Dr. Ing. Birgit Dietz, Architektin AKG, Gerontologie Univ. Zert., beschäftigt sich seit ihrer Promotion 1994 mit Themen des Gesundheitswesens und lehrt seit 2008 an der TU München das Fach „Krankenhausbau und Bauten des Gesundheitswesens“ an der Fakultät für Architektur sowie seit 2015 „Architektur für Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Menschen mit Demenz“ an der Fakultät für Medizin. 2012 begann sie mit dem Aufbau des Bayerischen Instituts für alters- und demenzsensible Architektur (BIfadA). In interdisziplinären Forschungsprojekten wird die Auswirkung des demografischen Wandels auf die Architektur untersucht. Besonderes Augenmerk legt Frau Dr. Dietz hierbei auf die wachsende Zahl von Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Um Betroffene und Angehörige bestmöglich unterstützen zu können, arbeitet Frau Dr. Dietz auch in der Produktentwicklung, hält weltweit Vorträge und Seminare und engagiert sich für die Etablierung baulicher Richtlinien in verschiedenen Gremien (https://www.bifada.de/).
Dass sich Räume und Umgebungen, in denen wir uns aufhalten, auf unser Wohlbefinden auswirken, wissen wir schon sehr lange. Doch erst nach und nach spielt die Architekturpsychologie beim Bau von Krankenhäusern, Pflegeheimen oder auch bei der Städteplanung eine immer entscheidendere Rolle. Wie hat sich im Speziellen die demenzsensible Architektur in den vergangenen Jahren verändert?
Dr. Birgit Dietz: Erste Studien und Überlegungen zu demenzsensibler Architektur kamen bereits in den 1980er-Jahren auf. Vor allem eine amerikanische Studie erfuhr damals sehr viel Aufmerksamkeit, da nachgewiesen werden konnte, dass Krankenhauspatienten, die einen direkten Blick ins Grüne hatten, schneller gesundeten, als Patienten mit ähnlichem Krankheitsbild und ohne Möglichkeiten, nach draußen zu schauen. Doch zur damaligen Zeit waren wir hier in Deutschland eher noch mit der reinen Wohnraum- bzw. Bedarfsdeckung beschäftigt. Zudem stand lange die effiziente Gestaltung von Prozessabläufen für das Personal (z. B. kürzere Wege usw.) stark im Fokus.
Seit etwa 15 bis 20 Jahren im Pflege- und seit etwa 10 Jahren im Krankenausbereich rückt aber immer mehr auch der Nutzen von und das Bedürfnis nach demenzsensibler und biophiler Architektur im Krankenhaus- und Pflegeheimbau in den Mittelpunkt.
Gerade in einer immer älter werdenden Gesellschaft (demografischer Wandel) werden diese Architekturthemen immer wichtiger. Denn die Möglichkeiten, sich im Alter selbst eine passende Umgebung zu schaffen, den Lebensraum zu wechseln, eine neue Wohnung zu mieten oder einen Garten zu kaufen, sind häufig nicht mehr gegeben. Oft müssen die betroffenen Personen nehmen, was sie bekommen oder mit dem auskommen und zufrieden sein, was bereits da ist.
Hinzu kommt, dass es in für ältere Menschen ohnehin oft schwierig zu verstehenden Umgebungen – das kann ein lautes Restaurant, ein überfüllter Bahnhof, ein neues Pflegeheim usw. sein – leicht zu Stresssituationen kommen kann. So auch z. B. in einem Krankenhaus. Über die Hälfte der Patienten in Krankenhäusern sind über 65 Jahre alt. Mehr als 40 Prozent von ihnen leiden unter kognitiven Einschränkungen und Demenz. Bei drei Viertel dieser 40 Prozent sind diese kognitiven Einschränkungen und Demenz bei Einlieferung (z. B. wegen eines Knochenbruchs) nicht vorbekannt. Diese Erkrankungen werden meist erst zwei bis drei Tage nach der Einlieferung diagnostiziert, weil der betroffene Patient entsprechende Merkmale an den Tag legt und die Krankenhausabläufe dadurch gehörig durcheinanderwirbeln kann. Es bedarf dringend einer frühzeitigeren Diagnostik und Aufklärung und auch einer entsprechend bedarfsgerechten Architektur/Innenarchitektur.
Ältere Menschen und Menschen mit Demenz nehmen Architektur sehr intensiv war. Auf was ist daher bei der Lebensraumgestaltung besonders zu achten?
