Designexperte Dr. Oliver Herwig arbeitet als Journalist und Moderator in München. Er unterrichtet Designtheorie an der Kunstuniversität Linz, moderiert Tagungen und Podiumsgespräche. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er vielfach ausgezeichnet.
Healing Architecture: Was macht die Perspektive auf die gebaute Umwelt gerade jetzt so relevant – auch im Hinblick auf gesellschaftliche Herausforderungen wie den demografischen Wandel und psychische/physische Gesundheit?
Dr. Oliver Herwig: Weil wir uns schlecht gestaltete Arztpraxen und Krankenhäuser nicht mehr leisten können. Die Gleichung ist brutal einfach: Investitionen in Gestaltung zahlen sich aus.
Healing Architecture ist keine esoterische Spielerei für Intensivstationen. Sie ist die überfällige Erkenntnis, dass Architektur selbst ein therapeutisches Instrument darstellt.
Sehen wir uns doch einmal um: Burnout und Stressfolgeerkrankungen sind unter Ärzten und Klinikpersonal weit verbreitet, und aus dem Pflegenotstand kommen wir nicht mehr raus. Eine alternde Gesellschaft kennt zudem mehr Arztbesuche und Klinikaufenthalte. Ob wir es wollen oder nicht: Wir sind wohl dazu verdammt, mehr Lebenszeit denn je in medizinischen Einrichtungen zu verbringen, als Patienten, Pflegekräfte oder, nicht zu vergessen: als Besucher.
Das hat zur Folge, …
Dr. Oliver Herwig: … dass wir die Diskussion um Krankenkosten neu aufrollen sollten. „Healing Architecture“ folgt dem gesunden Menschenverstand. Während wir bislang Milliarden in Apparatemedizin und Medikamentenforschung pumpten, haben wir vergessen, dass der Raum selbst heilen kann. Ein Krankenhaus, das mit endlosen Korridoren und „klinischer“ Helligkeit Stress hervorruft, arbeitet der Heilung entgegen.
Denn jeder Tag, den Patienten früher genesen, ist ein gewonnener Tag. Das spart zudem Geld. Und zwar gesamtgesellschaftlich.
Der demografische Wandel verschärft das Problem noch!
Dr. Oliver Herwig: In der Tat. Es geht ja nicht nur um Patienten, sondern um Ärzte und Pflegekräfte, die oft am Rand der psychischen und physischen Erschöpfung Großartiges leisten. Jede vermiedene Kündigung wegen Burnout zählt. Dabei rollt die Generation Senioren, zu der auch ich zähle, erst an: „Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft werden in den kommenden zwölf Jahren 19,5 Millionen ältere Menschen aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand wechseln, aber nur 12,5 Millionen jüngere Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten. Das Institut warnt vor verschärften Verteilungskonflikten zwischen Jung und Alt. Der höhere Anteil der Ruheständler an der Zahl der Wahlberechtigten droht jedoch eine den Wandel vorantreibende Politik zu erschweren“, schreibt Gerald Braunberger in der FAS vom 12. Oktober. 2050 wird jeder Dritte über Sechzig sein.
Diese Generation wird nicht mehr akzeptieren, was ihre Großeltern hinnehmen mussten: sterile Verwahranstalten. Sie wird Würde einfordern, Autonomie und Lebensqualität. „Healing Architecture“ antwortet darauf.
Das Buch vereint fast drei Dutzend Projekte, von Augenarztpraxen bis hin zu ganzen Kliniken. Was eint diese Projekte jenseits ihrer individuellen Gestaltungslösungen?
Dr. Oliver Herwig: Die Einsicht, dass Heilung kein passiver Vorgang ist und die viel beschworene Ganzheitlichkeit eben mehr als ein Modewort. Diese Projekte zeigen Raum als aktiven Mitspieler im Genesungsprozess.
Sie stellen eine ganz einfache Frage: Was brauchen wir wirklich? Was tut uns gut? Und was reduziert Stress, fördert Orientierung, ermöglicht Kontrolle und stärkt soziale Bindungen?
Healing Architecture basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Umweltfaktoren, die das Wohlbefinden und die Genesung fördern. Welche dieser wissenschaftlichen Einsichten halten Sie für die zentralsten Treiber künftiger Gestaltungsentscheidungen?
