Professorin Dr. Caroline Günther ist Studiengangsleiterin am Fachbereich 1 Architektur, Bauingenieurwesen und Geomatik an der Frankfurt University of Applied Sciences, Studiengangsleiterin des Masterstudiengangs Barrierefreie Systeme – Planen und Bauen.

Zentrale Frage ist für sie, wie gebaute Umwelt sein muss, damit sie den Grundbedürfnissen Wohnen und Inklusion gerecht wird. 

Wir haben mit Frau Professorin Dr. Günther gesprochen, welche Maßstäbe sie an gutes Wohnen legt und wo sie Herausforderungen sieht.

Frau Professorin Günther, in Ihrem Vortrag auf der Veranstaltungsreihe „Zukunft Gutes Wohnen 2019“ sprechen Sie von „Emotionalen Räumen. Gefühltes Wohnen“. Welche Verbindung besteht für Sie zwischen Wohnen und Emotionen?

Die Art und Weise, wie wir einen Raum erleben, wird entscheidend durch unsere Biografie geprägt. Wir sammeln Erfahrungen beim Wohnen, die ein sinnliches Empfinden auslösen und Emotionen erwecken, die unmittelbar mit dem Raum verknüpft sind. Wenn wir uns an Räume unserer Kindheit erinnern, tauchen Gerüche oder Bilder auf, wie beispielsweise das Licht, der Ausblick oder die Weite eines Raums.

Diese Bilder der Erinnerung sind stets mit einer Emotion verbunden. Wohnen ist unweigerlich mit Emotionen verstrickt.

Dadurch erhält der Wohnraum eine besondere Bedeutung und ermöglicht, dass wir unser individuelles Wohn- und Raumverständnis herausbilden können.

Welche Forderungen leiten sich daraus für die Architektur und den Städtebau ab?

Architektur und Städtebau bedeuten immer einen Dialog zwischen Mensch und Raum. Insofern sind Emotionen stets damit verknüpft. Um Forderungen für die Architektur und den Städtebau diesbezüglich zu formulieren ist es notwendig, die emotionalen Zusammenhänge des jeweiligen Raums, seiner Bewohner oder Nutzer zu erkennen. Stadträume und öffentliche Gebäude sollen Teilhabe, Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein fördern. Dies geschieht, wenn sie ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, angenehme Orte schaffen, an denen Menschen sich gerne aufhalten und treffen sowie eine gute Orientierung bieten.

Welche Herausforderungen stellen sich bei der Umsetzung von emotionalen, fühlbaren Räumen?

Der emotionale Raum ist ein individueller Raum, der in den Entwürfen ohne Weiteres berücksichtigt werden kann. Beim Wohnen gilt es, sich mit den spezifischen Bedürfnissen und den Biografien der Bewohner auseinander zu setzen. Als Architekt/in ist es wichtig, eine fragende Position einzunehmen, um die besondere Bedeutung vom Wohnen in der jeweiligen Situation erkennen zu können. 

Welchen Einfluss hat die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung für die Wohnkultur?

Durch Faktoren, wie demografische Entwicklungen, Globalisierung, Flexibilisierung in der Arbeitswelt oder die Relevanz der Familie, verändern sich die individuellen Bedürfnisse und führen dazu, dass wir heute andere Lebenskonzepte haben als es noch vor 20 Jahren der Fall war. 

Unsere Wohnkultur passt sich dem an. Eine älter werdende Gesellschaft zum Beispiel benötigt andere Wohnkonzepte. Neue Formen des Zusammenlebens werden entstehen, beziehungsweise sich weiterentwickeln. Nach wie vor werden wir einen Ort suchen, an dem sich das individuelle Leben in Privatheit und Sicherheit entfalten kann. Allerdings wird die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung die Form des Zusammenlebens verändern. Das gemeinschaftliche Wohnen, zum Beispiel in Form von Mehrgenerationenprojekte, werden einen größeren Stellenwert erhalten.

Welchen Beitrag können private und öffentliche Räume zur gesellschaftlichen Teilhabe und Inklusion leisten?

Private und öffentliche Räume sollten Platz zum Leben bieten, also Lebensräume sein, die dem menschlichen Maß entsprechen. Sie sollten eine gute Atmosphäre erzeugen und ein Ort der Begegnung sein. Des Weiteren haben sie die Aufgabe, Orientierung und Selbständigkeit zu bieten, damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gelingen kann.  Grundvoraussetzung dafür ist, dass sie für alle zugänglich, nutzbar und sicher sind. 

Dabei bezieht sich Zugänglichkeit auf das Bewegen im öffentlichen Raum durch passende Wegeführung, schwellenfreie Übergänge und Zugänge, taktile Leitsysteme und Zugang zum öffentlichen Nahverkehr. Nutzbarkeit verbindet die Gebrauchstauglichkeit von Produkten und technischen Systemen, zum Beispiel von Schaltern oder Türöffnern, während Sicherheitsaspekte die räumlichen Anordnungen und Beleuchtungskonzepte zusammenbringen.  Orientierungshilfen bieten hier gut lesbare Beschilderung, Leitlinien, Farben und Kontraste.

Welche Bedeutung hat das Quartier, die Nachbarschaft für gutes Wohnen?

Eine gut funktionierende Nachbarschaft beinhaltet ein komplexes Netzwerk von räumlichen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die Auswirkungen auf das Wohnen hat. Beziehungen zum Wohnumfeld und innerhalb der Nachbarschaft fördern die Identifikation mit dem alltäglichen Umfeld. Infolgedessen kann ein Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens entstehen. Dieser emotionaler Raum überträgt sich auf das Wohnen, sodass das Quartier zum erweiterten Zuhause wird. 

Wie sieht für Sie das ideale Wohnprojekt aus?
In einem solchen Projekt verschmelzen Privatheit mit Gemeinschaft. Es bietet den Bewohnern eine Wohnstruktur, die Teilhabe ermöglicht und der sozialen Isolation entgegenwirkt.   

So lässt ein ideales Wohnprojekt einerseits individuelles, privates Leben in den eigenen vier Wänden zu und unterstützt damit Selbständigkeit und Zufriedenheit.

Andererseits fördert es das gemeinschaftliche Zusammenleben und die gegenseitige Unterstützung in eine generationsübergreifende Mischung von älteren Menschen, jungen Familien, Alleinerziehenden und Singles. 
Unterschiedliche Einrichtungen und Angebote, wie Gemeinschaftsräume, eine Kita oder eine Pflegeeinrichtung sollten Teil des Projektes sein. Und natürlich muss es barrierefrei, inklusiv und auch bezahlbar sein. Des Weiteren ist eine gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz wichtig, genauso wie eine intakte Nachbarschaft, an der alle Bewohner partizipieren können. 

Welchen Wunsch haben Sie an die Politik und den Gesetzgeber?

Das wäre zum einen die zügige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, indem die beschlossenen Regeln und Normen tatsächlich im öffentlichen und privaten Raum implementiert werden. Ein weiterer Wunsch ist, dass verstärkt fördernde Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung eingesetzt werden und zudem sollten neue, inklusive Wohnprojekte mehr Förderung erhalten.


Frau Professorin Günther, vielen Dank für das Interview!

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