Das Büro Jörg Lammert GEROTEKTEN ist als Architekturbüro der Kern eines deutschlandweiten Kompetenznetzwerkes, das sich seit 1997 auf die Beratung, die Planung und das Controlling von sozialen Aufgaben, insbesondere von bedarfs- und zukunftsorientierten Pflege-Immobilien, spezialisiert hat. Bei der Veranstaltungsreihe „Zukunft Gutes Wohnen 2020“ unterstreicht Herr Jörg Lammert in seinem Vortrag die enge Verbindung zwischen Vernetzung im Quartier und nachhaltigen Pflege-Immobilien.

Wir haben mit Herrn Jörg Lammert gesprochen, wie Quartiersentwicklung und soziale Planung von alters- und pflegegerechten Immobilien zusammengehören.

Herr Lammert, Sie bezeichnen sich als Gerotekten, ein ungewöhnlicher Begriff, was möchten Sie damit zum Ausdruck bringen?

Jörg Lammert: Ein Gerotekt ist ein Architekt, der sich in der Gerontologie, der Wissenschaft vom Altern des Menschen, auskennt. Das Planen und Bauen für Senioren ist ein Spezialgebiet, bei dem viele soziale und wirtschaftliche Aspekte neu durchdacht werden müssen. Diese Aspekte stehen im Vordergrund und die formale Sprache der Baukunst kommt im zweiten Schritt. Durch diese Herangehensweise an einen Entwurf entstehen neue Ansätze, die der Architektur neue Impulse verleihen.

In Ihrem Vortrag auf der Veranstaltungsreihe „Zukunft Gutes Wohnen 2020“ sprechen Sie von einer Vernetzung einzelner Bautypologien für Senioren im Quartier. Was genau verstehen Sie darunter?

Jörg Lammert: Wikipedia beschreibt das Quartier, das Stadtviertel oder den Kiez auch als „ein überschaubares, aus einigen Straßenzügen bestehendes soziales Bezugssystem“. Bezogen auf die späteren Lebensabschnitte eines Menschen bedeutet das, dass Menschen nicht durch ihre gebaute Umgebung im Austausch miteinander behindert werden dürfen. Vor allem bei verstärkter Pflegebedürftigkeit müssen sie die Möglichkeit haben, in ihrem gewohnten Umfeld bleiben zu können. Dafür braucht es verschiedene Bautypologien, die dicht beieinander gelegen, sich gegenseitig beleben.

Wie können sich (Pflege)-Wohnformen für Senioren und Quartiersentwicklung ergänzen, beziehungsweise wie können beide voneinander profitieren?

Jörg Lammert: Früher wurden Pflegeheime meist aus der Bautypologie von Krankenhäusern neben Friedhöfen entwickelt und gebaut. Heute denken viele unserer Bauherren auch an kleine Wohnungen, an Wohn- oder Hausgemeinschaften und Tagesbetreuungsangebote -je zentraler-je besser. Warum soll die Kita nicht in der Nähe sein, wo die Pflegerin ihr Kinder hinbringt und die Oma für die Kinder einen Apfel schält, während sie dem Kinderchor zuhört? Die sozialen Synergien sind vielfältig und komplex. Räume können Menschen verbinden, wohingegen Mauern trennen.

Das gesamte Pflegesegment befindet sich im Wandel. Hat die stationäre Pflegeeinrichtung noch eine Chance beziehungsweise eine Berechtigung?

Jörg Lammert: Eine so genannte „stationäre Pflege“ gibt es nur in Deutschland. Ob das so bleibt, kann ich nicht sagen. Was aber kommen muss, sind lebenswerte Häuser, die auch für stark pflegebedürftige Menschen eine gute Betreuung mit geringem Personaleinsatz ermöglichen. Diese Aufgabe gibt uns Gerotekten die demografische Entwicklung mit auf den Weg. Dabei gilt es, die zahlreichen sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen mit einem guten und durchdachten Grundriss zu erschließen.

Erfordern Ihrer Ansicht die gesellschaftlichen Veränderungen auch eine Berücksichtigung in den Ausbildungsinhalten von Architekten und Stadtplanern?

