Herr Professor Esch, warum haben Sie ein Buch über dieses große Thema geschrieben?

Das waren zwei Gründe. Grundsätzlich gibt es schon lange ein ziemliches Auseinanderdriften, eine Polarität zwischen dem Beobachtbaren und dem, was eigentlich nötig wäre. In der Medizin, aber auch in den Bereichen Glaube, Spiritualität, Ökologie, Ökonomie, Klima. 

Im Gesundheitssystem haben wir ein exponentielles Wachstum im ersten und zweiten Gesundheitsmarkt, schon vor Corona, was viele negative Folgen hat. Und gleichzeitig sehnen sich die Menschen nach Ganzheitlichkeit, Naturheilkunde, Selbstheilung und -hilfe. Das heißt, es entsteht eine große Lücke zwischen dem was viele wollen und dem was tatsächlich passiert. 

Die Klimabewegung bringt zum Beispiel Menschen auf die Straße, siehe Fridays for Future, auf den anderen Seite haben wir den größten CO-2-Ausstoß der Geschichte. Dieses Paradoxon treibt mich schon lange um. Die Entkopplung von dem, was die Menschen wollen, und dem, was das System anbietet. 

Und der zweite Grund? 

Also, der konkrete Anlass war nicht Corona. Aber fast zur selben Zeit, als die ersten Fälle in Deutschland auftraten, begann ich das Buch zu schreiben. Und bekam das, was ich im Buch beschreiben wollte, sehr dramatisch vor Augen geführt. Gerade was die Pflege und die Medizin angeht. Die eigentlichen Ursachen vieler unserer Schwierigkeiten, hinsichtlich Infektionen, übertragbarer Krankheiten und auch  lebensstilbedingter Erkrankungen, die total in den Hintergrund gerückt sind, wurden uns in den Medien täglich vor Augen geführt. 

Was heißt „Mehr Nichts“? Müssten wir es nicht einfach nur anders machen, zum Beispiel Polikliniken mit ambulanter Versorgung auf dem Land aufbauen statt viele kleine Krankenhäuser?

Selbstverständlich soll der provokante Titel ein Anstoß für eine Debatte sein. 

Mit „Mehr Nichts“ ist natürlich nicht gemeint, dass wir keine Medizin mehr bräuchten. Wir brauchen mehr kontrolliertes und intelligentes Handeln. 

Es geht dabei auch um die Frage, inwieweit wir einen informierten, mündigen Bürger wollen, dem Gesundheit zugetraut wird. Ob wir in der Lage sind, zuzubilligen, dass nicht Ärzte alleine darüber entscheiden, was Gesundheit ist. Die Idee, dass alles objektivierbar sei, und Gesundheit nach Algorithmen, ärztlicherseits mit „ja oder nein“, Daumen rauf oder runter, zu entscheiden sei, das kann man innerhalb enger Grenzen machen. Aber das ist nur eine Sicht auf die Gesundheit der Menschen. Für mich ist es absolut notwendig, den inneren Arzt, die Befähigung der Menschen zur Gesundheit ernst zu nehmen. Wir würden dann viel stärker die Lebensstilthemen behandeln, das Kapitel habe ich Die wahren Treiber genannt, die tatsächlich unter dem Strich die meisten Todesfälle bei uns verursachen. Solange ich das nicht tue, werden Experten und Gesundheitsanbieter alleine über die Verteilung entscheiden, auch nach wirtschaftlichen Interessen – siehe überflüssige Knie- und Hüftoperationen – die nicht unbedingt die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen. Also mehr von dem einen, weniger von dem anderen, da haben Sie Recht. Aber mir geht es nicht so sehr um Umverteilung innerhalb des Systems. Nein, ich meine schon, wir dürfen das System insgesamt nicht so lassen. Wir müssen es ändern. Wir müssen die Rolle des Patienten tatsächlich stärken und anerkennen, dass Gesundheit unterschiedlich interpretiert werden kann. 

In welchen Bereichen des Gesundheitswesens sind Änderungen besonders wichtig?

