Frau Prof. Dr. med. Steffi Riedel-Heller ist W3-Professorin für Sozialmedizin und Leiterin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Public Health: Sie forscht zur Epidemiologie psychischer Erkrankungen und widmet sich der Präventions- und Versorgungsforschung. Prof. Riedel-Heller ist u. a. DFG-Kollegiatin im Fachkollegium Neurowissenschaften und im Panel Klinische Studien. 2017 erhielt sie den hochdotierten Forschungspreis der Hans und Ilse Breuer Stiftung für ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Prävention kognitiver Störungen im Alter. Sie publizierte bisher über 715 medline-gelistete Arbeiten und ist Principal Investigator von großen bevölkerungsbezogenen Alterskohorten und multizentrischen Interventionsstudien.

Wie wurden die Teilnehmer für die Studie ausgewählt und wie lief sie ab?

Frau Prof. Dr. med. Steffi Riedel-Heller: Wenn wir etwas über Risiko- und Schutzfaktoren für Demenzen wissen wollen, dann kommen Langzeitstudien ins Spiel. Wissenschaftler nennen diese Studien auch Kohortenstudien. Dabei werden viele Personen über einen langen Zeitraum hinweg untersucht, und die Forschenden schauen, wer eine Demenz entwickelt und wie sich das Risikoprofil derer, die geistig fit bleiben von denen, die erkranken unterschiedet. So lernen wir etwas über die Risikofaktoren, wie zum Beispiel über den Einfluss von Schwerhörigkeit.

Unsere Analysen basieren sogar auf zwei Kohortenstudien, unserer AgeCoDe/AgeQualiDeStudie und der LEILA75+-Studie. Diese wurden für diese konkreten Auswertungen zusammengeführt. So konnten Daten von fast 3500 Senioren (n = 3497) mit einem mittleren Alter von fast 80 Jahren ausgewertet werden (Pabst et al. 2021).

Zu den einzelnen Studien: In die prospektive AgeCoDe/AgeQualiDe Kohorte wurden Anfang 2003 über Hausarztpraxen in sechs Studienzentren (Bonn, Düsseldorf, Hamburg, Leipzig, Mannheim und München) insgesamt 3.327 PatientInnen rekrutiert, die wiederholt und im Abstand von jeweils 1,5 Jahren bis 2016 untersucht wurden. Für die bevölkerungsbasierte LEILA75+ Kohorte wurde im Jahr 1997/98 aus dem Einwohnermelderegister sowie anteilig aus Alters- und Pflegeheimen der Stadt Leipzig eine Zufallsstichprobe von insgesamt 1.692 SeniorInnen gezogen, die neben der Baseline-Untersuchung zu fünf Erhebungszeitpunkten bis ins Jahr 2006 sowie in einem Langzeit-Follow-up im Jahr 2012 befragt wurden. Die Senioren beider Kohorten waren zu Studienbeginn mindestens 75 Jahre alt.

Sie wurden in ihrer Wohnung durch geschulte Psychologinnen und Psychologen und Ärztinnen und Ärzte befragt. Die Befragung umfasste klinische Interviews, einen umfangreichen Gedächtnistest und Fragen zu möglichen Einflussfaktoren wie zum Beispiel zur Schwerhörigkeit. 

Welche Zusammenhänge konnten konkret aufgedeckt werden?

Steffi Riedel-Heller: Insgesamt 30 Prozent der Teilnehmenden berichteten zu Studienbeginn eine

Hörminderung und insgesamt gut ein Viertel entwickelte im Studienverlauf eine Demenz.

Die Analyse zeigte, dass Schwerhörigkeit zu Studienbeginn ein signifikanter Risikofaktor für die langfristige Entwicklung demenzieller Erkrankungen ist.

Dieser Befund war unabhängig von einer Vielzahl weiterer bekannter Risikofaktoren für Demenz wie zum Beispiel Diabetes, Herzerkrankungen, Rauchen, starkem Alkoholkonsum und Depressionen. 

Wie hoch ist das Demenzrisiko bei Schwerhörigen (auch im Vergleich zu nicht Schwerhörigen)?

Steffi Riedel-Heller: Das Risiko, langfristig an einer Demenz zu erkranken, war für die Teilnehmenden mit einer Hörminderung zu Studienbeginn im Vergleich zu nicht Beeinträchtigten durchschnittlich um 16 Prozent erhöht. Anzumerken ist jedoch, dass wir nach Hörminderungen fragten und keine speziellen Hörtests im Labor machten. Die berichteten Hörminderungen in unserer Studie umfassten dabei die ganze Bandbreite von Beeinträchtigungen mit leichten bis zu schweren Ausprägungen.

Wir gehen davon aus, dass das Demenzrisiko von wirklich Schwerhörigen höher liegt. 

Welche Früherkennungsmaßnahmen gibt es?

Steffi Riedel-Heller: In Bezug auf das erhöhte Demenzrisiko durch Schwerhörigkeit hilft in erster Linie die kritische Wahrnehmung durch die Seniorinnen und Senioren und ihr Umfeld. Anzeichen einer Hörminderung sollten ernst genommen und möglichst frühzeitig beim Hausarzt angesprochen und ggf. durch einen Spezialisten oder Hörakustiker abgeklärt werden.

