Sümeyra Öztürk ist Sozialarbeiterin (B.A.) und absolviert momentan ihren Master in Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Demenz Support Stuttgart und im Projekt „Bundesweite Initiative Demenz und Migration – DeMigranz“ tätig. 

Welche Personengruppen zählen per Definition zu den Migrantinnen und Migranten?

Sümeyra Öztürk: Die offizielle Definition des Statistischen Bundesamtes lautet: Einen Migrationshintergrund hat jeder und jede, der oder die selbst oder mindestens ein Elternteil mit einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit geboren wurde. Das gilt beispielsweise für unsere Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und ihre Nachkommen. Aber man darf nicht vergessen: Auch die Personengruppen der (Spät)-Aussiedler und Vertriebenen zählen zu der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund/-geschichte obwohl sie deutsche Volkszugehörige waren. Deswegen muss man immer ganz genau betrachten und unterscheiden, über welche Personengruppe man spricht.

Und ich denke, wenn wir einmal in der eigenen Ahnenkette forschen würden, würde sich vermutlich bei fast jedem oder jeder von uns ein Migrationshintergrund ergeben.

Haben Menschen mit Migrationshintergrund höhere Gesundheitsrisiken und damit auch ein erhöhtes Risiko an Demenz zu erkranken?

Sümeyra Öztürk: Das liegt tatsächlich ein Stück weit im Auge des Betrachters. Ich würde sagen, Menschen mit Migrationshintergrund haben andere Gesundheitsrisiken, die sich in dem Falle auch anders auf eine Demenz auswirken. Richten wir unseren Blick zum Beispiel wieder auf unsere Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes auf Herz und Nieren geprüft, bevor sie nach Deutschland einreisen konnten. Doch selbstverständlich hatten die Arbeitsbedingungen und diverse weitere Faktoren auch Einfluss auf die Gesundheit, die sich negativ auswirken können. Und von daher ist das Risiko an einer Demenz zu erkranken nicht automatisch nur an der Migration zu messen.

Aber ohne Zweifel: Das Risiko ist da – für jeden von uns!

Wie hoch ist der Anteil bei Menschen mit Migrationshintergrund, die an Demenz erkrankt sind?

Sümeyra Öztürk: Die Zahl kann lediglich geschätzt werden. Es existieren keine genauen Erfassungen und Auflistungen bei den Pflegeversicherungen oder Krankenkassen usw. Doch das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) geht in seinem „EU-Atlas: Demenz und Migration“ von 137.310 Menschen mit Demenz (Alter: 65+) aus (www.dzne.de/europa-atlas/). 

Mit welchen Schwierigkeiten und auch Ängsten haben Angehörige und Betroffene am häufigsten zu kämpfen, wenn eine Demenz diagnostiziert wird?

Sümeyra Öztürk: Die Frage ist, ob die Demenz überhaupt diagnostiziert wird? Denn die Barrieren und Hürden fangen oft bereits sehr viel früher an, sie fangen im Alltag an. Menschen ziehen sich immer weiter zurück, wenn sie beginnen zu merken, dass manche Dinge einfach nicht mehr so gut funktionieren. In vielen Migrantenfamilien gibt es einen ungeschriebenen Generationenvertrag. Er stützt sich darauf, dass sich die jüngeren Menschen selbstverständlich um die alten Menschen kümmern. So wie es die Älteren getan haben, als die Jungen noch auf Unterstützung angewiesen waren; sie haben sie großgezogen und versorgt. In dieser ungeschriebenen Übereinkunft sehen sich Angehörige – und hier zumeist die Kinder – in der Pflicht, sich um ihre hilfebedürftigen Verwandten bzw. Eltern zu kümmern. Das bedeutet, dass, solange das Thema einer aufkommenden, möglichen Demenz (zum Beispiel in Form von Vergesslichkeit) nur innerhalb der Familie aufgefangen wird, kann keine Diagnose gestellt werden. Zudem muss berücksichtigt werden, aus welchem Land und welcher Kultur die Familien kommen und wie sie die körperlichen und geistigen Veränderungen der Betroffenen wahrnehmen und damit umgehen. Andere Länder und andere Kulturen bringen andere Perspektiven und Betrachtungsweisen mit.