Dr. Birgit Dietz: Während schon sehr lange klar ist, dass für ältere und bewegungseingeschränkte Menschen das Thema bauliche Barrierefreiheit wesentlich ist, rückt bei der Lebensraumgestaltung zusätzlich immer mehr ins Bewusstsein, dass das etwas zu kurz gedacht ist, da der Mensch seine Umwelt immer mit allen Sinnen wahrnimmt und die Umgebungsgestaltung deswegen deutlich vielschichtiger angegangen werden muss. Im Alter erfahren die Menschen üblicherweise nicht nur körperliche Einschränkungen, sondern sehen sich auch mit funktionellen Veränderungen konfrontiert, die den Geist und die unterschiedlichen Sinnesarten betreffen. Zum Beispiel verändert sich das Hören. Es wird nicht einfach nur schlechter, sondern es können bestimmte Frequenzbereiche (vor allem hohe Töne) gar nicht mehr wahrgenommen werden. Beim Sehen ist es ähnlich. Hier wird im Alter kaltes-weißes Licht, das betrifft z. B. Farbtöne Richtung blau, blaugrün und violett, nicht mehr so gut wahrgenommen. Doch darauf bleibt es nicht beschränkt, denn auch die weiteren Sinne sind betroffen, nur bemerken wir dies häufig lange nicht so deutlich: Die Leistung des Tastsinns verschlechtert sich beispielsweise ab dem 40. Lebensjahr und die Geschmacksnerven sterben im Alter ab bzw. werden weniger. Alle Sinne zusammen leiten – je älter wir werden – weniger Informationen ans Gehirn weiter, weil bestimmte Reize fehlen/ausbleiben. Das Gehirn muss also aus einem stark reduzierten Wahrnehmungsvermögen ein Gesamtbild erzeugen. Aus diesem Grund ist es extrem wichtig, Umgebungsgestaltung möglichst klar und deutlich zu machen.
Denn die nachlassenden Sinnesfähigkeiten können mit geeigneter Architektur größtenteils ausgeglichen werden.
Eine adäquate Beleuchtung für ältere Menschen sieht daher beispielsweise einen erhöhten kalt-weißen Lichtanteil vor. Dies wirkt sich zudem auf den circadianen Rhythmus aus (Synchronisation der inneren Uhr mit der Umwelt). Denn durch einen erhöhten kalt-weißen (dem Tageslicht nachempfundenen) Lichtanteil (speziell in den Morgen- und Mittagsstunden), kann sich der Körper leichter auf einen normalen Tag-Nacht-Rhythmus einstellen, da das kalt-weiße Licht die Produktion des Schlafhormons Melatonin im Körper stoppt. Es erfolgt eine Synchronisation mit der Umwelt und damit des Schlaf-Wach-Rhythmus.
Gibt es weitere Aspekte der Architektur/Innenarchitektur, die sich positiv auf ältere Menschen und Menschen mit Demenz auswirken?
Dr. Birgit Dietz: Grundsätzlich sollte über alle Sinne hinweg die Umwelt leichter, besser und eindeutig erlebbar gemacht werden, ohne Verwirrung zu stiften. Riecht ein Mensch mit Demenz Desinfektionsmittel und steht im Flur vor einer Fototapete mit Waldmotiv, dann ist das kontraproduktiv und führt zu Unsicherheiten, Unwohlsein bis hin zum Orientierungsverlust.
Für die Orientierung und das Wohlbefinden ist es besonders wichtig, Orte unverwechselbar zu machen.
Da ältere Menschen oft schlechter sehen, muss vor allen Dingen die Leuchtdichtekaskade berücksichtigt werden: helle Decken, die Wände mit angenehmen hellen Zwischentönen, dunklere Töne am Boden für einen sichereren Stand und idealerweise klar abgegrenzte Raumkanten mit Schattennuten und dunklen Fußbodenleisten o. Ä., sodass die Dreidimensionalität des Raumes ganz schnell und ohne Zweifel erkannt wird. Und zwar auch dann, wenn die Person im Bett liegt (Raumverständnis auch aus der Kopfkissenperspektive heraus). Des Weiteren können mit zusätzlichen kleineren Anpassungen Verbesserungen erzielt werden: Zum Beispiel sollte eine Tür, die ein Pflegeheimbewohner erkennen muss, klar markiert und (farblich) abgegrenzt sein. Während eine rein weiße Tür, durch die ein Pflegeheimbewohner nicht hindurchgehen soll, aus seinem Wahrnehmungsfeld und damit aus seinem Fokus rückt, wenn sie sich (ohne erkennbare Kanten) in einer weißen Wand befindet.
