Zuweilen braucht es sehr lange, bis ein unmissverständlicher Gesetzeswortlaut, in dem der Gesetzgeber seinen Willen deutlich formuliert hat, auch von den Pflegekassen und der Sozialgerichtsbarkeit im Lande verstanden wird. Zum Anspruch Pflegebedürftiger auf Wohngruppenzuschlag hat der 3. Senat des Bundessozialgerichts am 10.09.2020 ein Machtwort gesprochen. Die dortigen Richter entschieden in drei Revisionsverfahren über den Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag nach § 38 a SGB XI im Sinne der klagenden pflegebedürftigen Nutzerinnen und Nutzer von Wohngruppen. Alle Urteile von Landessozialgerichten, die diesen Zuschlag ablehnten, hoben sie auf (Aktenzeichen B 3 P 2/19 R, B 3 P 3/19 R, B 3 P 1/20 R) – wig berichtete über diese bundesweit bedeutsame Entscheidung.
Selbstbestimmungsrecht hat große Bedeutung
In der Presseerklärung des Gerichts klingt es so: „Der 3. Senat misst dem gesetzlichen Ziel der Leistung, ambulante Wohnformen pflegebedürftiger Menschen unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts zu fördern, hohe Bedeutung bei und hält einen strengen Maßstab für die Anforderungen an den Wohngruppenzuschlag nicht für gerechtfertigt“. Auf diese Entscheidung hat der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau lange warten müssen: „Das Bundessozialgericht hat den Pflegekassen endlich die rote Karte gezeigt. Dank des Urteils gehören die gekünstelten und verkomplizierenden Anforderungen, die dem Willen des Gesetzgebers – teilweise sogar explizit contra legem – widersprechen, in den Papierkorb.“
Gründe für Ablehnung
Grundsätzlich dürfen Pflegekassen den Wohngruppenzuschlag – entlang der Zielrichtung des § 38 a SGB XI – nur aus folgenden Gründen ablehnen:
– wenn es sich nicht im Rechtssinne um eine ambulant betreute Wohngruppe, sondern faktisch um eine (verkappte) vollstationäre Versorgungsform handelt,
– wenn die in der Wohngruppe erbrachten Leistungen nicht über diejenigen der häuslichen Pflege hinausgehen,
– wenn die Betroffenen nicht im Sinne einer “gemeinschaftlichen Wohnung” die Möglichkeit haben, Gemeinschaftseinrichtungen zu nutzen,
– wenn sie die Übernahme einzelner Aufgaben außerhalb der reinen Pflege nicht durch Dritte selbstbestimmt organisieren können.
Klare Worte zur „gemeinschaftlichen Beauftragung“
WIG begrüßt in diesem Zusammenhang insbesondere die klaren Worte des BSG zur „gemeinschaftlichen Beauftragung“ einer Person i. S. des § 38 a SGB XI. Hasenau: „Endlich ist klar, dass die ,gemeinschaftliche Beauftragung‘ einer Person zur Verrichtung der im Gesetz erwähnten und die Wohngruppe unterstützenden Tätigkeiten keine strengen Formvorgaben erfüllen muss. Sie kann durch nachträgliche Genehmigung erfolgen.“ Das BSG hat entschieden, dass es sich bei der beauftragten Person auch um mehrere Personen und ebenfalls um eine juristische Person handeln kann. Diese stellt dann wiederum durch namentlich benannte natürliche Personen regelmäßige Präsenz sicher, die für die Aufgabenerfüllung erforderlich ist.
Keine stationäre Vollversorgung
Auch schadet es in den Augen des Gerichts nicht, wenn die Beauftragten noch andere Dienstleistungen im Rahmen der pflegerischen Versorgung übernehmen. Dabei darf allerdings keine so enge Verbindung zur pflegerischen Versorgung bestehen, dass diese als stationäre Vollversorgung zu qualifizieren wäre. Diese Klarstellung war mehr als überfällig, sagt der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau. Er ruft betroffene Nutzerinnen und Nutzer von Wohngruppen, ihre Angehörigen und alle Dienste, die Leistungen in Wohngemeinschaften erbringen, auf, ihre Rechte auf eine Gewährung des Wohngruppenzuschusses nun umgehend geltend zu machen: „Lassen Sie sich nicht länger durch Kassenwillkür abschrecken, stellen Sie Anträge auf Wohngruppenzuschuss und betreiben Sie Widerspruchsverfahren!“
Urteil öffnet Türen
Wenngleich die Urteilsgründe noch nicht vorliegen und das BSG nicht abschließend urteilen konnte, weil noch Sachverhaltsfragen durch die Vorinstanzen, deren Urteile aufgehoben wurden, zu klären sind, so öffnen die Urteile jedoch Türen, sagt der wig-Justiziar Dr. Lutz H. Michel, selbst Prozessbevollmächtigter in § 38 a-Angelegenheiten: „Viele Verfahren liegen bei den Landessozialgerichten auf Eis, weil man die Urteile des BSG abwarten wollte. Diese Verfahren müssen jetzt zügig unter Anlegung der BSG-Rechtsprechung abgeschlossen werden. Die Kläger warten teilweise seit mehreren Jahren auf ihr Recht. Weiteres Zuwarten ist jetzt unzumutbar!“.