Das Thema Demenz ist oft mit sehr viel Scham, Angst und Zurückhaltung behaftet, so dass Familien es eher vermeiden oder sich schlichtweg nicht trauen, sich Unterstützung von außen zu holen.

Angehörige und Betroffene, die beispielsweise eine immer weiter fortschreitende Vergesslichkeit als medizinische Herausforderung betrachten und doch Hilfe von außen suchen, stoßen nicht selten auf weitere Schwierigkeiten. Denn viele Diagnoseverfahren sind auf Wort und Schrift ausgelegt, was bei Analphabetinnen und Analphabeten zu Problemen führt. Andere Diagnoseverfahren stützen sich auf Tierbilder, die zu falschen oder verzerrten Ergebnissen führen können, wenn die betroffene Person das Tier auf dem Foto nicht so einfach erkennen kann, da es in ihrer Heimat gar nicht vorkommt oder der Name des Tieres in ihrem Kulturkreis nicht oft gebräuchlich ist. Das hat auch Univ.-Prof. Dr. Özgür Onur, Leiter der Memory Clinic Köln Jülich, aufgezeigt und aus diesem Grund ein kultursensibleres Verfahren entwickelt, das jeweils mit Herkunftsland-typischen und Kulturkreis-gängigen Bildern arbeitet. Generell stellen Sprachbarrieren eine große Hürde bei der Diagnostik dar. Auch kann ein zu hohes erwartetes Bildungsniveau bei den Diagnoseverfahren eine weitere, nicht zu unterschätzende Hürde sein. Steht die Diagnose Demenz fest, können weitere Schwierigkeiten auftreten, da in Migrantenfamilien häufig die Ansicht vorherrscht, dass Menschen mit Demenz – ganz salopp formuliert – „nur komische Sachen machen“. Die Familien müssen sich nach außen öffnen und die Unterstützung auch wollen. Kontraproduktiv sind hier häufig auch patriarchalische Familienstrukturen, in denen die Älteren grundsätzlich stark geachtet, mehr bedient werden und weniger selbst aktiv sind. Hier braucht es an vielen Stellen in den Städten und Kommunen noch viel mehr Information und Aufklärung. Denn die Menschen mit Demenz sollen und müssen weiter am Leben teilhaben. Auch wenn die Diagnose Demenz gestellt wurde, sind die Betroffenen nicht von heute auf morgen unfähig und unberechenbar.

Ganz im Gegenteil, denn solange ein Mensch mit Demenz aktiv am Leben teilnimmt, kann auch Lebensfreude und -qualität bestmöglich erhalten werden. 

Wie können sich Einrichtungen auf Menschen mit Migrationshintergrund mit Demenz vorbereiten?

Sümeyra Öztürk: Hier möchte ich gern auf das Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe mit der dazugehörenden Handreichung vom Forum für eine kultursensible Altenhilfe hinweisen: https://www.demenz-und-migration.de/fileadmin/user_upload/pdf/memorandum_fuer_eine_kultursensible_Altenhilfe.pdf