Gerade bei einem Umzug in eine neue Umgebung, z. B. in ein Pflegeheim, ist es wichtig, dass die „Landkarten im Kopf“ neu angelegt werden können. Wir arbeiten sehr viel mit sogenannten Leuchttürmen, das sind wichtige Orientierungspunkte und Merkposten, die Pflegeheimbewohner oder Bewohner von Alters-WGs über ihre Sinneswahrnehmungen leiten und führen: Wo sie hingehen dürfen und können, wo es leise ist, wo sie Musik hören können, wo sie Ruhe finden oder ein Schwätzchen halten können, wo sie in der Zeitung blättern können oder einen Blick ins Grüne oder auf die belebte Straße haben – je nachdem, welches Bedürfnis die jeweilige Person gerade hat. Ein Leuchtturm kann z. B. ein Vogelkäfig, ein Aquarium, ein rotes Sofa, eine große Grünpflanze, ein besonders schönes, großes Fenster usw. sein. Wir versuchen, in den Einrichtungen ganz unterschiedlich gestaltete, auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmte Räume (sichere Häfen) zu schaffen, die gerne aufgesucht werden, die Abwechslung bieten, wo man gerne verweilt, die unverwechselbar und wiedererkennbar sind und dadurch Sicherheit und Orientierung geben.
Es gilt, Tätigkeitsinseln (Lieblingsorte) zu schaffen, zwischen denen sich die Menschen je nach Stimmung frei und (selbst) aktiv bewegen können. Rundläufe, die auf Dauer ermüden oder Langeweile wie in einem Hamsterrad erzeugen, sind in jedem Falle zu vermeiden.
Weiterhin ist es von Vorteil, wenn die Räume hell angelegt sind und die Akustik gut ist – ohne zu viel Lärm oder störende Geräusche. Denn gerade Menschen mit Demenz können durch laute oder störende Geräusche verunsichert werden, da sie Geräusche oft nicht mehr eindeutig zuordnen können. Eine gemeinsame Studie mit dem Klinikum rechts der Isar unter Leitung von Prof. Janine Diehl-Schmid zeigt Folgendes: Werden Menschen, die (eigentlich nur) an einer leichten Demenz leiden, mit 16 eingespielten Umweltgeräuschen konfrontiert (z. B. Hundegebell, eine Straßenbahn, die vorbeifährt usw.), funktioniert zwar das binaurale Hören (Zuordnung, ob das Geräusch von rechts oder links kommt). Doch um was für ein Geräusch es sich tatsächlich handelt, ob es harmlos oder gefährlich ist, ob sie darauf eingehen müssen oder es einfach ignorieren können, konnten sie häufig nicht sagen. So können z. B. schon laute Lüftungsanlagen oder Kühlschränke, die anfangen zu brummen, Irritationen, Unsicherheiten, Unwohlsein oder sogar Angst hervorrufen. Stellen Sie sich vor, Sie übernachten in einem Hotel. Eine laute Klimaanlage oder einen brummenden Kühlschrank würden Sie einfach abstellen oder ignorieren, so gut es geht.
Eine Person mit Demenz ist oft nicht mehr in der Lage, die Situation richtig zu erfassen. Die Fähigkeit, den Reiz wiederzuerkennen und in die richtige Schublade abzulegen, ist verloren gegangen
Zudem sind einmal erlernte/trainierte Dinge, die auf der Zeitskala am weitesten zurückliegen, oft am längsten abrufbar (z. B. ein klassischer Stuhl, ein Telefon mit Wählscheibe oder Tasten, das Geräusch der Wählscheibe, ein Drehlichtschalter, ein Kipplichtschalter der klickt). Dinge aus der jüngeren Vergangenheit können dagegen am ehesten nicht mehr erkannt werden (z. B. ein moderner Panton Chair, die lautlosen Wischbewegungen auf einem Smartphone/Tablet, ein Tipplichtschalter ohne Klick). Man spricht von verschiedenen Layern aus Erlerntem für die gilt: Last in, First out. So kann es sein, dass ein moderner Stuhl nicht mehr zugeordnet werden kann, da der Abgleich mit dem älteren Layer „vier Beine, eine Lehne, eine Sitzfläche, zwei Armlehnen“ nicht mehr gelingt und ein neuerer Layer nicht mehr abgerufen werden kann. So bleibt der moderne Stuhl ein Ding, mit dem die Person nichts anfangen kann. Im Allgemeinen wird das, was eine Person bis zu einem Alter von 20 Jahren erlernt hat, am besten erinnert.
Welche Materialien sollten vorzugsweise bei demenzsensiblen Bauten zum Einsatz kommen?
