Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft warnt: Unter dem Deckmantel der Qualitätsverbesserung soll die bewährte 1:1-Versorgung Schwerstpflegebedürftiger faktisch abgeschafft werden

Den Referentenentwurf zum geplanten „Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz“ (RISG) von Gesundheitsminister Jens Spahn betrachtet der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft mit Sorge und Empörung. „Das geplante Gesetz trägt die Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Titel, tritt aber Patientenrechte mit Füßen“, kritisiert der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau das Vorhaben.

Unter dem Deckmantel der Qualitätsverbesserung solle die bewährte 1:1-Versorgung Schwerstpflegebedürftiger aus Kostengründen faktisch abgeschafft werden, so Hasenau: „Unser Fachverband sagt uneingeschränkt Ja zur Einführung von bundesweit einheitlichen Qualitätsstandards in der ambulanten außerklinischen Intensivpflege bei sachgerechter Vergütung. Aber wir sagen entschieden Nein zur Einschränkung des in der UN-Behindertenkonvention festgeschriebenen Wunsch- und Wahlrechts intensivpflegepflichtiger Menschen und zur Stigmatisierung ambulanter Intensivpflegedienste als potenzielle Betrüger.“ Der Fachverband fordert deshalb umgehend eine breite öffentliche Diskussion des Gesetzesvorschlags und hat dazu einen Fünf-Punkte-Forderungskatalog aufgestellt.

Verstoß gegen Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention

WIG Wohnen in Gemeinschaft e.V., der Bundesverband für Leistungserbringer und Patienten in ambulant betreuten Wohngemeinschaften, propagiert eine differenzierte Betrachtung des jetzt veröffentlichten Referentenentwurfs.

Wig-Chef Claudius Hasenau: „Gerade die Menschen, die schwerst gesundheitlich belastet sind, die dringend der Betreuung in der Familie bedürfen, werden entgegen geltenden Rechts zwangsweise in stationäre Versorgungsformen wie aber auch in Wohngemeinschaften gezwungen.“

Dabei sieht die UN-Behindertenrechtskonvention, die auch für Deutschland gilt, in Artikel 19 vor, dass die Vertragsstaaten das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen anerkennen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Sie sind verpflichtet, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und die volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern. Dazu gewährleisten sie u.a., dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben. Menschen mit Behinderungen sind nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen zu leben. Claudius Hasenau: „Die Novellierungsüberlegungen aus dem Hause Spahn treten dieses Recht mit Füßen!“.

Keine „Deckmantelpolitik“ zu Lasten der Patienten! 

WIG verurteilt, dass die Abschaffung des Wahlrechts der Patienten unter dem Deckmantel der Qualitätsverbesserung geschieht: Neueste Untersuchungen belegen, dass – entgegen der Prämisse des Referentenentwurfs – die Qualität in der häuslichen Intensivpflege keineswegs so „grottenschlecht“ ist, wie das Gesundheitsministerium glauben machen will. Das Portal pflegemarkt.com hat beispielsweise 2015 ermittelt, dass die größten Anbieter von ambulanter Intensivpflege allesamt MDK-Noten um 1,0 hatten. Rechtsanwalt Dr. Lutz H. Michel FRICS, rechtlicher Berater von WIG: „Das BMG sollte die Grundlagen für seine Einschätzungen offenlegen. Finden die Prämissen in der Realität keine Basis, wofür alles spricht, so sollte das Ministerium den Entwurf schleunigst revidieren, um die Behindertenrechte zu wahren! Seriöse Gesetzgebung sieht anders aus!“

Wenn höhere Qualitätsanforderungen in WGs, dann auch höhere Vergütungen!

Der von WIG begrüßte Ansatz, bundeseinheitliche Standards zu schaffen, setzt zwingend voraus, dass die Krankenkassen leistungsgerechte Vergütungen zahlen.

Claudius Hasenau: „Wer mehr will, muss auch mehr bezahlen!“

Positiv gewertet wird auch, dass Intensiv – Wohngemeinschaften in ihrer Arbeit und als eigenständiger Versorgungstyp anerkannt werden. Claudius Hasenau: „Wir begrüßen für unsere Mitglieder und die gesamte Branche, dass diese kleinteiligen, von den Patienten wie ihren Angehörigen stark präferierten Wohnformen nunmehr leistungsrechtlich ,institutionalisiert‘ werden sollen. Wir scheuen uns nicht vor höheren Qualitätsanforderungen, wenn diese nicht zu Lasten der auch im Interesse der Patienten liegenden Wirtschaftlichkeit dieser Angebote gehen.“ 

Schluss mit der Stigmatisierung ambulanter Intensivpflegedienste!

Nachdrücklich verurteilt der Fachverband die in der Begründung zum Gesetzentwurf offenbar werdende Stigmatisierung von ambulanten Diensten. Claudius Hasenau: „Als Inhaber einer mittleren ambulanten Pflegegruppe wehre ich mich auch im Namen meiner  Mitarbeitenden gegen die Unterstellung, dass alle Dienste betrügen.“ Als Grund für die Abschaffung der 1:1-Versorgung einzelne „schwarze Schafe“ ins Feld zu führen, stellt für WIG eine Stigmatisierung der ambulanten Dienste und ihrer Mitarbeitenden dar, die umgehend klargestellt werden muss. Zu verurteilende Ausnahmen dürfen nicht für generelle Beurteilungen und neue restriktive Regelungen herangezogen werden, zumal die erfolgte Aufdeckung von Missständen belegt, dass die Kontrolle von Staat und Kassen funktioniert, so der wig-Vorsitzende.

WIG präsentiert fünf Forderungen für die weitere GesetzesberatungUm eine breite Diskussion zu eröffnen, hat wig fünf Forderungen in Bezug auf die Evaluierung und die Änderung des Referentenentwurfs formuliert:

  1. Das aus der UN-Behindertenrechtskonvention folgenden Wunsch- und Wahlrechts auch und gerade von schwerstpflegebedürftigen Menschen muss beachtet werden.
  2. Im Entwurf enthaltene Prämissen, insbesondere die Evaluierung der angeblichen Qualitätsmängel, die vom BMG zur Begründung der Abschaffung der 1:1-Versorgung herangezogen werden, müssen geklärt werden.
  3. Qualitätsanforderungen und Leistungsentgelte müssen unmittelbar gekoppelt werden. Ambulante und stationäre Versorgungsformen in der Intensivpflege sind unbedingt gleichzustellen. Eine weitere Benachteiligung der ambulanten Versorgung durch höhere „Zugangsschwellen“ ist zu vermeiden.
  4. Der Versorgungstyp „Intensivpflege – Wohngemeinschaft” muss als Element einer nachhaltigen Regelversorgung vor allem leistungsrechtlich weiter gestärkt werden.
  5. Die mit vorgeschobenen Qualitätsargumenten begründete Stigmatisierung von ambulanten Diensten ist sofort zu beenden. Die Arbeit von Zehntausenden von Pflegekräften in diesem Sektor muss unmissverständlich wertgeschätzt werden.

WIG erwartet vom Gesundheitsministerium, dass eine sachorientierte, fachlich basierte Diskussion einer Gesetzesinitiative im Bundestag vorausgeht. Der Bundesverband bietet hier seine Expertise an und fordert nachdrücklich seine Einbeziehung in die weiteren Gesetzesberatungen. 

 

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