In den Wohngemeinschaften Eiffler und Bauernhof-WG in Marienrachdorf (Rheinland-Pfalz) wohnen Senioren unter dem Motto „Natürlich Leben auf dem Bauernhof“. Der Hof befindet sich seit fast 250 Jahren im Besitz der heutigen Familie Pusch. Zum Bauernhof gehören Rinder, Schweine, ein Pferd, Hühner, Katzen, Gänse und seit Kurzem Alpakas. Durch den Kontakt der Senioren mit den Tieren und dem gemeinsamen Alltag werden kommunikative Fähigkeiten und das Wohlbefinden der Bewohner gestärkt. Erforderliche Hilfestellungen, die bei der Bewältigung des Alltags benötigt werden, erhalten die Senioren durch einen Pflegedienst, der 24 Stunden am Tag vor Ort ist; www.bauernhof-wohngemeinschaft.de

Herr Pusch, wie kamen Sie auf die Idee, Senioren-WGs bzw. Pflege-WGs auf dem Bauernhof zu etablieren – und mit welchem Ziel?

Guido Pusch: Wir betreiben innerhalb der Familie seit fast 250 Jahren einen Bauernhof. Als mein Großvater starb, war meine Großmutter plötzlich allein in diesem großen Haus. Sie wurde pflegebedürftig. Da ein Pflegeheimplatz nicht wirklich zur Diskussion stand, reifte in mir die Idee, auf dem Bauernhof Wohnraum für ältere und pflegebedürftige Menschen zu schaffen, um so Menschen und Tiere in einer familiären Wohnform und Lebenssituation zusammenzubringen. Durch die Betreuung und das Miteinander der Bewohner auf dem Hof würde auch die Versorgung der Großmutter in ihrer vertrauten Umgebung sichergestellt sein. Ich setzte mich mit der Beratungs- und Prüfbehörde nach dem LWTG des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung in Koblenz in Verbindung, und wir begannen mit den erforderlichen Umbaumaßnahmen aus denen die Senioren-/Pflege-WGs auf dem Bauernhof entstanden, in die sofort nach Fertigstellung die ersten Bewohner einzogen.

Gab es Vorbilder (auch aus anderen Ländern), an denen Sie sich orientiert haben und was macht Ihre Senioren- und Pflege-WGs so besonders?

Guido Pusch: Mir obliegt nicht nur der Betrieb des Bauernhofes, sondern ich bin auch weiterhin Unternehmer im Bereich Maschinenbau, habe Immobilien aufgebaut, ein eigenes Gewerbegebiet erschlossen und arbeite für die Automobilindustrie. Aus dem Wissen und der Erfahrung heraus, etwas auf die Beine stellen und realisieren zu können, habe ich mir in dem Falle keine anderen Konzepte angeschaut oder einen Businessplan erstellt, denn für mich/uns war es zuallererst eine familiäre Herausforderung: Was geschieht zukünftig mit dem Bauernhof? Wie können wir die Großmutter bestmöglich versorgen? Da war für mich das Immobilienprojekt, durch entsprechende Investitionen auf dem Bauernhof behindertengerechten Wohnraum für Senioren und Pflegebedürftige zu schaffen, eine großartige Chance, die Großmutter miteinzubeziehen.

Parallel wurde durch die Aufrechterhaltung des Bauernhofes und des laufenden landwirtschaftlichen Betriebs sowie die gemeinsame Arbeit mit den Tieren unter Einbeziehung von Pflege- und Betreuungsangeboten ein komplett natürliches Lebensumfeld für die Bewohner generiert, das sich von den üblichen Pflegeheimen und standardmäßigen Wohnformen im Alter unterscheidet.

Die Bewohner sehen sich hier nicht als Leistungsempfänger, sondern sind Teil der Gemeinschaft und werden ganz selbstverständlich in die normale Hofroutine, in die Versorgung der Tiere und den Tagesablauf integriert. Und auch für die Betreuungs- und Pflegekräfte wird eine ganz neue Arbeitsatmosphäre geschaffen. Im Januar feiern wir unser 10-jähriges Bestehen, und wir freuen uns seit Jahren über viele, auch internationale Besucher. Die Besucher kommen zum einen aus privatem Interesse und zum anderen aus pflegerelevanten Fachbranchen, die sich über unser Konzept informieren und davon lernen möchten. 

