Annemarie Fajardo, M.Sc., ist diplomierte Altenpflegerin. Sie ist als Pflegepionierin und freiberufliche Unternehmensberaterin tätig und engagiert sich ehrenamtlich als Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerates e. V.

Der Berufsstand Pflege leistet gerade in der Corona-Pandemie herausragende Arbeit. In der zweiten Jahreshälfte sollen Pflegekräfte wieder einen Bonus des Staates erhalten. Wie bewerten Sie diese Maßnahme?

Annemarie Fajardo: Diese Maßnahmen des Staates dienen selbstverständlich in erster Linie der Motivation und kurzfristigen Anerkennung der beruflich Pflegenden in Kliniken, Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten. Sie sind jedoch nicht darauf ausgelegt, eine langfristige Anerkennung der beruflich Pflegenden herbeizuführen. Sie greifen bei der Gesamtproblematik, die wir im Gesundheitssystem erleben, zum Beispiel bei der seit Jahrzehnten massiven Unter- und Fehlversorgung von Menschen mit psychischen und physischen Einschränkungen in Versorgungssettings der Langzeitpflege aufgrund von grundsätzlich fehlendem und nicht qualifiziertem Personal, einfach zu kurz. Solche Fehlentwicklungen des Systems müssen derzeit von den beruflich Pflegenden immer noch mit größter körperlicher und psychischer Kraftanstrengung kompensiert werden. Die Pandemie kommt zu dieser seit Jahrzehnten bekannten Dauerbelastung der Pflegenden noch oben drauf.

Eine einmalige bzw. wiederholte kurzfristig effektive Aktion, wie diese Bonuszahlung, kann demnach keine systemischen Probleme kompensieren oder gar die Pflegenden tatsächlich entlasten.

Diese Maßnahmen wirken daher wirklich, wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie sind zwar politisch gut gemeint, aber einfach nicht gut im Sinne der Gesamtproblematik angelegt. 

Wie können (sollten) die Lohn- und Arbeitsbedingungen für Pflegende im Gesundheitswesen verbessert werden?

Annemarie Fajardo: Es braucht sehr viel mehr grundsätzlichere Strukturveränderungen im Gesundheitssystem, z. B. mithilfe von höheren Einstiegsgehältern ab 4.000 Euro brutto aufwärts, bessere und sichtbarere leistungsrechtliche Anerkennung, die auf den Veränderungen der berufsrechtlichen Grundlagen aufbaut oder etwa auch ein größerer Verantwortungsbereich, wenn es beispielsweise um die Anordnung und Rezeptierung von Pflegehilfsmitteln oder pflegetherapeutischen Maßnahmen geht. Die berufsrechtlichen Veränderungen, die mit der Einführung der generalistischen und akademischen Grundausbildung von beruflich Pflegenden einhergegangen sind, müssen in jedem Fall von der Politik weiter unterstützt und auch entlang der Gesamtproblematik im Gesundheitssystem weiter ausgebaut werden. Dass wir an vielen Stellen eine Unter- und Fehlversorgung von kranken und pflegebedürftigen Menschen haben, belastet die Berufsgruppe der Pflegenden massiv. Sie selbst können an diesen miserablen Strukturen nur wenig verändern, da sie noch nicht flächendeckend über Selbstverwaltungsstrukturen oder auch eigene etablierte Gewerkschaften verfügen – sie ihnen zudem politisch verwehrt werden, wie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein durch die Rückabwicklung von Pflegekammern offenbar wurde. Auch Berufsverbände verfügen nicht über entsprechend notwendige flächendeckende Infrastrukturen, um solche grundsätzlicheren Strukturveränderungen tatsächlich herbeiführen zu können, auch wenn sie bereits an vielen Stellen mehr oder weniger etabliert sind. Besonders die ehrenamtlichen Strukturen können nur marginal etwas an einem groß und breit auf die Medizin und die Versicherungen ausgelegten Gesamtkonstrukt aussetzen.

Gäbe es ein echtes Mitspracherecht in politischen und auf Gesetzesanpassungen ausgelegten Gremien, hätten einige Fehlentwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten, meiner persönlichen Einschätzung nach zu urteilen, verhindert werden können.

Um echte Verbesserungen heutzutage also herbeizuführen, müsste die Politik sehr viel massivere Maßnahmen einleiten, um zunächst den schlechten Arbeitsbedingungen und dann in der Folge auch den schlechten Versorgungsbedingungen wirklich gut begegnen zu können. 