Dr. Oliver Herwig: Das ist eher eine Frage für Spezialisten mit medizinischem oder psychologischem Hintergrund. Aus meiner Perspektive als Journalist und Designspezialist ist entscheidend, dass Architektur nicht Ausdruck gestalterischer Willkür ist, sondern auf Evidenz beruht. Studien belegen: Lärm erhöht Blutdruck und Herzfrequenz, während Tageslicht die Gabe von Schmerzmitteln senken kann und Ausblicke ins Grüne Genesungszeiten verkürzen können.
Die Projekte im Buch übersetzen solche Erkenntnisse in Raumkonzepte. Sie alle teilen einen radikalen Perspektivwechsel, weg vom institutionellen Effizienzdenken hin zum menschenzentrierten Design.
So entsteht eine menschenwürdige Umgebung für Momente, in denen wir sie am dringendsten brauchen.
Geht es nicht etwas genauer?
Dr. Oliver Herwig: Ja, klar! Die Trias aus Licht, Akustik und biophilem Design ist entscheidend. Taktgeber der Biologie ist schließlich das Licht, zirkadiane Rhythmen steuern unseren Hormonhaushalt und beinflussen Immunsystem und Heilungsprozesse. Patienten in Räumen mit hohem Tageslichtanteil genesen schneller, schlafen besser und brauchen weniger Schmerzmittel. Wenn Neubauten also dynamische Lichtkonzepte nutzen und natürliche Tagesverläufe aufgreifen, steht das im Einklang mit evidenzbasierter Medizin.
Auch Akustik ist nicht zu unterschätzen. Lärm verursacht Stress, mit Folgen für Körper und Geist: Ein erhöhter Cortisolspiegel und schlechter Schlaf sind der Genesung nicht eben förderlich. Und für alle, die im Krankenhaus arbeiten, heißt Dauerlärm ebenfalls Stress. Erhöhte Fehlerquoten aber können wir uns gar nicht leisten.
Moderne „Healing Architecture“ beginnt daher bei klugen Grundrissen, setzt auf Rückzugsmöglichkeiten und räumliche Staffelung. Und nutzt schallabsorbierende Materialien.
Biophiles Design wiederum setzt auf die Kraft der Natur: Der Blick ins Grüne senkt nachweislich Stress, und Pflanzen verbessern Luftqualität und Wohlbefinden. „Healing Architecture“ vertraut auf natürliche Materialien und schafft Innenhöfe, Dachgärten und großzügige Fensterflächen.
Welche zentralen Prinzipien der Healing Architecture lassen sich in sehr unterschiedlichen Kontexten – vom öffentlichen Krankenhausbereich bis hin zum privaten Wohnen – anwenden?
Dr. Oliver Herwig: Zunächst: Die Stärke guter Architektur zeigt sich darin, eine spezifische Antwort auf den jeweiligen Ort zu finden, im Austausch mit allen Nutzenden und mit Blick auf Menschen. Gute Architektur schafft eine Balance zwischen Reizüberflutung und Deprivation. Das gilt universell, vom Warte- bis zum Wohnzimmer. Daraus lassen sich fünf generelle Prinzipien ableiten: Das erste, zentrale Prinzip vereint Orientierung und Lesbarkeit:
Räume sollten intuitiv erfassbar sein. Also klare Wege und eindeutige Hierarchien – und zwar in Krankenhauslabyrinthen ebenso wie in Wohnkomplexen. Auf der gleichen Ebene liegen Kontrolle und Selbstwirksamkeit.
Menschen möchten Räume nicht nur passiv erleben, sondern all das steuern, was ihr Wohlempfinden ausmacht: heizen, lüften oder das Licht dimmen. Und weil es um Privatsphäre geht, braucht es im Krankenhaus steuerbare Beleuchtung und Klimatisierung. Dazu Möglichkeiten, sich zurückzuziehen. Für den Wohnbau kommen flexible Grundrisse hinzu. Ein drittes Prinzip zielt auf eine gute soziale Einbindung der Menschen. Doch Vorsicht: Räume sollten Gemeinschaft ermöglichen, nicht erzwingen. „Healing Architecture“ fördert und schafft einladende Orte der Begegnung. Schließlich geht es um unseren Kontakt zur Natur. Ob Klinik oder Einfamilienhaus: Wir lieben Tageslicht, Blicke ins Grüne und schätzen natürliche Materialien, und zwar unabhängig vom Kontext.