Wie funktioniert das Zusammenleben der Senioren, die sich ja im Alter, im Grad ihrer körperlichen und geistigen Fitness oder auch anderer Einschränkungen unterscheiden, und wie werden einzelne Tätigkeiten „verteilt“?

Guido Pusch: Die großen Vorbereitungsarbeiten, die in der Landwirtschaft notwendig sind, um einen Betrieb am Laufen zu halten, werden durch mich bzw. uns getragen und durchgeführt. Parallel dazu laden wir die Senioren zu den unterschiedlichen Aktivitäten ein und geben ihnen immer wieder Gelegenheiten, mitzumachen. Zurzeit läuft zum Beispiel die Heuernte. Hier können die Senioren mitfahren, mähen, das getrocknete Gras einbringen und auch mal selbst den Traktor steuern. Wir bieten die Möglichkeit, bei den Tiergeburten dabei zu sein oder organisieren Schlachtfeste und vieles, vieles mehr. Auf einem Bauernhof gibt es immer etwas zu tun.

Doch jeder Bewohner entscheidet selbst, wo und wie viel er sich einbringen möchte. Und das hängt ganz stark von den eigenen Interessen und Befindlichkeiten ab.

Die einen füttern die Gänse oder die Schweine, die anderen gehen mit den Alpakas spazieren oder striegeln die Ponys und wieder andere Bewohner schauen nach den Hühnern, sammeln die Eier ein oder helfen beim Setzen der Kartoffeln und beim Anlegen von Gemüsebeeten. Es gibt die vielfältigsten Aufgaben, und für jeden ist etwas dabei. 

Zudem haben Sie 2019 den Pflegedienst Natürlich (www.pflegedienst-natuerlich.de) gegründet, und Sie sind selbst Träger der WGs. Wie kam es dazu und welche (Pflege- und Betreuungs-)Leistungen bieten Sie an?

Guido Pusch: Etwa 8 Jahre lang haben wir auf die Dienste eines ambulanten Pflegedienstes zurückgegriffen, der ein Trägerkonzept einer häuslichen Wohngemeinschaft bei uns auf dem Hof realisierte.

Dieser Pflegedienst wurde größer und bot nach einigen Jahren externe Tagespflegeplätze an und wollte Bewohner in die Tagespflege übersiedeln. Das gefiel mir nicht, da es unserer Infrastruktur und dem eigentlichen Konzept unseres Zusammenlebens und der Betreuung und der Pflege direkt auf dem Bauernhof widersprach.

Ich habe gebeten, innerhalb der Trägerschaft das Konzept „Bauernhof & Senioren“ weiterzuentwickeln, doch es mangelte an Interesse seitens des ambulanten Pflegedienstes. Nach Gesprächen auch mit anderen ambulanten Pflegediensten war mir klar, dass ich die Sache selbst in die Hand nehmen muss. Die Entscheidung, einen eigenen Pflegedienst zu gründen, war gefallen. Ich bin seit 24 Jahren umfassend unternehmerisch tätig, und so habe ich mich mit der federführenden Prüfbehörde der Krankenkassenzentrale der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland in Eisenberg in Verbindung gesetzt, um die nötigen Vertragsvereinbarungen zu treffen. Ich stieß auf Skepsis, da ich mir für die Gründung des eigenen Pflegedienstes einen Zeitraum von 5 Monaten gesetzt hatte. Man prophezeite mir eine Zeit von etwa 1-2 Jahren – da die Prüfung allein 3 Monate dauert und auch aufgrund des anhaltenden Fachkräftemangels im Pflegebereich. Um mehr Transparenz zu schaffen und auch um zu zeigen, was wir machen, wie wir arbeiten, wie sich die Menschen mit unserem Projekt identifizieren, hatte ich glücklicherweise einige Zeit vorher eine Facebook-Seite unserer Senioren-WG auf dem Bauernhof erstellt. Über diesen Social-Media-Kanal poste ich regelmäßig Szenen aus dem Leben auf unserem Hof und von den Aktivitäten der Senioren (www.facebook.com/Senioren-WG-Marienrachdorf-1081136315402263). Über diese Seite startete ich auch einen Aufruf bzw. eine Suche nach geeignetem Fachpersonal.