Dr. Birgit Dietz: Wenn möglich, sollte auf jeden Fall auf natürliche Materialien zurückgegriffen werden, die mit allen Sinnen erkannt werden können. Holz bietet sich an, da es einen bestimmten Geruch hat und Erinnerungen wachrufen kann (an eine Wirtsstube, an eine Kücheneckbank, eine alte Kommode oder einen Schreibtisch). Zudem hat Holz eine gewisse Wärme und lässt sich angenehm anfassen. Während man beispielsweise auf einem Holzstuhl auch ohne Polster angenehm sitzen kann, entzieht ein Metallstuhl aufgrund seiner Leitfähigkeit dem Körper Wärme, er fühlt sich kalt an.
Dazu haben wir eine spannende Studie mit Handläufen gemacht. In der Studie haben Menschen mit Demenz immer die Handläufe aus Holz angesteuert, da diese als angenehm, weich, warm, sicher und Halt gebend empfunden wurden. Im Gegensatz dazu sind die Metall- und bunten Kunststoffhandläufe nicht gut weggekommen, obwohl gerade die Kunststoffhandläufe attraktiv aussahen. Die Metall- und Kunststoffhandläufe wurden als klebend und unangenehm eingestuft. Neben dem Material spielt zudem auch die Form eine wesentliche Rolle, denn alles, was ich in die Hand nehmen kann, hinterlässt einen bestimmten Sinneseindruck. So kann z. B. ein Türdrücker, den es – denken wir an ein Tor, ein Portal, eine Wohnungstür usw. – in einer Vielzahl an Formen und Materialien gibt, unter anderem einen positiven, negativen, beängstigenden, bekannten, vertrauten, fremdartigen Eindruck hervorrufen.
Es hat sich gezeigt, dass deutliche Unterschiede in der Materialität über alle Sinne hinweg sehr intensiv und intuitiv erlebt werden und es wichtig ist, dass verschiedene Dinge über die Sinneswahrnehmung erlebbar bleiben.
Wie wichtig ist auch eine demenzsensible Umgebungsgestaltung (Gärten usw.)?
Dr. Birgit Dietz: Möglichkeiten, nach draußen zu gehen, sei es eine Terrasse, ein Balkon, ein Garten, schätzen wir als enorm wichtig ein. Zum einen wird die lebenswichtige Vitamin-D-Bildung angeregt (Vitamin D kann vom Körper nur unter Einwirkung von Sonnenlicht hergestellt werden), zum anderen wird die bereits angesprochene Melatonin-Produktion im Körper durch Tageslicht gestoppt und die Menschen sind tagsüber fitter. Außerdem kann ein Garten (wie ein bereits oben angesprochenes Gebäude oder eine Wohnung) ganz verschiedene Tätigkeitsinseln und emotionale Lieblingsorte bieten und (ehemals) Vertrautes (wieder)erlebbar machen (ins Gespräch kommen oder im Grünen lesen, Spazieren gehen, gärtnern, Hochbeete anlegen, einen Springbrunnen anschauen, Blumen gießen). Zudem kann ein Garten für Entspannung sowohl bei Patienten/Bewohnern als auch beim Pflegepersonal und den Angehörigen sorgen. Dazu muss ein Garten sicher und eben sein. Denn es macht keinen Sinn, wenn ein Rollator im groben Kies stecken bleibt oder jemand über Baumwurzeln stolpert.
Auch in der Außengestaltung ist darauf zu achten, dass die Wege im Sinne eines hohen Hell-Dunkel- bzw. Leuchtdichtekontrastes gut erkennbar sind.
Ob ein Kontrast ausreichend ist, lässt sich sehr leicht erkennen, wenn man eine Schwarz-Weiß-Aufnahme z. B. des Weges oder einer Bank im Garten bei verschiedenen Witterungsbedingungen und Jahreszeiten anfertigt (trockener Weg über die grüne Wiese; nasser Weg bei Regen oder Schneefall). Vorteilhaft sind auch genügend Schattenplätze, die es erlauben, Schutz vor zu viel Sonne oder Nieselregen zu finden. Generell erhalten wir immer wieder die Rückmeldung, dass ein Garten ein Ort ist, in dem sich die Menschen sehr schnell heimisch und angekommen fühlen, da Natur häufig viele positive Erinnerungen weckt.
Inwieweit kann eine demenzsensible Architektur positive Effekte auf Betreuungspersonal und Angehörige haben? Kann man die Effekte messen?