Jörg Lammert: Als Mitarbeiter an der BAUHAUS Universität Weimar war ich mit meinem Thema der Gebäudeplanung für Senioren immer auf ein breites Interesse bei Studenten und Kollegen gestoßen. Leider ist das Angebot an Forschung und Wissensvermittlung viel zu gering, abgesehen von einigen Leuchttürmen wie zum Beispiel dem Lehrstuhl für Sozial- und Gesundheitsbau an der TU Dresden oder dem Demenz Support Stuttgart, viel zu gering. Die Folge davon ist eine verstärkte Hinwendung der sozialen Bauherren zu Bauträgern, die sich intensiver dem Thema angenommen haben. So verlieren die Architekten derzeit ein großes Aufgabenfeld.

Welche Forderungen leiten sich aus einer sozialen Planung für die Politik ab?

Jörg Lammert: Die Gesetzgebung zum Bau vieler Pflegestrukturen ist vom Bund an die Länder abgegeben worden. Die Gesetze sind vielfältig. Überall gleich ist aber, dass der Planer die handelnden Behörden von Anfang an mitnehmen muss, um alle Spielräume im Sinne seiner Auftraggeber zu nutzen.

Gute Nachrichten kommen derzeit aus Bayern, wo die Förderrichtlinie des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege mit der „PflegesoNah“ großzügig den Bau einzelner Modellprojekte fördern wird. Es braucht diese Musterhäuser um Anregungen zu geben und positive Beispiele umzusetzen. Viele werden folgen.

Wie wirkt sich eine soziale Planung auf die Betriebswirtschaftlichkeit einer Einrichtung aus, beziehungsweise schlägt eine soziale Planung teurer zu Buche?

Jörg Lammert: Wir haben stationäre Pflegeinrichtungen mit 43 Quadratmeter je Bewohner gebaut, die dieselbe Lebensqualität boten, wie Häuser, die mit 65 Quadratmeter je Bewohner geplant wurden. Die Folgen einer solch expansiven Planung schlugen folgendermaßen zu Buche: 50 Prozent höhere Baukosten und 50 Prozent höhere Betriebskosten. Die Wege hätten sich um das Anderthalbfache verlängert und dabei gilt: Die Pflegerin, die läuft, pflegt nicht. Effizienz und Ästhetik liegen nicht in der Größe. Die Kunst ist es, passgenau zum Konzept unserer Auftraggeber zu planen. Dieses oben genannte Konzept mit 43 Quadratmetern ist von der Bauherrenschaft gerade wegen seiner Wirtschaftlichkeit mehrfach kopiert worden.

Bei Ihren Projekten spielt die „healing architecture“ eine bedeutende Rolle. Bitte skizzieren Sie kurz, was darunter zu verstehen ist.

Jörg Lammert: Das Konzept der „healing architecture“ wurde an der Universität Aalborg nach einer intensiven Auswertung von diversen wissenschaftlichen Studien zur Wirkung der Architektur auf die Gesundheit des Menschen entwickelt. So verlängern erwiesenermaßen Licht, Luft und Sonne, die durch ein Fenster kommen, das Leben der BewohnerInnen und reduzieren Medikamentengaben.

“Eine Wohnung kann einen Menschen erschlagen, wie eine Axt.“

Heinrich Zille

Wir wollen mit der „healing architecture“ Wohnungen entwickeln, die dem Organismus zuträglich sind.

Welche Bedeutung spielt das Quartier bei der „healing architecture“?

Jörg Lammert: Das soziale Geflecht verhindert Einsamkeit. Die Barrierefreiheit verhindert Ausgeschlossenheit. Das Miteinander und die Teilhabe können so Depressionen vorbeugen und Lebensqualität steigern. Eigentlich ist alles ganz einfach und doch verhindern in der Praxis tausend kleine Stolpersteine das Miteinander. Diese Stolpersteine möchte die „healing architecture“ ausräumen.

Herr Lammert, wie sieht Ihre perfekte Wohn- und Lebensform im Alter aus? 

Jörg Lammert: Das Altern ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Also wird auch die Wohn- und Lebensform veränderlich sein. Ich wünsche mir für meine Frau und mich, dass wir mit Freunden und Nachbarn im „gewohnten“ Umfeld bleiben können und dabei optimistisch und flexibel sind. Dabei weiß ich, dass auch stationäre Hausgemeinschaften „ein Segen“ sein können, wie ich letztens von einem Bewohner eines von uns geplanten Hauses erfahren habe.

Herr Lammert, vielen Dank für das Interview!

Weitere Information: www.gerotekten.de und https://wp.zukunftguteswohnen.de 

Foto Copyright: Jörg Lammert


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