Ich erhielt innerhalb kürzester Zeit über 100 Bewerbungen und konnte sofort 18 Mitarbeiter fest anstellen.

Und tatsächlich: Nach 5 Monaten konnte der Pflegedienst seine Arbeit beginnen. Unsere Mitarbeiter arbeiten im Früh-, Spät- und Nachtdienst. So können wir täglich 24 Stunden lang die Hauswirtschaft, die Alltagsbetreuung sowie die häusliche und medizinische Pflege unter professioneller Leitung sicherstellen. So wie meine Familie und ich, wohnen auch die Mitarbeiter nicht auf dem Bauernhof. Das finde ich wichtig, um auch einen gewissen Abstand zu haben (denn Menschen mit Demenz können sehr anstrengend sein) und die Professionalität aufrechtzuerhalten. Wenn wir auf dem Bauernhof sind, bringen wir unsere Leistungen ein, wir benötigen aber alle auch die privaten Rückzugsmöglichkeiten und den eigenen Bereich in unseren Familien. Übrigens genauso, wie die Senioren in der Bauernhofgemeinschaft ebenfalls ihre eigenen Bereiche brauchen.

Gibt es spezielle Angebote für Menschen mit Demenz?

Guido Pusch: Der Bauernhof selbst, mit allem, was dazu gehört, ist das Angebot für Menschen mit Demenz. Es ist immer wieder erstaunlich, welche überaus positiven Effekte das Zusammenleben mit den Tieren zutage fördert. Wir haben in den Jahren ganz viel dazugelernt. Was gut funktioniert, entwickeln wir konzeptionell weiter, was nicht klappt, das wird nicht weiterverfolgt. Wir sind in der Lage, uns flexibel, schnell und individuell auf die jeweiligen Situationen einzulassen und zu agieren. Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen. Bei uns lebt schon seit einigen Jahren eine Dame mit einer fortgeschrittenen Demenz. Sie öffnet die Schränke und holt sämtliche Gläser und Tassen heraus, die sie finden kann, um sie mit Wasser, Saft und Limo aufzufüllen. Sie tut das im festen Glauben daran, dass die Verwandtschaft bald eintreffen wird. Wie geht man mit dieser Frau um? Versuche ich, sie davon abzubringen, die Gläser und Tassen zu füllen, versetzt sie das in zusätzlichen Stress, da sie aus ihrer Wahrnehmung heraus daran gehindert wird, ihre für den Besuch notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Sie wird von allein nicht aus dieser Situation herauskommen können, sie bleibt in ihrer Gedankenwelt des nahenden Besuchs gefangen und wird nicht zur Ruhe kommen. So nehmen wir sie an der Hand und erzählen ihr von den Hühnern, die Futter brauchen und von den frischen Eiern, die sie gelegt haben, und die wir gemeinsam einsammeln können. Sobald wir das Haus verlassen und ein paar Meter über den Hof gehen, liegt der Fokus auf den Tieren, die Frau wird sofort ruhiger, hat den Besuch vergessen und ist gelöst. Egal, wie der Tag weiter verläuft, sie ist erst einmal aus der belastenden Begebenheit befreit.

Wir können so Situationen für an Demenz erkrankte Personen allein mit der therapeutischen Wirkung von Tieren auflösen.

Zudem haben wir den Vorteil, dass die Menschen direkt auf dem Hof mit den Tieren Leben, 24 Stunden lang, 7 Tage die Woche. Es gibt die aktiven Bewohner, die sich rege beteiligen, und es gibt die eher inaktiven Bewohner, die das ganze Treiben beobachten und doch bewusst mit aufnehmen. Insgesamt stellen wir bei allen einen hohen Grad an Zufriedenheit fest, und das Wohlbefinden der Senioren ist über den Tagesverlauf positiv. Um das zu untermauern, möchte ich noch ein Beispiel von einem Herren geben, der seit Kurzem auf eigenen Wunsch bei uns ist. Er leidet an einer beginnenden Demenz. Seine Frau wohnt etwa 100 km entfernt und besucht ihn regelmäßig, und während unserer Feedbackgesprächs erzählte sie mir, wie froh sie darüber sei, dass ihr Mann hier auf dem Hof leben kann. Er sei so glücklich, und das würde im krassen Gegensatz zu manch anderen Senioren- und Pflegeeinrichtungen stehen (vor allem in Corona-Zeiten und den eingeschränkten Besuchsrechten). Das sind tolle und motivierende Rückmeldungen!