Des Weiteren können sich Einrichtungen auf Bedarfe von Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz insofern vorbereiten, dass sie vor allem offen genug dafür sind, Menschen zu empfangen und ihre Lebenswelt (Traditionen, Gebräuche, Glaubensrichtungen, spirituelle Orientierung) kennenzulernen. Selbstverständlich können Einrichtungen nicht jede mögliche Sprache, die gesprochen wird, bieten. Das kann auch niemand erwarten. Aber nichtsdestotrotz können Wege gefunden werden, um eine Kommunikation aufrecht zu erhalten. Oft passiert das einfach mit Händen und Füßen oder mithilfe von Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern, die bereits in vielen Kommunen vorhanden sind und eingesetzt werden. Auch Angehörige können verstärkt eingebunden werden, da sie oft sowohl der Mutter- als auch der deutschen Sprache mächtig sind. Sie können vermitteln und „übersetzen“ – und zwar die Sprache und auch die Kultur. Im Grunde ist es eine Frage der persönlichen Haltung: der Haltung der Einrichtungsleitung und der Haltung der Angestellten. Wie offen bin ich? Interessiert mich die Person? Schätze ich die Person, die mir gegenübersitzt, wert? Und das gilt für alle Personen, unabhängig davon woher sie kommen. In diesem Zusammenhang betonen wir gern den personenzentrierten Ansatz von Tom M. Kitwood*.

Außerdem ist es hilfreich, eine eigene Bestandsanalyse in der Einrichtung zu machen: Welche Mitarbeitenden haben welche ausländischen Sprachkompetenzen? Nicht einmal das wissen viele Einrichtungen. Sie wissen nicht, welche ungenutzten wertvollen Ressourcen sie in ihrem Team haben.

Würden Sie es für sinnvoll erachten, spezielle Einrichtungen je Zielgruppe zu konzipieren?

Sümeyra Öztürk: Ja und nein. Das Problem ist, Menschen mit Demenz fallen irgendwann im Laufe ihrer Erkrankung hinsichtlich ihrer Erinnerungen in ihre Heimatsozialisation und die Muttersprache zurück.

Selbst, wenn sie die Sprache des Einwanderungslandes gelernt haben, werden sie diese im Zuge der Entwicklung ihrer Demenz vergessen.

Sprache ist mitunter das direkteste und stärkste Kommunikationsmittel, das wir haben, und von dem wir sehr viel Gebrauch machen. Zu berücksichtigen sind auch kulturelle Gegebenheiten. Ein Beispiel: Hierzulande trinken viele Menschen einfach nur einen Kaffee zum Frühstück, gegebenenfalls essen sie noch ein Marmeladenbrot dazu. Für Menschen aus der orientalischen Kultur ist es üblich, einen Frühstückstisch so reich und vielfältig zu decken, dass er auch für das Mittag- und Abendessen ausreichen könnte. In Frankreich finden Sie eher eine komprimiertere Form des Frühstücks, beispielsweise mit Kaffee und Croissant. Was ich damit sagen will, ist, dass gerade solche kulturellen Gegebenheiten von Menschen mit Demenz sehr, sehr stark gelebt werden (möchten). Das Essen hat in unserem täglichen Leben grundsätzlich einen sehr hohen Stellenwert, und wenn dann noch die Themen Vergesslichkeit und Unterstützungsbedarf im Alltag hinzukommen, wird das Essen umso wichtiger. So stellt sich die Frage, bekommt man es hin, Heimat für mehrere Kulturen unter einem Dach zu bieten? In dem Fall muss es keine Einrichtung je Zielgruppe geben. Schauen Sie sich dazu das DRK Multikulturelles Seniorenzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg an (www.drk-seniorenzentrum-am-sandberg.de/). Doch wenn man nicht alle notwendigen Ressourcen ausschöpfen und alle notwendigen Wege einleiten kann, dann sind oft kleinere, zielgruppenspezifische Einrichtungen, wie ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz, sinnvoll, die es bereits in mehreren Städten wie Berlin, Hamburg, Stuttgart und Köln gibt. 

Wie kann eine bessere interkulturelle und diversitätssensible Öffnung unseres Gesundheits- und Versorgungssystem erreicht werden, und haben Sie Erwartungen an die Politik?

