meinte, 25 Prozent der Schmerzen seien nicht in den Griff zu bekommen. Was faktisch nicht stimmt. Die allermeisten Schmerzen können zum Beispiel mit hohen Opiatgaben behandelt werden. Oder es wird gesagt, bei einer COPD wird man am Ende jämmerlich ersticken, was ebenfalls nicht der Realität entspricht.
Was wollen Sie tun, damit mehr Menschen informiert sind?
Heiner Melching: Eine Möglichkeit wäre eine groß angelegte Aufklärungskampagne. Niemand darf ja gegen seinen Willen am Leben erhalten werden. Nur wenige wissen zum Beispiel, dass jeder ärztliche und pflegerische Eingriff den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und jeder Arzt neben der Indikation auch das Einverständnis des Patienten für einen Eingriff braucht. Ansonsten darf er gar nichts machen, das gilt auch, wenn Patienten künstlich ernährt werden. Zweitens sollte eine Kampagne aufklären, was Palliativ- und Hospizversorgung alles leisten kann.
Ist Tod und Sterben immer noch ein Tabu?
Heiner Melching: Ich weiß nicht, ob es ein Tabu ist. Wir reden viel zu oft darüber, dass es ein Tabu ist. Aber es sind natürlich immer die anderen, die sterben. Meines Erachtens werden Gespräche darüber oft noch vermieden. Ich weiß von Heimbewohnern, die – wie man früher gesagt hat – ihr Haus bestellen , über ihre Beerdigung reden wollten etc. Aber die Angehörigen würden dann häufig sagen: Na komm schon, rede das doch nicht herbei. Im direkten Kontakt wird immer noch ein bisschen herumgeeiert.
Es ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft, Themen wie Ethik, Moral, Werte und Philosophie mehr in den Vordergrund zu stellen.
Nicht alles nur daran ausrichten, was die Wirtschaft braucht. Sondern was eine humane Gesellschaft braucht. Dazu gehört auch der Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden. Daher hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin auch die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen mit ins Leben gerufen. Die Idee ist, die Auseinandersetzung mit den existentiellen Phänomenen Sterben, Tod und Trauer in die Gesellschaft zu tragen, auch in die Schulen und die Kindergärten. Es gibt wunderbare Kinderbücher über Sterben und Tod, die aber in den Kindergärten meistens versteckt in einer Kiste ruhen. Die aber nur herausgeholt werden, wenn das schwere Thema kommt. So verliert es aber an Normalität. Wir erleben Tod kaum mehr im Alltag, weil er immer an Profis delegiert wird.