Frau Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, ist seit September 2013 Mitglied des Bundestages, im Ausschuss für Gesundheit und stellvertretend in den Ausschüssen für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Menschenrechte. Frau Schulz-Asche ist Sprecherin für Pflegepolitik und Sprecherin für Altenpolitik

Was sind die ausgewiesenen Kernelemente für die Sie sich in Ihrer Partei in Bezug auf die Gesundheitspolitik (speziell im Pflegebereich) stark machen?

Kordula Schulz-Asche: Pflege ist eine interaktive, individuelle Arbeit, die ein hohes Maß an fachlicher und persönlicher Kompetenz erfordert. Die demografische Entwicklung wird dazu führen, dass immer mehr Menschen auf Pflege angewiesen sein werden. Pflege ist deshalb nicht nur system-, sondern gesellschaftsrelevant. Und das muss sich in vielen Bereichen zeigen – bei der Ausbildung, bei den Arbeitsbedingungen und bei der Ausübung der Pflege.

Wir brauchen nicht nur mehr, sondern mitunter auch besser ausgebildetes Pflegepersonal, um die Herausforderungen in der Zukunft zu meistern. Zugleich müssen die Arbeitsbedingungen verbessert werden – mithilfe einer Tarifbezahlung, mit einer Personalausstattung, die sich am Pflegebedarf ausrichtet, und die Chancen der Digitalisierung im Arbeitsalltag nutzbar macht.

Und nicht nur im ländlichen Bereich brauchen wir dringend neue, flexiblere und effizienter Versorgungsstrukturen. Auch hier wird die Digitalisierung einen immer größeren Stellenwert einnehmen, etwa wenn wir an den digitalen Arztbesuch denken.

Hier brauchen wir die Pflegekammer, um das pflegerische Berufsbild weiterzuentwickeln und eigenverantwortliche Handlungsfelder für das Pflegepersonal zu schaffen.

Neue Handlungsfelder wie ein Case-Management, ein Community Health Nursing oder eine Gesundheitsförderung an Schulen bieten attraktive Perspektiven für Pflegefachkräfte – für ein ganzes Berufsleben.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist ein bestimmendes Thema. Deutschland hinkt anderen Ländern wie zum Beispiel Dänemark immer noch stark hinterher. Welche konkreten Ansätze verfolgen Sie, um die digitale Transformation erfolgreich voranzutreiben (Strategie)?

Kordula Schulz-Asche: Die Nutzung digitaler Anwendungen im Pflegealltag ist bisher unterschiedlich stark ausgeprägt. Einige Technologien werden bereits in Pflegeeinrichtungen, ambulanten Pflegediensten oder Krankenhäusern eingesetzt, viele befinden sich aber noch in der Entwicklungsphase.

Es braucht eine Reifegradprüfung, die aufzeigt, von welchem Stand der Digitalisierung wir starten. Damit die Digitalisierung in der Pflege zukünftig erfolgreich gelingt, braucht es zu jeder Zeit die Einbindung aller Akteure, und zwar in erster Linie derjenigen, die neue Technologien am Ende nutzen sollen.

Die Perspektive des Pflegepersonals muss schon in der Entwicklung berücksichtigt werden. Denn der Einsatz digitaler Systeme kann im besten Fall das professionelle Pflegepersonal entlasten und es in seiner Arbeit unterstützen. Die Technik kann aber auch zusätzlichen Stress bedeuten, etwa wenn sie nicht funktioniert, nicht fach- und sachgerecht eingeführt wurde oder viele zusätzliche Aufgaben mit sich bringt. Deshalb gilt: Digitalisierung braucht Partizipation. Ganz wichtig ist uns Grünen: Alle Maßnahmen müssen einer Strategie folgen, die vorab entwickelt, gezielt gesteuert und laufend evaluiert wird.

Mit dem Aufbau digitaler Versorgungsketten rückt auch der Schutz der Patientendaten in den Fokus. Was ist hier angedacht?

Kordula Schulz-Asche: Eine Strategie führt nicht zum Erfolg, wenn sie Top-down durchgesetzt wird. Zusammenarbeit ist das Zauberwort. Sie muss – so wie die Anwendungen selbst – vielmehr mit den späteren Nutzerinnen und Nutzern entwickelt werden, um ihnen somit auch einen Vorteil zu bieten und das Vertrauen zu erhöhen. Die Förderung von Vertrauen in Datenschutz und Datensicherheit, von Akzeptanz, sowie der Digitalkompetenz von Patientinnen und Patienten und den Gesundheitsberufen muss ein wichtiger Baustein einer Strategie für die Digitalisierung in der Pflege sein.

Welche Chancen sehen Sie im Einsatz von Robotern in der Pflege?