Und wie verändern diese Prinzipien unser Verständnis von einer „heilsamen Umgebung”?
Dr. Oliver Herwig: Sie demokratisieren das Konzept. Heilsame Umgebungen sind nicht mehr das Privileg von Luxusimmobilien. Sie sind Teil einer guten, nun wahrhaft ganzheitlichen Gestaltung. Das elegante, willkommen heißende Foyer kann nur ein Auftakt sein, den es durch das ganze Haus einzulösen gilt. Heilsam ist nur das Ganze vom Eingangsbereich bis zum Personalraum, vom Patientenzimmer bis zum Garten. „Healing Architecture“ schafft ein ganzheitlicheres Raumverständnis“, und das verändert auch Begriffe:
Heilung steht plötzlich für mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit, sie stärkt unsere Autonomie und schafft Lebensqualität. Eine heilsame Umgebung fördert idealerweise Wohlbefinden. Und nun wird es politisch: Lieblose Gestaltung ist nicht mehr nur ein ästhetisches Versagen, sondern eine gesundheitspolitische Bankrotterklärung.
Die Prinzipien der „Healing Architecture“ machen deutlich: Wir bauen entweder für Menschen oder gegen sie.
Welche Rolle spielt die ästhetische und räumliche Qualität der Umgebung aus theoretischer Sicht für Patienten und Patientinnen, Besucher und Besucherinnen und Mitarbeitende? Welche Mechanismen erklären die positiven Wirkungen?
Dr. Oliver Herwig:
Ästhetische Qualität ist kein kultureller Luxus, sondern Notwendigkeit.
Unser Gehirn reagiert auf räumliche Reize mit messbaren neurochemischen Prozessen. Für Patienten heißt das: Der Blick ins Grüne aktiviert das parasympathische System, senkt also Blutdruck und Puls. Bei harmonischen Proportionen und natürlichen Materialien können alle Energie für die Heilung lenken. Auch für Besucher stellen Krankenhausbesuche oft extreme Situationen dar: Wie geht es der Oma, wie dem Sohn? Gäste tragen oft eine ähnlich hohe emotionale Last wie Patienten. Daher werden räumliche Qualitäten so wichtig: Wartebereiche mit Ausblicken helfen und Rückzugsorte gegen auch Trauer Raum.
Für Mitarbeitende geht es um den Ort, an dem sie die meiste Zeit des Tages (oder der Nacht) verbringen. Es sollte selbstverständlich sein, dass hier Lärm, qualitätsloses Licht und abgenutzte Möbel keinen Platz haben. Räumliche Qualität sorgt zugleich für Arbeitssicherheit. Sie ist so Grundlage funktionierender Gesundheitssysteme, die Menschen im Blick haben.
Wohin entwickelt sich die Diskussion um Healing Architecture aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren? Wird sie zu einem Standard der Planung werden – oder bleibt sie eine besondere Nische?
Dr. Oliver Herwig: Sie wird Standard, aber nicht überall und nicht sofort, denn Vorschriften, Verwaltung und Gewohnheiten sind Supertanker, die nur ganz langsam wenden. Aber der Druck steigt. Healing Architecture wird kommen, weil wir sie brauchen. Die Pionierarbeit in Premiumsegmenten haben wir schon hinter uns. Leuchtturmprojekte zeigen, dass es auch anders geht und schaffen Begehrlichkeiten. Längst stecken wir inmitten der Professionalisierung und Zertifizierung. Wenn detaillierte „Healing Architecture“-Planungsrichtlinien entstehen und Zertifizierungssysteme (analog zu denen der DGNB für Nachhaltigkeit), erhalten Bauherren Orientierung. Diese sollte aber nicht dazu führen, sie als zusätzliche Checkliste einfach abzuhaken. Den eigentlichen Hebel dürften Versicherungen und Kostenträger in der Hand haben, wenn sie heilungsfördernde Gestaltung einfordern, die nachweislich Kosten spart. Bis „Healing Architecture“-Prinzipien schließlich in Bauordnungen einfließen, gilt es, diesen wunderbaren Ansatz vor dem enormen Kostendruck zu bewahren, unter dem das Gesundheitssystem steht.
Billiglösungen von der Stange können wir uns aber nicht länger leisten, sie kommen uns teuer zu stehen. „Healing Architecture“ ist ein große Chance, die wir ergreifen sollten.
Besten Dank für Ihre ausführlichen Antworten!
