Das Ausscheiden der Baby-Boomer-Generation verschärft die Situation der beruflichen Pflege in Deutschland massiv. Neben erheblichen Finanzierungslücken in der Pflegeversicherung bedroht die steigende Personalnot zunehmend die Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Das sind Ergebnisse des aktuellen Pflegereports der DAK-Gesundheit, für den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter der Leitung von Professor Thomas Klie vom Institut AGP Sozialforschung die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf das Pflegesystem untersucht haben. Demnach wird die ohnehin dünne Arbeitsmarktreserve von rund 11.750 Fachkräften (2,0 Prozent) in 2025 auf lediglich 5.600 Fachkräfte (0,5 Prozent) bundesweit im Jahr 2030 abschmelzen. Folge: In fünf Jahren erreichen mit Bremen und Bayern die ersten Bundesländer einen Kipppunkt, an dem der Pflegenachwuchs die altersbedingten Berufsaustritte der Baby- Boomer nicht mehr auffangen kann. Laut DAK-Pflegereport müssen in den nächsten zehn Jahren fast in jedem Bundesland 20 Prozent Pflegepersonal ersetzt werden. Die Studie zeigt auch auf, dass die Baby-Boomer nicht nur ein Problem des Pflegesystems sind, sondern auch ein möglicher Teil der Lösung.
„Wir stehen vor einem Kipppunkt: Die soziale Pflegeversicherung droht in wenigen Jahren ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren. Wir brauchen eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung, um die Pflege mit neuen Versorgungskonzepten zukunftsfähig zu machen.“
Andreas Storm, DAK-Vorstandschef
Steigende Kosten, immer mehr Pflegebedürftige und beständig abnehmende Personalressourcen strapazierten das System. Verschärft wird die Personalproblematik durch Effekte der Baby-Boomer-Generation: Mit den nahenden Renteneintritten werde die Zahl der Pflege-Fachkräfte signifikant sinken.
Arbeitsmarktreserve schmilzt auf 0,5 Prozent
Laut DAK-Pflegereport schmilzt bundesweit die Arbeitsmarktreserve in der beruflichen Pflege bis 2030 auf 0,5 Prozent ab. Für 2025 liegt die Prognose bei 9.664 Renteneintritten, denen 36.004 Berufseinsteiger gegenüberstehen – das entspricht einer Arbeitsmarktreserve von 2,0 Prozent. Diese bereits äußerst dünne Personaldecke halbiert sich 2027 auf 1,0 Prozent:
Statt einer Reserve von 26.340 Pflegekräften stehen dann rechnerisch lediglich 11.752 Arbeitskräfte zur Verfügung. 2030 geht die Reserve noch einmal um die Hälfte auf 5.619 Kräfte zurück, was 0,5 Prozent entspricht.
„Wir haben trotz guter Ausbildungszahlen keinen Puffer gegen die berufsdemografischen Dynamiken in der Pflege. Ein Ausbau der Personalkapazitäten in der Pflege wird demografiebedingt nicht gelingen. Mithilfe von Wiedereinsteigerprogrammen, Zuwanderung und Qualifizierungsstrategien lassen sie sich bestenfalls stabil halten.“
Prof. Thomas Klie, Pflegeexperte und Studienleiter
21,9 Prozent der Pflegekräfte müssen ersetzt werden
2023 gab es über 1.140.300 professionell Pflegende in Deutschland. Mehr als 249.500 von ihnen erreichen in den nächsten zehn Jahren das Renteneintrittsalter, das sind 21,9 Prozent. In jedem Bundesland müssen dann um die 20 Prozent des Personals ersetzt werden – der Bedarf variiert zwischen 19,7 Prozent in Sachsen und 26,5 Prozent in Bremen. Dieser Ersatzbedarf beschreibt dabei ausschließlich, wie groß die Lücke netto ist. Der tatsächliche Bedarf dürfte vor dem Hintergrund einer kontinuierlich wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen noch weitaus größer sein. „Wir schätzen, dass in den nächsten 25 Jahren rund 2,3 Millionen Menschen mehr als heute auf pflegerische Unterstützung angewiesen sein werden“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Thomas Klie.
Pflege in den ersten Bundesländern auf der Kippe
Gleichzeitig spitzt sich das Missverhältnis von Pflegekräften, die altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden, und nachrückenden Pflegeschulabsolventinnen und -absolventen bundesweit in den nächsten Jahren dramatisch zu. In einzelnen Bundesländern werden noch in diesem Jahrzehnt Kipppunkte erreicht, an denen deutlich mehr Pflegende in den Ruhestand gehen als Nachwuchskräfte in den Beruf einsteigen. In Bremen und Bayern wird dies Berechnungen des Forschungsinstituts AGP Sozialforschung zufolge bereits in 2029 der Fall sein. Prof. Dr. Thomas Klie: „Aufgrund des sehr lokal geprägten Arbeitsmarktes variieren die Kipppunkte stark auf der Landkreis- und städtischen Ebene innerhalb der Bundesländer.“ Selbst in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Thüringen, die rechnerisch weiterhin über eine Reserve verfügen, sei der Arbeitsmarkt praktisch leergefegt.