Kordula Schulz-Asche: Der demografische und gesellschaftliche Wandel, der die nächsten Jahrzehnte Deutschland prägen wird, erfordert es, heute dafür zu sorgen, dem Anspruch einer würdevollen, die Pflegebedürftigen stärkenden Pflege gerecht zu werden. Bereits heute sind in der Langzeitpflege und in der Krankenpflege 40.000 Pflegestellen unbesetzt. Es wird prognostiziert, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt – bis 2035 um fast 50 Prozent. Entsprechend wird der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften steigen. Gleichzeitig wird vorhergesagt, dass im Jahr 2060 nur noch rund die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist. Und wenn 30 Prozent der Pflegekräfte über einen Pflexit, also den Ausstieg aus dem Pflegeberuf, nachdenken, ist das zu viel.

Der Barmer-Pflegereport 2020 zeigt auf, dass zusätzlich weitere 26.000 Stellen infolge eines massiven Personalausfalls im Grunde unbesetzt sind. Robotik kann helfen, das Pflegepersonal in besonderen Belastungssituationen zu entlasten.

Wichtig ist aber auch zu wissen, dass Roboter keine Pflege übernehmen und Personal ersetzen können. Und damit Roboter tatsächlich helfen können, muss unbedingt Pflegeexpertise in die Entwicklung einfließen.

Aus Ihrer Sicht: Welche weiteren Reformen insbesondere in der Pflege braucht es am dringendsten?

Kordula Schulz-Asche: Wenn alle pflegebedürftigen Menschen, die ambulant versorgt werden, morgen bei den Pflegeeinrichtungen anklopfen würden, würde das System kollabieren, ehe eine Pflegeeinrichtung die Tür geöffnet hätte. Deshalb wollen wir das ambulante Setting stärken und die vorhandenen Versorgungsstrukturen dem Pflegebedarf anpassen.

Damit Menschen länger zuhause bleiben können, braucht es Investitionen in eine Infrastruktur der Teilhabe.

Und der Pflegeberuf befähigt zur Moderation dieser Prozesse, die weit über das hinausgehen, was wir heute unter Pflege verstehen – in Deutschland. International gibt es gute Beispiele, wo diese Art von Pflege funktioniert. Heute erhalten pflegebedürftige Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen Pflegesachleistungen, die einem Geldwert je nach Pflegegrad entsprechen. Alles, was die Pflege darüber hinaus kostet, muss selbst bezahlt werden. Dieses Teilkostenprinzip hat zur Folge, dass jede Verbesserung, wie mehr Pflegepersonal oder eine angemessene tarifliche Bezahlung des Pflegepersonals, den Eigenanteil erhöht.

Wir haben mit der doppelten Pflegegarantie einen konkreten und konsensfähigen Lösungsvorschlag vorgelegt, wie wir einerseits die Eigenanteile von Pflegebedürftigen sofort senken und dauerhaft deckeln können, um andererseits die Pflege zu finanzieren, die pflegebedürftige Menschen tatsächlich brauchen.

Wir wollen außerdem, dass pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige besser informiert, beraten und, wenn notwendig, begleitet werden. Dazu sollen sie bei der Zusammenstellung und Organisation der Leistungen durch ein fachliches Fallmanagement unterstützt werden.

Wie sieht eine praktikable Finanzierung der geplanten Themen aus?

Kordula Schulz-Asche: Die gesamtgesellschaftliche Produktivität steigt seit Jahrzehnten unaufhörlich. Es ist deshalb sinnvoll, die Pflegeversicherung umzubauen – und alle Einkommensarten von allen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern zu berücksichtigen.

Wir sollten die Kosten für alle auf breitere Schultern verteilen, denn nur so kann eine solide und gerechtere Finanzierung steigender Ausgaben gewährleistet werden. Uns ist daran gelegen, Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit in der Finanzierung der Pflege zu erreichen. Deshalb streiten wir dafür, dass wir die jüngeren Generationen nicht immer höheren finanziellen Belastungen aussetzen. Und deshalb ist eine gute Pflegeversorgung in einer älter werdenden Gesellschaft nur durch eine Pflege-Bürgerversicherung gesichert.

Ein Innovationsfonds für die Pflege soll digitale Innovationen für die Versorgung in der Pflege fördern. Dazu soll die Pflegeversicherung 40 Millionen statt bislang 5 Millionen Euro zum bestehenden Innovationsfonds der Krankenkassen beisteuern, damit dieser thematisch für den Versorgungsbereich der Pflege geöffnet werden kann. Der weitere Digitalisierungsprozess muss durch eine fortlaufende Finanzierung von digitalen Anwendungen befeuert werden, die im Bezug zu den erbrachten Pflege- und Gesundheitsleistungen steht. Digitale Pflege- und Gesundheitsanwendungen, die präventive Wirkung entfalten, müssen in der Finanzierung berücksichtigt werden.

Besten Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Foto Copyright: © Tom Schweers, 2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert