Susanne Frank-Kreft ist Pflegefachfrau, Gerontologin, Mäeutik- und Demenz-Trainerin sowie die Gründerin der „Akademie für Mäeutik Schweiz“. 

Was genau versteht man unter dem mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell?

Susanne Frank-Kreft: Der Begriff Mäeutik (wörtlich: Hebammenkunst) wird im weiteren Sinne in Anlehnung an die Gesprächstechniken des Philosophen Sokrates im Gespräch mit seinen Schülern verwendet, im Sinne einer „Dialogischen Methode der Wahrheitssuche“, die die Lernenden durch geschicktes Fragen selbst zur Erkenntnis führt.

Das mäeutische Pflege- und Betreuungskonzept entstand im Bereich der Geriatrie aus der Frage heraus, wie Menschen mit Demenz bestmöglich betreut werden können. Urheberin ist die Niederländerin Dr. Cora van der Kooij, die die Mäeutik in der Pflege als „Hebammenkunst für das Pflegetalent“ verstand. Ihr lag daran, Lebenserfahrung, Empathie, Intuition, Kreativität und Erfahrungen in der Pflegearbeit als Wissensressourcen zu erkennen, zu reflektieren und eine empathische Grundhaltung in die Pflegearbeit mit einzubeziehen.

Damit kann die Mäeutik in der Pflege und Betreuung einerseits als pädagogisches Verfahren für die Schulung von Pflegenden bezeichnet werden, andererseits bietet sie eine generelle Herangehensweise für den Umgang mit Menschen, die Hilfe und Pflege benötigen.

Im Zentrum des mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells steht die „erlebensorientierte Pflege“, bei der die Beziehung zwischen Pflegenden und dem Bewohnenden/Klienten im Mittelpunkt steht und gezielt positive Kontaktmomente geschaffen werden.

Das intuitive und empathische Einfühlen in die Bedürfnisse und in die Erlebenswelt des Bewohnenden/Klienten durch die Pflegenden hat ein besonderes Gewicht. Mithilfe der mäeutischen Herangehensweise soll die Beziehung gestärkt werden.

Lassen Sie mich bitte die folgenden Grundannahmen erläutern:

Das mäeutische Menschenbild betont, dass alle Menschen verletzlich sind, also sowohl Bewohnende/Klienten, Angehörige als auch Pflegende. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit soll den Pflegenden und Betreuenden ermöglichen, die Betroffenen verstehend und einfühlend zu begleiten. Das zwischenmenschliche Erleben, Handeln und Wirken, das im Pflegeprozess unbewusst stattfindet, soll in Worte gefasst und reflektiert werden. Die gewonnenen Erkenntnisse können dann bewusst gemeinsam im Team weiterentwickelt beziehungsweise mit theoretischen Inhalten ergänzt werden.

Auf diese Weise sollen Pflegende und Betreuende besser in der Lage sein, sich in die Erlebenswelt des Bewohnenden/Klienten und ihren Angehörigen einzufühlen, aber auch die eigene Erlebenswelt bewusster wahrnehmen. Spannungen, die sich häufig aus dem Kontakt der beiden unterschiedlichen Erlebenswelten ergeben, können dann durch die Pflegenden besser aufgelöst werden, sodass der Kontaktmoment zwischen beiden positiv gestaltet und erlebt werden kann.

Mitmenschlichkeit, Zuwendung und das intuitive Pflegetalent werden als eigene Kompetenzen wertgeschätzt, die gesellschaftliche Anerkennung dieser Werte wird gefordert.

Was ist das Besondere am mäeutischen Modell?

Susanne Frank-Kreft: Das Besondere und Einzigartige am mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell ist die „Gleichberechtigung“ von Bewohnenden/Klienten und Angehörigen/Bezugspersonen und Pflegenden/Betreuenden. Bei anderen Pflegemodellen steht in der Regel ausschließlich der Bewohnende/Klient im Mittelpunkt. 

Also geht es hier nicht um den Dialog zwischen zwei Menschen, sondern um einen Trialog innerhalb dieser drei Personengruppen.

Das Besondere und Auszeichnende des mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells ist der Perspektivenwechsel. In der Pflege und Betreuung sind wir gezwungen, für die Pflegeeinstufung die Defizite des Bewohnenden/Klienten zu beobachten und zu dokumentieren. Wir haben dadurch sehr verinnerlicht, über schwierige Situationen zu sprechen und uns über Probleme auszutauschen, um Lösungen zu suchen und zu finden.

Im mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell lernen wir, „positive Kontaktmomente“ wieder bewusst wahrzunehmen und im Team darüber zu sprechen.

Es ist für mich sehr eindrücklich, Mitarbeitende bzw. Teams und ihre Veränderung dabei zu erleben.

Ich bleibe nochmal bei den schwierigen Situationen und Problemen, auf denen vielfach der Fokus liegt. Im mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell lernen wir, nach den Bedürfnissen zu fragen oder nach ihnen auf die Suche zu gehen, wenn Bewohnende/Klienten nicht mehr verbal kommunizieren können. Die Erfahrung zeigt nun, wenn Bedürfnisse erkannt, wahrgenommen und befriedigt werden, dann reduzieren sich die schwierigen Situationen und Probleme.

Wo wird es konkret eingesetzt?

Susanne Frank-Kreft:

Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell ist für stationäre und teilstationäre Langzeiteinrichtungen, für den ambulanten Pflegedienst und für Menschen mit kognitiven und/oder somatischen Beeinträchtigungen, die in Einrichtungen leben, geeignet.  

In der Schweiz wird das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell aktuell in zwei Pflegeeinrichtungen implementiert, und ein ambulanter Pflegedienst wird im kommenden Jahr damit beginnen. 

Wie wird die Mäeutik in Pflegeeinrichtungen implementiert?

Susanne Frank-Kreft: Die Grundvoraussetzung für die Implementierung ist eine gemeinsam getroffene und dann auch getragene Entscheidung der Geschäftsleitung und des gesamten Kaderteams.

Der Bereich der Pflege und Betreuung, die Aktivierung und das Team des Nachtdienstes nehmen an einem dreitägigen Basiskurs teil. Die drei Tage werden im Abstand von circa vier Wochen durchgeführt, da es jeweils Praxisaufträge für die Umsetzung gibt.

Ein wichtiger Teil ist das Training on the Job. Darin geht es in erster Linie um erlebensorientierte Kontaktgestaltung. Die Trainerin begleitet Mitarbeitende im Wohnbereich, in konkreten Pflege- und Betreuungssituationen.

Die Trainerin bleibt weitgehend in der Rolle der Beobachterin. Sie beobachtet, wie Kontakt entsteht und wie die Pflegenden und Betreuenden im Kontakt zu Bewohnenden stehen.

Die Trainerin gibt im Anschluss Feedback über die Art, wie sie die einzelnen Pflege- und Betreuungssituationen erlebt. Hier geht es darum, Fertigkeiten bewusst zu machen und neue Fertigkeiten zu vermitteln. Praktische Erfahrungen sollen mit den Begriffen des mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells verbunden werden. 

Im weiteren Verlauf dieses Tages, an dem das Training on the Job stattfindet, wird eine Bewohnerbesprechung unter Supervision der Trainerin durchgeführt.

Das Training on the Job und die Bewohnerbesprechung sollten pro Wohnbereich mindestens sechsmal durchgeführt werden, um die bewusste Kontaktgestaltung im praktischen Alltag zu verankern.

Für pflegeangrenzende Bereiche (Service, Empfang, Technischer Dienst, Reinigung), die mit Bewohnenden/Klienten ebenfalls im Kontakt sind, findet ein eintägiger Weiterbildungstag statt mit dem Ziel, dass alle in den Veränderungsprozess miteinbezogen sind.

Um die Nachhaltigkeit sicherzustellen, ist es notwendig, dass für jeden Wohnbereich ein sogenannter Thementräger gefunden wird. Das sollte ein Mitarbeitender sein, der sich für das Thema der Mäeutik interessiert und begeistert. Die Aufgabe eines solchen Thementrägers beinhaltet dann die Planung, Durchführung und Nachbereitung der Bewohnerbesprechung, und diese Person ist dann auch Ansprechpartner für die Trainerin. Die Aufgabe des Thementrägers ist unabhängig vom Ausbildungsniveau.

Für jede Einrichtung ist es sinnvoll, je nach Größe der Einrichtung, mehrere interne Mäeutik-Trainerinnen auszubilden, ebenfalls um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Die internen Mäeutik-Trainerinnen unterstützen die Thementräger der Wohnbereiche und bieten viermal im Jahr einen Workshop an, der in Zusammenarbeit mit Mäeutik-Consulting durchgeführt wird.

Inwieweit profitieren Pflegebedürftige und im Speziellen Menschen mit Demenz von der Mäeutik?

Susanne Frank-Kreft: Das hört sich nun sehr lapidar an, aber Bewohnende, ob mit oder ohne eine Demenzerkrankung, werden als Menschen mit Bedürfnissen, mit einer eigenständigen Persönlichkeit und einer persönlichen Lebensgeschichte gesehen – und der Umgang wird entsprechend noch individueller. Der springende Punkt sind die Bedürfnisse des Individuums. Es geht nicht mehr ausschließlich darum, Pflegemaßnahmen auszuführen oder Checklisten abzuarbeiten. Es geht auch nicht mehr ausschließlich darum, formulierte Pflegeziele zu erreichen oder aktivierende Pflege anzubieten und Ressourcen zu fördern. 

Welche Bedürfnisse werde ich mal als alte Frau mit 80 Jahren, vielleicht mit einer Demenz, haben? Dann möchte ich vielleicht nicht mehrmals die Woche in einer Aktivierungsgruppe teilnehmen. Dann möchte ich vielleicht mal mehr gepflegt werden, auch wenn ich die Fähigkeiten dazu noch hätte. Es wird dann bestimmt Tage geben, an denen ich Beschäftigung sehr gerne annehme, aber es wird auch Tage geben, an denen ich einfach meine Füße hochlegen möchte.

Die Beziehung zwischen Pflegenden/Betreuenden und den Bewohnenden/Klienten wird mehr auf Augenhöhe ge- und erlebt.

Diese Beziehung wird nun auch zwischen zwei Menschen gelebt und nicht mehr zwischen einem Pflegeempfänger und einer Funktion (Pflegefachfrau/-mann HF, FaGe, FaBe, AGS, Lernenden, usw.).

Auch wenn die Menge oder der Mangel der Zeit in der Pflege nach wie vor ein Thema ist, verändert sich die Qualität der gemeinsam gelebten Kontaktmomente.

Hat die Mäeutik auch einen Effekt auf die Pflegekräfte? Und was müssen die Pflegekräfte mitbringen, um die Mäeutik zu erlernen?

Susanne Frank-Kreft: Den Effekt für die Pflegenden darf ich in sehr beeindruckender Weise miterleben. Das Gefühl, dass der Arbeitstag von morgens bis abends durchgetaktet ist und sich Pflegende/Betreuende fremdbestimmt erleben, verändert sich.

Sie erleben nun Selbstwirksamkeit, und das hat zur Folge, dass sie eine viel höhere Arbeitszufriedenheit und damit verbunden eine höhere Lebensqualität erleben.

Vielleicht kann ich es Ihnen an Beispielen deutlich machen:

Eine junge Fachfrau für Gesundheit (FaGe) lernte ich im vergangenen Sommer kennen. Ich nahm sie als sehr verschlossen, unnahbar wahr. In ihrem Blick kam für mich Resignation, Ausgebrannt sein und eine hohe Unzufriedenheit zum Ausdruck. Nach dem Basiskurs veränderte sich ihr Auftreten. Sie hatte einen offenen, freundlichen Blick. Sie strahlte, und die Freude am Leben und der Arbeit kamen zum Ausdruck.

Eine Leitung Pflege und Betreuung berichtete mir, dass eine FaGe gekündigt hat. Sie war im Mäeutik-Basiskurs dabei, und im Anschluss daran sagte sie zur Leitung Pflege und Betreuung: „Wenn wir das mit der Mäeutik machen, dann bleibe ich.“ Sie zog ihre Kündigung zurück.  

Die Basiskurse sind für jedermann und jede Frau verständlich, also unabhängig vom Ausbildungsniveau. Keiner benötigt spezielle Vorkenntnisse. Um es mit Sokrates zum Ausdruck zu bringen: Jeder trägt das Potenzial schon in sich!

Wirkt sich die Mäeutik auch auf die Angehörigen der Pflegebedürftigen aus?

Susanne Frank-Kreft: Aus meiner bisherigen Erfahrung kann ich sagen, dass Angehörige/Bezugspersonen mehr und aktiver einbezogen und integriert werden. Es finden mehr Angehörigengespräche statt. Der Kontakt zwischen den Pflegenden und den Angehörigen/Bezugspersonen wird intensiver und lebendiger gestaltet.

Es werden mehr sogenannte „runde Tische“ durchgeführt, damit zum einen alle Beteiligten dieselben Informationen erhalten, zum anderen aber auch bewusst gemeinsame Entscheidungen getroffen werden können.

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

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