In allen Bereichen, würde ich sagen. Aber Pharmakologie und Krankenhaus sind zuletzt besonders in den Fokus geraten. Es gibt ja das Gutachten vom Gesundheitsökonomen Reinhard Busse und anderen, von der Bertelsmann Stiftung publiziert, das zu dem Schluss kam, dass wir nur ein Drittel der Krankenhausbetten bräuchten. Nach einer hitzigen Debatte haben sie auf die Hälfte erhöht. Aber es bleibt im Raum, dass wir zu viele Krankenhausbetten haben, weil wir immer mehr von dem Gleichen machen. Dazu gehört auch der Begriff der Quartärprävention. Wir machen zu viele Untersuchungen und richten durch Überversorgung auch Schaden an. Sicher, in der Corona-Krise waren wir froh über die vorhandenen Krankenhauskapazitäten. Ich bin kein Systemkritiker im Sinne von „Wir brauchen ein völlig neues Gesundheitswesen“. Nein, wir wollen das, was gut ist, unbedingt bewahren. Die evidenzbasierten Verfahren müssen ausgebaut werden. Und das muss uns auch etwas kosten. Aber es gibt viel zu wenig Lenkungsmechanismen, um das, was sinnvoll ist, dorthin zu bringen, wo es gebraucht wird. Der zweite Bereich betrifft die Pharmakologie. Dieser Markt wird letztendlich zu teuer, vor allem hinsichtlich der sehr teuren Medikamente, die für einen Markt entwickelt werden, der angebotsgesteuert ist und in dem die Entwickler auch den Preis regulieren. 

Also muss der Staat mehr tun?

Genau. Aber ich bin in diesem Punkt nicht entschieden. Länder mit einem staatlich organisierten Gesundheitswesen wie zum Beispiel Großbritannien haben geringere Kosten und stehen in manchen Bereichen besser da, in anderen wiederum nicht. Nämlich dann, wenn Leistungen in Bereichen mit knappen Ressourcen schnell verteilt werden sollen. Dann gibt es lange Wartelisten und große Frustration. So etwas wollen wir ja auch nicht. 

Doch wir brauchen zumindest die Diskussion darüber, warum das Gesundheitswesen bei uns von staatlicher Daseinsvorsorge ausgenommen ist. Es gibt aber kein prinzipielles Argument, dass der Staat Gesundheit besser hinbekommen würde. 

Bildung kann er auch nicht besser. Es gibt Länder mit einem privat organisierten Gesundheitswesen, das hervorragend funktioniert. Privat ist also kein K.O. Kriterium. Aber wenn wir es weiterhin vorwiegend privat organisieren, müssen die Rahmenbedingungen viel stärker reguliert werden. 

Ein wichtiges Thema Ihres Buches ist die Gesundheitskompetenz. Wie sieht es damit aus?

Bei der entscheidenden Frage – traut sich ein Mensch Gesundheit wieder mehr zu – hat Corona einen entscheidenden Rückschritt verursacht. Die Grundidee von Gesundheitskompetenz ist ja, selbst einschätzen zu können, was er oder sie für die eigene Gesundheit braucht. Also: Sind wir ausreichend informiert? Darüber lässt sich streiten, wenn auch sicherlich die Verfügbarkeit von Informationen deutlich besser geworden ist. 

Dr. Google kann hier helfen.

Die Frage ist, ob die Menschen mit der Menge an Informationen umgehen können. Aber da bin ich gar nicht so kritisch wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen. Das sehe ich zum Beispiel deutlich an unserem Projekt „Open Notes“ hier in Witten. Wir geben den Patienten unserer Ambulanz alle Daten, die wir über sie haben – über ein Online-Patientenportal. 

Der zweite Teil, den es zwingend für Gesundheitskompetenz braucht, ist das Zutrauen. Sich im wahrsten Sinne bewusst sein, dass der innere Arzt wichtig ist. Dass dessen Intuition, Gefühle und Meinungen gefragt sind. Das haben wir total verlernt. Wir sind dem Expertentum gegenüber immer noch sehr gläubig. Die Gründe kann ich gut verstehen: Gesundheit ist mikroskopisch, unsichtbar, hat keinen Geruch, keinen Geschmack. Dafür habe ich keine Sinnesorgane. Daher bin ich auf Expertinnen angewiesen. Ein dritter Punkt noch: Bevor ich als Patientin in das Gesundheitswesen eingehe, informiere ich mich über alles Mögliche, lese über Naturheilkunde, studiere die Apothekenumschau usw. Aber sobald ich eine Praxis oder ein Krankenhaus betrete, gebe ich all das wie einen Mantel an der Garderobe ab. Selbst wenn ich den zweiten Schritt noch mitgehe, wird mir spätestens, wenn ich in das Gesundheitswesen komme, die Kompetenz aus der Hand genommen – oder ich gebe sie von vornhinein bereitwillig her.

