Prof. Dr. Heinz Rothgang ist Professor für Gesundheitsökonomie und seit 2006 Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung des SOCIUM Forschungszentrums Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Er ist Mitglied der Beiräte des BMG zur Überprüfung sowie zur Konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs; www.socium.uni-bremen.de.

Seit 2015 traten Schrittweise die Pflegestärkungsgesetze I, II und III in Kraft. Was sind aus Ihrer Sicht die bis dato wichtigsten Errungenschaften der Pflegereform?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Kern der Reform ist die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des dazugehörigen neuen Begutachtungsinstruments, das die Pflegebedürftigkeit in Bezug auf sechs einstufungsrelevante Module erfasst. Mit dieser Neudefinition der Voraussetzungen für den Bezug der Versicherungsleistungen wurde einer der Geburtsfehler der Pflegeversicherung korrigiert: der zu enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, der insbesondere Menschen mit Demenz benachteiligt hat. Das neue Begutachtungsinstrument berücksichtigt dagegen ausgewogen körperliche und psychische Aspekte einer Pflegebedürftigkeit und führt so zu einer gerechteren Begutachtung. 

Was verändert sich dadurch für die Pflegebedürftigen? 

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im PSG II ist sehr großzügig ausgefallen. Im Vergleich zu den Empfehlungen des Beirats wurde die Bewertungssystematik im Sinne der Pflegebedürftigen nachjustiert und wurden die Leistungssätze für die einzelnen Leistungsarten jeweils sehr hoch angesetzt. Im Ergebnis profitieren mehr als 95 % der bisherigen Pflegebedürftigen im ambulanten Bereich durch zum Teil erheblich höhere Leistungen, während niemand schlechter gestellt wird. Bei den Heimbewohnern reduziert sich der Eigenanteil für jeden dritten Bewohner, während eine Besitzstandsicherung dafür sorgt, dass die anderen Bewohner nicht mehr zahlen müssen als vorher. Allerdings führt diese großzügige Ausgestaltung der Reform auch zu erheblichen Mehrausgaben. So übersteigen die Leistungsausgaben im Jahr 2017 den Vorjahreswert um 7,25 Mrd. Euro. Damit haben sich diese Leistungsausgaben um rund ein Viertel erhöht. Dennoch liegt der Eigenanteil für die Pflegekosten in den Heimen bundesdurchschnittlich bei rund 600 Euro im Monat. Ursprünglich sollten diese Kosten komplett von der Pflegeversicherung übernommen werden. In der Heimpflege reichen die Leistungsverbesserungen daher nicht aus, um den Leistungsverfall auszugleichen, der zwischen 1996 und 2015 dadurch eingetreten ist, dass die Leistungshöhen in Pflegestufe I und II gar nicht und in der weniger häufigen Pflegestufe III nur ab 2008 in Höhe der Inflationsrate angepasst wurden.

Und was bedeutet die Reform für die Pflegeheimbetreiber? 

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Auch im stationären Sektor sind die Leistungsausgaben 2017 gestiegen und zwar im Vergleich zum Vorjahr um insgesamt 2,1 Mrd. Euro. Rund ein Drittel dieser Mehrausgaben kommt den pflegebedürftigen Heimbewohnern durch Reduktion des Eigenanteils zugute, zwei Drittel sind Mehreinnahmen (nicht Mehrgewinne!) der Heimbetreiber. Bestand zunächst die Gefahr, dass die Heime bei einer budgetneutralen Umstellung mittelfristig Verluste hinnehmen müssen, wurde diese durch die tatsächlich erfolgte Umstellung der Pflegesätze auf Länderebene, bei der meist merkliche Zuschläge vereinbart wurden, gebannt. Allerdings hat die Reform die Anreize für Pflegebedürftige verändert: durch den einrichtungseinheitlichen Eigenanteil, der einen Umverteilungsmechanismus innerhalb der Heimbewohnerschaft konstituiert, ist die stationäre Pflege für niedrige Pflegegrade relativ teurer, für hohe aber relativ billiger geworden. Umgekehrt betreffen die Leistungs­verbesserung in der häuslichen Pflege vor allem die Pflegebedürftige in niedrigeren Pflegegraden. Es ist daher damit zu rechnen, dass in den Pflegeheimen in Zukunft stärker als bislang höhere Pflegegrade zu finden sein werden. Hierauf müssen sich die Einrichtungen in Bezug auf ihre Betreuungskonzepte ebenso wie im Hinblick auf ihre Personalausstattung einstellen. 

