Vera Neukirchen studierte Kunstgeschichte, Anglistik und Städtebau an den Universitäten Bonn und Wien. Daraufhin folgten berufliche Stationen in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, am Museum of Modern Art in New York (Museum Professional Program), am Deutschen Hygiene-Museum Dresden sowie als stellv. Geschäftsführerin des Deutschen Museumsbundes in Dresden und Berlin. Hier entwickelte und begleitete sie u. a. nationale Vermittlungsprojekte wie schule@museum, museumsbildet, Museum: Kulturelle Vielfalt und Migration sowie Museum macht stark (im Rahmen der Bundesinitiative Kultur macht stark). Seit 2013 leitet Vera Neukirchen den Museumsdienst Hamburg. Zu den Aufgaben gehören die Vermittlung und Kommunikation der Bildungsprogramme der Museen an die Öffentlichkeit, die Organisation der Langen Nacht der Museen, die Konzeption und Durchführung interkultureller und inklusiver Projekte für unterschiedlichste Zielgruppen an Hamburger Museen. Der Museumsdienst war 2018 Mitinitiator von „Kaleidoskop – Führungen für Menschen mit Demenz in Hamburger Museen“.  Weitere Infos unter www.museumsdienst-hamburg.de 

Sie leiten den Hamburger Museumsdienst. Erzählen Sie uns bitte, mit welchen Themen beschäftigt sich der Museumsdienst bzw. um welche Aufgaben kümmert sich der Dienst genau?

Vera Neukirchen: Seit 40 Jahren steht der Museumsdienst in Hamburg an der Schnittstelle zwischen Museen und Öffentlichkeit. Er berät Gruppen zu ihrer Wunschführung in einem der 30 dem Museumsdienst angeschlossenen Museen und Gedenkstätten und richtet sich gleichermaßen an kunstbegeistere Erwachsene, Eltern von Kindern, die ihren Geburtstag mit Freunden im Museum feiern möchten ebenso wie Lehrer, die mit ihren Schülern Gedenkstätten oder historische Museen besuchen möchten. Wir nehmen alle Museumsinteressierten an die Hand, um aus mehr als 700 Vermittlungsangeboten das passgenaue Angebot zu ermitteln und zu buchen. Für die vielfältigen Vermittlungsformate stehen rund 320 qualifizierte Guides in den Hamburger Museen für dialogische Museumsgespräche, Angebote mit kreativem Praxisanteil, 5-stündige Projekttage oder Ferienangebote zur Verfügung.

Gemeinsam mit den Hamburger Museen arbeitet der Museumsdienst beständig an der Weiterentwicklung der Formate für die unterschiedlichste Bedarfe unserer Besucher:

Das sind  z. B. Führungen in unterschiedlichen Sprachen, darunter Deutsche Gebärdensprache, Angebote und Workshops, die sich an kleinere Gruppen richten, an den Interessen und Lebenswelten junger Menschen orientieren und durch aktives Mitmachen begeistern sowie schließlich auch eine Großveranstaltung wie die Lange Nacht der Museen, die sich an Museumsbegeisterte, Erstbesucher und Nachtschwärmer wendet. Nur eine hohe Differenzierung der Angebote ermöglicht einen Zugang für möglichst viele – das ist unser Ziel für die Museen. 

Seit einiger Zeit bieten Sie mit der Initiative „Kaleidoskop“ konkrete Angebote für Menschen mit Demenz. „Kaleidoskop“ ist eine gemeinsame Initiative des Museumsdienstes Hamburg und der Hamburger Museen gefördert durch die Körber-Stiftung, die Stiftung Kulturglück und das Bezirksamt Altona, und sie ermöglicht Interessierten die kostenfreie Teilnahme an Führungen. Wie kam es dazu, Menschen mit Demenz in den Fokus zu rücken – und was sind die ausgewiesenen Ziele?