Dr. Birgit Dietz: Hier möchte ich gerne ein Beispiel anbringen: Nach einer unserer aktuellen Studien lässt sich feststellen, dass Menschen mit Demenz, die oft körperlich nicht eingeschränkt sind, aber auf gewisse Hilfestellungen angewiesen sind, im Schnitt etwa 15 Minuten Betreuung beim Toilettengang benötigen. Hinzu kommt, dass ein Mensch üblicherweise (ohne Einnahme von Wassertabletten o. Ä.) etwa sechsmal pro Tag zur Toilette muss. Wir fragten uns, wie genau die Betreuungstätigkeit in den 15 Minuten aufgeschlüsselt werden kann. Dabei kam heraus, dass ein großer Teil der Zeit gar nicht für die Hilfe beim eigentlichen Toilettengang aufgewendet wird, sondern dazu gebraucht wird, die Person mit Demenz zu unterstützen, die Toilette überhaupt erstmal zu finden. Es war einfach so, dass die Betroffenen schlichtweg die Tür zum Bad bzw. zur Toilette nicht erkannten. Dieses Problem gab es auch sehr häufig im Klinikum Lichtenfels. Besonders nachts irrten die Menschen auf der Suche nach einer Toilette auf den Gängen herum. Den Grundrissen und den Abläufen der Klinik zufolge konnte ich erstmal keinen Grund dafür feststellen. Allerdings waren die Nasszellen wie Schrankwände in die Patientenzimmer eingebaut, und es kristallisierte sich heraus, dass viele Patienten schlichtweg nicht in der Lage waren zu erkennen, dass es sich dabei nicht um einen Schrank oder etwas Ähnliches, sondern um die Tür zur Toilette handelt. Die Betroffenen sind letztendlich auf der Suche nach der Toilette hinaus auf den Flur gelaufen. Dieses Verhalten kann außerdem zusätzlich auf altes Erlerntes zurückgeführt werden, da wir üblicherweise ausgehend vom Schlafzimmer über den Flur zur Toilette kommen, wenn wir nachts einmal raus müssen. Daraufhin haben wir sehr große Aufkleber, die einen Toilettenschüssel zeigen, auf gelbem Grund auf den Nasszellentüren anbringen lassen.
Nach drei Wochen Beobachtungszeit konnten wir feststellen, dass seit dem Anbringen der Aufkleber kein Patient mehr nachts auf der Suche nach der Toilettentür auf dem Flur herumgeirrt ist.
Insgesamt konnten in diesen drei Wochen 600 Minuten Pflegezeit (in dem Falle Zeit für die Patientenbegleitung, damit sie den Weg finden) beim Personal eingespart werden. Denn nun sind die Patienten in der Lage, den Toilettengang selbstständig zu erledigen. Alles, was an Kompetenz bei den zu Pflegenden bleibt, entlastet zum einen das Pflegepersonal. Zum anderen sind die zu Pflegenden deutlich entspannter, sicherer, es entwickeln sich weniger Unruhelauftendenzen, was wieder um auch positive Effekte auf die Angehörigen hat. Alle Maßnahmen, die gegen Kompetenzverlust und auf den Kompetenzerhalt wirken, machen das Miteinander auf allen Seiten entspannter. Zu diesem Thema gibt es sehr interessante Ausführungen von Prof. Dietrich Dörner (Psychologe und mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ausgezeichnet): Ein Mensch, der einen Kompetenzverlust erleidet, neigt dazu, sich zu verstecken, davonzulaufen, aggressiv zu reagieren. Das kann ein Schüler sein, der eine Sechs in Mathe geschrieben hat, oder eben auch ein Mensch mit Demenz, der das Gefühl hat, dass er nicht in die Umgebung passt, ihr nicht genügen kann. Ein Mensch, der dann nicht mehr versteht, was die anderen Menschen von ihm wollen und er letztendlich nicht mitteilen kann, was er kann und möchte. In solchen Fällen etablieren sich häufig schnell die typischen Verhaltensmuster, die wir mit einer Demenzerkrankung in Verbindung bringen (Laufen, Aggressivität). Wichtig zu wissen ist: Wenn die Rahmenbedingungen richtig sind, dann ist dies keine notwendige Entwicklung.
Denn ein Mensch wird nicht zwangsläufig aggressiv, weil er an Demenz erkrankt ist, sondern er kann eine Aggressivität entwickeln oder sich auch zurückziehen, weil er den Verlust der eigenen Kompetenz erlebt und sich deswegen unglücklich, unsicher, hilflos oder ausgeliefert fühlt.
Herzlichen Dank für dieses informative Gespräch!
Foto: © Holger Gottschall, BIfadA