Wie lässt sich das verhindern?

Es braucht Strukturen im Gesundheitswesen, die die salutogenetischen, gesundheitsförderlichen oder auch Resilienz Potenziale der Patienten adressieren, ihre Widerstandsfähigkeit. 

Hier in Witten machen wir das in der Universitätsambulanz für Integrative Gesundheitsversorgung und Naturheilkunde. Es gibt einen „Raum der Gesundheit“, wo wir in Kursen und Seminaren die Patientinnen in diesem Wissen bestärken und es mit ihnen erarbeiten. Mit diesem Ansatz sind wir in Deutschland bislang auf weiter Flur alleine, zumindest im ambulanten Bereich.

Was machen Sie noch anders? 

Bei unserem Open-Notes-Projekt geben wir Patienten freien Zugang zu allen Informationen. In Studien ist nachgewiesen, dass ein solches System sofort das Vertrauen in die eigene Kompetenz stärkt. In den USA ist dieses System übrigens seit dem 01. April verpflichtend für das ganze Gesundheitssystem. Diese Aktivierung der Patienten ist im Gesundheitswesen schon lange gewollt. Dafür wären enorme Mittel da, bei den Krankenkassen über 7 Euro pro Mitglied und Jahr. Die könnte ich abrufen. Gesundheitsförderndes Verhalten sollte eigentlich Kern eines jeden ärztlichen Gespräches sein. 

Wie in Witten?

Ganz genau. 

Unsere Therapeutinnen für Gesundheitsförderung arbeiten mit den Patienten, die Ärztinnen müssen das gar nicht alles selbst machen. Wir haben die Prozesse so organisiert, dass wir im Team arbeiten und viele Dinge auffangen, auch damit sie finanzierbar sind. 

Wir nutzen viele digitale Tools, Apps, die unsere Patienten bekommen und die wir teils selbst mitentwickelt haben. Eine davon ist Marktführer in Deutschland gewesen, die App 7Mind. Häufiger erzählen mir Ärzte, für so etwas hätten sie keine Zeit. Dann frage ich, wie vielen Patienten sie immer wieder erzählen müssten, dass sie ihr Verhalten ändern sollten. Ich höre Zahlen wie 50, 60 oder 70 Prozent. Dann empfehle ich den Kolleginnen, beispielsweise ein kurzes Video aufzunehmen, in dem sie in ihren Worten erzählen, was wichtig ist. Die Patienten bekommen denn einen Link und können es sich in Ruhe zu Hause anschauen. Man spart Zeit, aber die Message kommt trotzdem an. 

Eine Uniambulanz hat aber mehr Möglichkeiten als eine Hausarztpraxis.

Wir haben ein bisschen Freiräume, was das Ausprobieren und die Finanzierung betrifft. Wir sind in Forschungsverbünden und entwickeln Konzepte für Hausarztpraxen. Stellen Sie sich vor, wenn sich vier oder fünf Hausarztpraxen zusammenschließen und eine Therapeutin für Gesundheitsförderung einstellen. Ich könnte dann die Patientin zur Therapeutin schicken und die Themen delegieren, die mich Zeit kosten – oder die sie besser vermitteln kann als ich. Den einen oder anderen Besuch könnte ich delegieren. Und gleichzeitig die Patientin auf diese Weise ermuntern, selbst aktiv zu werden. 

Die Hoffnung ist, dass die Ambulanz zu einem Vorreiter wird?

Das wäre eine Idee. Und die andere ist der Anlass für das Buch – den Kulturwandel dahinter zu beleuchten und zu debattieren. Auch deswegen der provokante Titel „Mehr Nichts“. Was ist Gesundheit, wer ist verantwortlich für Gesundheit, was ist das Ziel von Medizin, wo kommen die meisten Krankheiten her, die meisten Todesfälle und was kann ich selbst verändern?

Foto: Copyright Marina Weigl

Buchtipp: Mehr Nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen, Goldmann 2021, 432 Seiten

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