Aufgrund der Corona-Pandemie hatten auch wir einen dreimonatigen Besucherstopp, doch der laufende landwirtschaftliche Betrieb und die Tiere haben die Menschen stabil gehalten. Es traten weder Frustrationen noch Blockaden auf, da es keinerlei Einschränkungen im Tagesablauf bzw. in ihrer Lebensgemeinschaft gab.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Guido Pusch: Ich werde einen ganz neuen Pflegebauernhof auf der grünen Wiese bauen, und er soll Maßstäbe setzen. Als Baubeginn strebe ich das Jahr 2022 an, und es sollen Wohneinheiten für 100 Bewohner entstehen. Die Machbarkeitsstudie ist bereits aufgestellt, und wird hoffentlich durch die Europäische Union gefördert. Denn Fachstudien und Bewertungen sollen auf breiter Basis laufen. Mit diesen Erkenntnissen soll dann gebaut werden. Mein Ziel ist es, dass man sagen wird: Da gab es die Zeit davor, und das ist nun die Zeit danach. Es ist das große Thema „der Mensch und das Tier und das Leben mit den natürlichen Tätigkeiten“. Das ist das Zukunftsprojekt. Ich spüre, aus all dem positiven Feedback, dass ich hier tagtäglich an der vordersten Front erhalte, wie sich die Gesellschaft wandelt.

Die Gesellschaft wünscht sich und braucht neue Konzepte und Angebote in der Seniorenbetreuung und der Pflege.

Ich stehe zudem im Kontakt mit der Politik und Altenheimen. Denn ich möchte landwirtschaftliche Themen und Tiere auch in das normale, traditionelle Heim professionell einbringen. Eine Idee ist, ein Hühnermobil mit etwa 30 bis 40 Hühnern interessierten Pflegeeinrichtungen für 6-8 Wochen zur Verfügung zu stellen, um so die Bewohner zum Mitmachen zu motivieren. Sie können die Tiere füttern, beobachten, Eier einsammeln und darauf gemeinsam etwas Leckeres kochen oder backen. Meine Vision ist es, dass Pflegeimmobilien in Zukunft konzeptionell anders gestaltet werden. Schon jetzt richtet sich das Augenmerk ja verstärkt auf Quartierslösungen mit Kindergärten, Geschäften, diversen Freizeitmöglichkeiten usw. Doch ganz wichtig ist es mir, dass wir auch den Platz für Tiere in die Pflegeinfrastruktur fest einbinden. Und genau dazu möchte ich – aufgrund der tollen Erfahrungen und der vielen, vielen anerkennenden Rückmeldungen von den Bewohnern auf dem Bauernhof, von deren Angehörigen, von Verantwortlichen und Fachkräften aus der Pflegebranche – einen Teil beitragen. Für mich ist es ein Skandal, dass es immer noch Einrichtungen gibt, in denen der Mensch und sein Tier nicht gemeinsam aufgenommen werden und der Mensch daran seelisch und emotional zerbrechen kann.

Deswegen möchte ich mit meinem neuen Pflegebauernhof einen innovativen Weg beschreiten, um aufzuzeigen und zu beweisen, dass es auch anders geht. Und das nicht nur für das Wohlergehen der Bewohner, sondern auch für die Zufriedenheit des Pflegepersonals.

Es geht nicht darum, ein paar Hühner oder Kaninchen in einen Käfig zu sperren und sich daran zu erfreuen. Es geht dabei um das Konzept, das umfassende Versorgen und Pflegen der Tiere, die Tierhaltung in ihrem gesamten Kreislauf, professionell in den gemeinschaftlichen Pflege- und Lebensalltag zu integrieren und sich die positiven Effekte, die Tiere auf Menschen haben, zunutze zu machen – auf Seiten der Bewohner genauso wie auf Seiten des Pflegepersonals. Es ist sehr schwierig, die großartigen Erfahrungen des pulsierenden Lebens, die wir Tag für Tag machen, zu beschreiben. Man muss es sehen und erleben. Und ich möchte diese Erfahrungen auf das nächste Level heben, um damit einen Wandel im Denken unserer Gesellschaft und auch bei den Pflegeimmobilieninvestoren zu erreichen.

Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

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