Uns geht es zudem darum, über Schwerhörigkeit als Risikofaktor für eine Demenz zu informieren und im Zweifelsfalle zur Abklärung zu raten. 

Was fördert eine Demenz bei Schwerhörigkeit?

Steffi Riedel-Heller: Die funktionalen, neuropsychologischen Zusammenhänge zwischen Schwerhörigkeit und Demenz sind nicht abschließend geklärt und Gegenstand aktueller Forschung. Neuere Studien vermuten einen Zusammenhang zwischen der kognitiven Verarbeitung von Hörsignalen im medialen Temporallappen des Gehirns und der Pathologie einer Demenz (Griffiths et al., 2020). Unabhängig von physiologischen Ursachen ist jedoch zu vermuten, dass eine fortschreitende Hörminderung mit weiteren Risikofaktoren und Belastungen einhergeht, die sich gegenseitig bedingen und damit eine Demenzentwicklung befördern können.

Dazu gehören u. a. das Reduzieren oder Meiden von Sozialkontakten, das Einschränken oder die Aufgabe von geistigen Aktivitäten oder Hobbies und die Entwicklung depressiver Symptome.

Und welche Präventionsmaßnahmen empfehlen Sie bzw. was kann das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, reduzieren?

Steffi Riedel-Heller: Wir wissen, dass etwa 40 Prozent aller Demenzfälle auf vermeidbare Risikofaktoren zurückgehen (Livingston et al. 2020). Individuelle und frühzeitige Prävention spielt damit eine wesentliche Rolle. Risikofaktoren wie zum Beispiel Bewegungsmangel, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum und Übergewicht besonders im mittleren Lebensalter sollten vermieden und chronische Erkrankungen wie z. B. Bluthochdruck, Diabetes und auch die Schwerhörigkeit behandelt werden. Um einer Demenz zusätzlich vorzubeugen, ist es wichtig, auf eine gesunde Ernährung, geistige Aktivität und ausreichend soziale Kontakte zu achten. 

Demenzprävention ist möglich!

Aktuell laufen weltweit große qualitativ hochwertige Studien, die Programme für Risikopersonen untersuchen, die mehrere Risikofaktoren gleichzeitig adressieren. Wir nennen das Multikomponenten-Interventionen. Die erste deutsche Studie dieser Art ist die AgeWell.de-Studie, deren Ergebnisse wir gerade mit großer Spannung erwarten (Zülke et al. 2019). 

Wenn wir an Prävention denken, sollten wir nicht nur auf den Einzelnen und sein Verhalten schauen, sondern größer Denken – ist unsere Umwelt präventionsfreundlich? Gibt es zum Beispiel gute Möglichkeiten zur Bewegung oder zur sozialen Interaktion? Präventionsforscher nennen das Verhältnisprävention. Diese steckt in Bezug auf die Demenzprävention erst in den Kinderschuhen. 

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Foto: © Stefan Straube, UKL

Literaturnachweise:

Pabst, A./Bär, J./Röhr, S./Löbner, M./Kleineidam, L./Heser, K./Hajek, A./van der Leeden, C./Wiese, B./Maier, W./Angermeyer, M. C/Scherer, M./Wagner, M./König, H. H./Riedel-Heller, S. G., Do self-reported hearing and visual impairments predict longitudinal dementia in older adults?, J. Am. Geriatr. Soc., 2021 Jun;69(6):1519-1528. doi: 10.1111/jgs.17074. Epub 2021 Mar. 18. PMID:33734430.

Livingston, G./Huntley, J./Sommerlad, A./Ames, D./Ballard, C./Banerjee, S./Brayne, C./Burns A./Cohen-Mansfield, J./Cooper, C./Costafreda, S. G./Dias, A./Fox, N./Gitlin, L. N./Howard, R./Kales, H. C./Kivimäki, M./Larson, E. B./Ogunniyi, A./Orgeta, V./Ritchie, K./Rockwood, K./Sampson, E. L./Samus, Q./Schneider, L. S./Selbæk, G./Teri, L./Mukadam, N., Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission, Lancet, 2020 Aug. 8;396(10248):413-446. 

Griffiths, T. D./Lad, M./Kumar, S./Holmes, E./McMurray, B./Maguire, E. A./Billig, A. J./Sedley, W., How can hearing loss cause dementia?, Neuron, 2020 Nov. 11;108(3):401-412. doi: 10.1016/j.neuron.2020.08.003. Epub 2020 Aug. 31. PMID: 32871106; PMCID: PMC7664986.

Zülke, A./Luck, T./Pabst, A./Hoffmann, W./Thyrian, J. R./Gensichen, J./Kaduszkiewicz, H./König, H. H./Haefeli, W. E./Czock, D./Wiese, B./Frese, T./Röhr, S./Riedel-Heller, S. G., AgeWell.de – study protocol of a pragmatic multi-center cluster-randomized controlled prevention trial against cognitive decline in older primary care patients, BMC Geriatr, 2019 Aug. 1;19(1):203. 

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