Was kann (muss) auf Bundesebene passieren, um dem enormen Fachkräftemangel entgegenzuwirken?

Annemarie Fajardo: Auf der Bundesebene benötigen wir politisch eine ganz andere Haltung, was unsere Gesundheitsversorgung durch pflegefachliche Leistungen anbetrifft. Die beruflich Pflegenden haben trotz ihres enormen und breiten Fachwissens nach wie vor nicht die Autorität, im Gesundheitssystem eigene Diagnosen zu stellen, Therapien anzuordnen und pflegefachliche Maßnahmen einzuleiten. Über Jahrzehnte hinweg wurde angenommen, dass es für die pflegerischen Leistungen lediglich einen Fokus auf die Grundpflege braucht. Die Grundpflege durch Pflegefachpersonen wird jedoch sehr oft noch mit der Angehörigenpflege im häuslichen Bereich gleichgestellt, sodass besonders in der ambulanten Langzeitpflege häufig durch die Strukturen der Pflegeversicherung nach SGB XI den pflegenden Angehörigen und den Pflegebedürftigen unterstellt wird, sie könnten ohne professionelle Pflege auch schon gut auskommen. Im Prinzip wurde dadurch unserer Gesellschaft immer wieder suggeriert, „Pflegen kann jeder“ und „dafür brauchen wir kein Studium“. Durch diese Fehlhaltung gegenüber einer fundierten und professionellen Pflegetätigkeit ist nicht unbedingt der Eindruck beim Berufsstand der Pflegenden geweckt worden, tatsächlich für die Gesellschaft und so betrachtet für die Gesundheits- und Daseinsvorsorge relevant zu sein. Im Gegenteil: Die Personalfluktuation in den Betrieben der Kliniken und der Langzeitpflege hält seit Jahren an. Sehr gut ausgebildete Pflegefachpersonen, darunter auch Intensivpflegefachpersonen, verlassen sogar die Branche ganz und wechseln in den Einzelhandel – sie gehen zu Lidl.

Wir müssen also als Gesellschaft ein anderes Verständnis und eine andere Haltung für professionelle Pflegeleistungen in Deutschland entwickeln, um überhaupt noch eine gute Pflegeversorgung in den nächsten Jahren halten zu können.

Wenn sich diese Haltung ändert, dann könnten wir möglicherweise auch etwas gegen den enormen Fachkräftemangel leisten. 

Wie fällt Ihr Resümee der Gesundheitspolitik von Prof. Karl Lauterbach aus, die stark durch die Corona-Pandemie bestimmt wird?

Annemarie Fajardo: Um gerade die auf Bundesebene erforderlichen Veränderungen, wie oben beschrieben, besser erreichen zu können, brauchen wir natürlich einen Bundesgesundheitsminister, der eben nicht nur auf die Corona-Pandemie schaut, sondern die Gesamtproblematik unseres Gesundheitssystems in den Blick nimmt. Mein Verständnis einer guten Gesundheitspolitik ist zum Beispiel, dass das Bundesgesundheitsministerium unter der Leitung eines Ministers alle Themen rund um Gesundheit, Pflege, Daseinsvorsorge, Quartiersentwicklung, Lebensqualität bei Krankheit oder auch Wohnqualität im Alter, etc. fokussiert und die Möglichkeiten zur Optimierung aufgreift, sich immer wieder mit den jeweiligen Berufsgruppen und Betriebsgruppen in diesem System austauscht, und über Maßnahmen entscheidet, die einer langfristigen Strategie folgen. Bisher ist diese Strategie meinem Wissen nach nicht entwickelt worden. Stattdessen werden, wie bereits auch schon bei den vorherigen Bundesgesundheitsministern und Bundesgesundheitsministerinnen, kurzfristige Maßnahmenpakete verabschiedet, weil immer wieder vereinzelt auf bestimmte Symptome reagiert wird.

Diese in der Politik sehr weit verbreitete Kultur, immer wieder kurzfristig auf Symptome zu reagieren, in der Hoffnung, dass sich unmittelbar bestimmte Probleme lösen lassen, um dann anschließend wieder mit dem Tagesgeschäft weiterzumachen, kann das Gesundheitssystem oder können vergleichsweise auch andere Sozialsysteme, wie etwa Erziehung oder Bildung, nicht vom Grundsatz her verbessern.

Daher wäre es natürlich sehr wünschenswert, wenn Herr Prof. Lauterbach sich einer Gesamtstrategie, die auf die nächsten zwanzig Jahre ausgelegt ist, widmen würde. 