Starke gesundheitliche Belastungen
Hinzukommt eine überdurchschnittlich große gesundheitliche Belastung des Pflegepersonals. Vor allem Erkrankungen des Bewegungsapparates und psychische Belastungen sind ursächlich für durchschnittlich über 50 Fehltage von Beschäftigten in der Altenpflege in der Altersgruppe ab 58 Jahren. Zum Vergleich: In anderen Berufsgruppen in dieser Alterssparte sind es rund 30 Fehltage (2022).
„Die Personalsituation in der Pflege ist alarmierend und wird durch die Renteneintritte der Baby-Boomer vor weitere große Herausforderungen gestellt. Die Zahl der Fachkräfte sinkt rapide und hat schon jetzt regionale Engpässe zur Folge. Mittelfristig wird dieser Mangel so gravierend, dass unser Pflegesystem an seine Belastungsgrenze kommt.“
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit
Pflegefinanzierung ebenfalls vor dem Kipppunkt
Steigende Kosten belasten das Pflegesystem zusätzlich: Bereits für das vierte Quartal 2024 zeichnen sich laut Berechnungen im DAK-Pflegereport deutliche Finanzierungslücken ab, die voraussichtlich Beitragssatzerhöhungen noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr erforderlich machen. Der Report zeigt auf, dass diese Problematik in der Bevölkerung erkannt wird. Höhere Beitragssätze akzeptieren würden aber laut einer repräsentativen Umfrage vom Institut für Demoskopie Allensbach im Rahmen des DAK-Pflegereports nur 41 Prozent der Deutschen. „Das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im vergangenen Jahr abgegebene Versprechen einer zumindest kurzfristigen Stabilisierung der Pflegefinanzen bis zum Ende der laufenden Wahlperiode ist wohl nicht mehr zu halten“, fürchtet Storm. Er fordert ein Konzept, das den wachsenden Finanzbedarf aufgrund steigender Kosten in der pflegerischen Versorgung langfristig absichert. Dies sei essenziell, um das Pflegesystem zukunftsfähig zu machen.
Baby-Boomer: Problem und Lösung zugleich
Neben Finanzierungskonzepten und einer Investition in Assistenzberufe werden auch neue Versorgungsformen notwendig sein:
„Die Baby-Boomer sind in der Pflegediskussion das Problem und die Lösung zugleich.“
Professor Thomas Klie
Es werde neue Formen gegenseitiger Unterstützung brauchen, um eine solidarische Pflege und Sorge vor Ort sicherzustellen. „Wir als immer älter werdende Gesellschaf benötigen Modelle ,geteilter Verantwortung‘, die intelligente Verschränkungen von professioneller Pflege, informeller Sorge und zivilgesellschaftlicher Initiative ermöglichen – wie etwa in ambulant betreuten Wohngemeinschaften praktiziert“, so Klie. Erforderlich seien bürokratische Abrüstung, sektoren- und professionsübergreifende Kooperations- und Versorgungsformen sowie Planung auf kommunaler Ebene. „Eine Mixtur aus nachberuflicher Erwerbstätigkeit und bürgerschaftlichem Engagement könnte vor Ort einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Pflegesituation leisten.“ Die Bereitschaft dafür ist vorhanden: Laut Allensbach-Befragung sind mehr als 50 Prozent der über 40-Jährigen bereit, Nachbarn, Freunde und Bekannte bei
Pflegebedürftigkeit regelmäßig im Alltag zu unterstützen. Zudem brauche es ein flächendeckendes Angebot von Betreuungs- und hauswirtschaftlichen Unterstützungsformen, um pflegende Angehörige zu stärken.
Stärkung der Kompetenzen notwendig
Potenzial zur Stabilisierung des Pflegesystems liegt laut Versorgungsforschungs-Experte Klie auch in der gezielten Ausweitung der Handlungskompetenzen des Pflegepersonals: „Wir können es uns nicht leisten, unsere Fachkräfte weiter mit fachfremden Aufgaben zu beschäftigen und bürokratisch zu kontrollieren wie bisher. Wir sind in der Lage, mit weniger, aber kompetenzorientiert eigensetzten Fachkräften effizientere Versorgungssettings zu schaffen und Prävention zu fördern. Dafür müssen die beruflich Pflegenden in ihrer Eigenständigkeit gestärkt werden. Ohne sie werden wir die gesundheitliche Versorgung in Deutschland nicht meistern.“