Was muss gegen den Fachkräftemangel in der Pflege getan werden? 

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Der Fachkräftemangel ist das derzeit bedeutsamste Problem in der Pflege. Gemäß der Arbeits­marktstatistik der Bundesagentur für Arbeit waren 2017 im Jahresdurchschnitt 34.000 Pflegefachkraftstellen unbesetzt. Dabei kommen bei einer Arbeitslosenquote von 0,7 % auf jede arbeitssuchende Kraft 4 offene Stellen. Allerdings werden nicht alle offenen Stellen bei der Bundesagentur gemeldet, weil Einrichtungsbetreiber eine solche Meldung teilweise für nicht erfolgversprechend erachten. Für die Zukunft wird sich die Situation noch deutlich verschärfen, weil zunehmende Pflegebedürftigenzahlen auf ein abnehmendes Erwerbspersonenpotenzial treffen. Unberücksichtigt ist dabei noch, inwieweit der existierende Stellenkegel selbst zu niedrig ist. 
Maßnahmen gegen Fachkräftemangel müssen auf beiden Marktseiten ansetzen. Zum einen müssen neue Stellen geschaffen werden, um so die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Im aktuellen Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministers sind hier die Schaffung von 13.000 Stellen in der Langzeitpflege und die vollständige Finanzierung der Schaffung neuer Stellen im Krankenhausbereich vorgesehen. Bei einem leergefegten Arbeitsmarkt können diese neuen Stellen aber gar nicht besetzt werden. Gleichzeitig muss daher ein deutliches Signal zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs gesetzt werden – u. a. durch verbesserte Entlohnung. Auch dies ist im Eckpunktepapier vorgesehen, allerdings, ohne dass klar wird, wie das bewerkstelligt werden soll. 
Schließlich sind auch die Einrichtungsbetreiber angesprochen, die neue Arbeitszeitmodelle entwickeln müssen, um die hohe (und teils unfreiwillige) Teilzeitquote zu reduzieren. Um die Fachkräfte länger im Beruf zu halten, müssen altersgerechte Arbeitsplätze in der Pflege geschaffen werden – und um die Berufsrückkehr zu steigern, sind Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch auf Einrichtungsebene notwendig.

Und wie kann zu einer deutlichen Image-Verbesserung von Pflegeberufen beigetragen werden?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Eine bloße Image-Verbesserung der Pflegeberufe ist nicht ausreichend, womöglich sogar kontraproduktiv, weil damit ein Strohfeuer ausgelöst werden kann, wenn durch ein positives Image junge Menschen den Pflegeberuf ergreifen, dann aber erfahren, dass die Arbeitsbedingungen nicht dem positiven Image entsprechen. Notwendig ist daher vor allem eine tatsächliche Verbesserung der Situation in der Pflege. Hierzu notwendig sind Verbesserungen in der Aus- und Weiterbildung, die entsprechende Aufstiegschancen bietet, eine bessere Bezahlung (auch schon in der Ausbildung), gezielte Maßnahmen zur Erleichterung der Berufsausübung für verschieden Lebensphasen und insbesondere eine bessere Personalausstattung der Pflegeeinrichtungen. Alle Studien über Ausstiege aus dem Pflegeberuf zeigen, dass die unzureichenden Personalbesetzungen und die daraus resultierenden unbefriedigenden Arbeitsbedingungen der Hauptgrund sind, warum Pflegekräfte vorzeitig aus dem Beruf ausscheiden. Von den Ländern ist hier zu fordern, dass sie das Personalbemessungsverfahren in der Langzeitpflege, dessen Entwicklung und Erprobung bis Juni 2020 schon im PSG II normiert wurde, nach Vorlage im Sommer 2020 dann auch zügig implementieren und so ausreichende Stellenkegel vorgeben. 

Besten Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

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