Welche pflegerelevanten Themen wurden aus Ihrer Sicht erfolgreich angepackt?

Annemarie Fajardo: In der vergangenen Legislaturperiode wurden einige Veränderungen im Hinblick auf eine verbesserte Ausbildung und auch im Hinblick auf eine verbesserte Vergütung pflegerischer Leistungen besonders im häuslichen Setting auf den Weg gebracht. Pflegende Angehörige und die Pflegebedürftigen erhalten mehr Geld für die gewünschten Pflege- und Betreuungsleistungen. Hier ist allerdings vielmehr aus der Perspektive der pflegenden Angehörigen eine Verbesserung herbeigeführt worden, die aber auf die Refinanzierung der Leistungen abgestellt ist, als sehr viel weniger auf die Qualität der Versorgung.

Denn gerade unter dem Stichwort generalistische Ausbildung mag die Zusammenführung der ehemaligen drei Berufszweige Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und Altenpflege zeitgemäß und fachlich korrekt gewesen sein, jedoch noch nicht im Sinne einer vertiefenden Qualifizierung, etwa auch zur Verbesserung der Versorgungsqualität und zur Unterstützung von pflegenden Angehörigen im häuslichen Bereich.

Besonders die Spezialisierung und Vertiefung von Fachwissen in bestimmten Bereichen der außerklinischen Langzeitversorgung sind noch nicht abschließend geklärt. So müssen zum Beispiel für die Kinderkrankenpflege oder auch für die Altenpflege vertiefende Qualifizierungsmaßnahmen entwickelt werden, die von den generalistisch ausgebildeten Pflegefachpersonen aufgegriffen werden könnten, sollten sie sich für bestimmte Versorgungssettings entscheiden. 

Und wo sehen Sie hinsichtlich des Berufsstands Pflege noch weiteren dringenden Handlungsbedarf – was wünschen Sie sich von der Politik?

Annemarie Fajardo: Um die Versorgungsprobleme innerhalb unseres Gesundheitssystems zugunsten einer Gesundheitsfürsorge und Daseinsvorsorge sowie vor dem Hintergrund unserer demografischen Entwicklungen, etwa die Tatsache, dass wir in den nächsten zehn Jahren nochmals deutlich mehr ältere und kränkere Menschen zu versorgen haben, ohne dass wir genügend Personal oder etwa auch eine gute Infrastruktur für die pflegenden Angehörigen dazu haben werden, langfristig lösen zu können, werden wir um eine veränderte gesellschaftliche Haltung gegenüber des Berufsstandes der professionell Pflegenden aber auch gegenüber Menschen mit Pflege- und Hilfebedarf nicht herumkommen. Wir benötigen demnach groß angelegte Kampagnen, in denen nicht einfach nur, wie etwa bei den „Ehrenpflegas“ auf eine Zielgruppe abgestellt wird, die sich für den Pflegeberuf angeblich gewinnen ließe, sondern viel stärker noch darauf abgezielt wird, unsere Gesellschaft insgesamt auf eine gute Gesundheitsfürsorge und Daseinsvorsorge aufmerksam zu machen und sie für die Einführung und Umsetzung notwendiger Infrastruktur, wie etwa Pflegekammern zur Selbstverwaltung durch beruflich Pflegende und zur Bündelung von Fachkompetenz, zur Weiterentwicklung von Fachkompetenz, zur Förderung der Pflegewissenschaften, begeistern zu können. Es geht nicht darum, der Gesellschaft immer wieder zu suggerieren, dass in unserem Gesundheitssystem alles bestens läuft, weil wir zum Beispiel die besten Medizinerinnen und Mediziner der Welt haben. Es geht vielmehr darum, ein Gesundheitssystem zu entwickeln, dass interdisziplinär und ganzheitlich den auf Hilfe und Pflege angewiesenen Menschen betreut und versorgt.

Es darf in der heutigen Zeit einfach nicht peinlich sein, darüber zu sprechen, dass wir Verbesserungen im Gesundheitssystem benötigen.

Und wenn es der Politik gelingt, die Pflegefachpersonen und damit die pflegefachliche Kompetenz flächendeckend zu bündeln und an Gesetzgebungs- und anderen Abstimmungsverfahren systematisch einzubinden, steht einer modernen Gesundheitsversorgung doch eigentlich nichts mehr im Wege. 

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Fotocredit: Gudrun Arndt

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