Sümeyra Öztürk: Da ich selbst einen Migrationshintergrund habe, wird dies eine ganz persönliche Antwort. Meine Familie lebt in der dritten Generation in Deutschland. Und ich kann dank des Fleißes meiner Großeltern und Eltern, die als Gastarbeiter in dieses Land kamen, jeden Vorteil der körperlichen und geistigen Entwicklung, des Schul- und Bildungssystem genießen. Die ersten Gastarbeiter wurden Mitte der 1950er-Jahre in Deutschland empfangen, später kamen Aussiedler und Vertriebene hinzu. Heute schreiben wir das Jahr 2023, und wir haben eine große Anzahl an Menschen, die in anderen Ländern und Kulturen sozialisiert sind.

Bereits vor 20 Jahren gab es die erste Handreichung zur interkulturellen Öffnung in der Altenhilfe. Ich würde sagen: Wir sind verdammt spät dran!

Und es wird höchste Zeit, etwas in der Haltung zu ändern. Wenn wir uns die aktuellen politischen Entwicklungen betrachten, welche Parteien und geistigen Orientierungen vereinzelt laut werden, dann empfinde ich das als einen sehr herausfordernden Weg. Wir haben eine Nationale Demenzstrategie. In dieser Strategie werden Migrantinnen und Migranten lediglich in vereinzelten Maßnahmen und Projekten miterwähnt. Doch eine interkulturelle und diversitätssensible Öffnung umfasst das Thema viel weitreichender, und es muss eine Umsetzung in allen Bereichen stattfinden, sonst werden wir das nicht schaffen. Es geht darum, die Grundhaltung, die Offenheit für jede Kultur, jede sexuelle Orientierung, jede Geschlechterzugehörigkeit, jede Religion, jede Herkunft in die Grundversorgung, in das gesamte System hineinzubringen. Dann benötigen wir keine „Extrawürste“. Wenn die Bundesregierung oder Bundesministerien Info-Broschüren über Pflege und Versorgung veröffentlicht, dann sollten diese mehrsprachig und niedrigschwellig sein. Zugehende Arbeit ist hier extrem wichtig. Wir leben dagegen eher in Komm-Strukturen. Wir sitzen in unseren Büros und warten, dass die Menschen zu uns kommen. Doch das wird nicht passieren, wenn die Menschen (wie zu Anfang des Gesprächs beschrieben) immer wieder gegen Hürden und Barrieren anlaufen. Wir benötigen viel mehr Geh-Strukturen. Die Beratungsangebote, Informationsdienste etc. müssen dort, wo die Menschen sind, zur Verfügung stehen, in den Stadtteilen, in den Kommunen. Dort müssen die Beratenden auf die Menschen zugehen, das Gespräch suchen und signalisieren: Wir sind da, wenn ihr uns braucht!

Herzlichen Dank für das Gespräch.

* Tom M. Kitwood, „Demenz: Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten, kognitiv beeinträchtigten Menschen“, erschienen im Hogrefe Verlag, 2022, 9., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, 304 Seiten, ISBN: 978-3456861388

Veranstaltungshinweis:

Die von der Robert Bosch Stiftung geförderte bundesweite Initiative DeMigranz erreicht nach sechs Jahren ihren Abschluss. Aus diesem Grund lädt Demenz Support Stuttgart als Projektträger am Dienstag, den 10. Oktober 2023 von 9:30 Uhr bis 15:00 Uhr zu einer Onlineveranstaltung unter dem Motto „Demenz geht uns alle an, egal aus welcher Kultur!“ ein. In diesem Rahmen werden Erkenntnisse und Ergebnisse einer umfangreichen Netzwerkarbeit präsentiert sowie gute Praxisbeispiele aus den Bundesländern vorgestellt, die während der Projektlaufzeit entstanden sind. Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist begrenzt. Die kostenfreie Anmeldung für die Veranstaltung am 10. Oktober 2023 erfolgt über folgenden Link: https://www.vk-event.eu/demigranz/anmeldung.

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