Vera Neukirchen:  Nicht zuletzt die Diskussion um den demografischen Wandel hat in den Museen in den letzten Jahren einen Prozess angeschoben, Angebote immer weiter zu differenzieren. Einher ging die Erkenntnis, dass die Museen als öffentliche Einrichtungen auch für demenziell erkrankte Menschen ein besonderes Erlebnis in einem geschützten Rahmen zur Verfügung stellen können. Die Erfahrung mit diesen demenzsensiblen Führungen ist in Hamburg, wie auch deutschlandweit, sehr positiv: Die (Wieder-)Begegnung der Teilnehmer mit einem Museum, die Betrachtung von  Bildern in Kunstmuseen, die durch ihre Farben, Formen und Sujets auf sie wirken, wie auch geweckte Erinnerungen (z. B. in historischen Museen) an eine Welt, die die Teilnehmer in ihrer Kindheit erlebt haben, wirkt stimulierend und bietet ihnen Zugänge zu sich selbst, zu ihren Erfahrungswelten, Gefühlen, Erinnerungen und Gedanken. Die Führungen bieten ausreichend Raum, um am Beispiel weniger, ausgewählter Exponate unseren Gästen viel Zeit zu geben, auf das Gesehene zu fokussieren. Die Guides haben in kleinen Gruppen bis 8 Personen, häufig begleitet durch einen zweiten Guide, zudem die Möglichkeit, auf unerwartete Befindlichkeiten behutsam eingehen zu können. Für die Teilnehmer wünschen wir uns vor allem, ihnen ein möglichst schönes Erlebnis zu ermöglichen.

Grundsätzlich zielt die Initiative darauf ab, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe demenziell erkrankter Menschen zu fördern, ihrer drohenden Isolation und Vereinsamung Teilhabemöglichkeiten entgegenzusetzen und damit zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beizutragen.

Der Schulterschluss des Museumsdienstes und der Museen hat zum Ziel, die Möglichkeit zur Teilnahme an diesen kostenfreien Angeboten weithin sichtbar zu machen. Wir sind sehr glücklich, dass sich die uns unterstützenden Stiftungen und Einrichtungen den gleichen Zielen verschrieben haben und die Umsetzung der „Kaleidoskop“-Angebote bereits über einen langen Zeitraum fördern. Um diese Angebote jedoch auch langfristig aufrecht erhalten zu können, bedarf es zukünftig auch der staatlichen Förderung. 

Wie wird die Initiative angenommen? Wie hat sie sich seit ihrem Start entwickelt?

Vera Neukirchen: Sie wird sehr gut angenommen, viele Altenheime und Tagestreffgruppen kommen regelmäßig in die Museen. In vielen Fällen macht es Sinn, dass die Museumspädagogen den bereits geschlossenen Kontakt pflegen, denn die Pflegekräfte schaffen es in ihrem angespannten Alltag meist nicht, die Besuche von sich aus einzuplanen und zu buchen. Wenn wir uns dort regelmäßig melden, dann klappt das aber gut. Denn die Museen arbeiten mit vielen Einrichtungen seit Jahren zusammen. Der Kreis der Besucher wird regelmäßig ausgeweitet, in dem wir gezielt Pflegeheime und Tagestreffs ansprechen. Die Resonanz darauf ist außergewöhnlich gut. Fast immer kommen Besuche in Museen zustande.

Die Hamburger Kunsthalle war mit den Angeboten für Menschen mit Demenz in Hamburg Vorreiter und blickt mittlerweile auf viele Jahre Erfahrung zurück.

Die Initiative bündelt nun die demenzsensiblen Angebote der Hamburger Museen – historische und Kunstmuseen – und veröffentlicht diese regelmäßig in einem Flyer. Wichtig und erforderlich ist es, Kontinuität zu schaffen und für Nachhaltigkeit zu sorgen. Das erfordert Einsatz und Ausdauer: Demenzsensible Führungen in Museen sprechen sich mehr und mehr rum, und es melden sich inzwischen auch vereinzelt Menschen, die gezielt nach dem Angebot fragen. Das ist für uns ein großer Erfolg und wir freuen uns auf jeden und auch auf die pflegenden Angehörigen, die von sich aus auf uns zukommen. 

Wie schaffen Sie es, Menschen mit Demenz für längere Zeit für Ihre Angebote zu gewinnen? Oder anders formuliert: Durch was zeichnen sich die demenzsensiblen Führungen aus?

Vera Neukirchen: Die Führungen sind völlig anders als die üblichen Führungen. Die speziell qualifizierten Guides haben alle mehrere Fortbildungen besucht, um zu lernen, nicht nur das Tempo rauszunehmen, sondern den demenziell erkrankten Menschen für ihre ganz besondere Herangehensweise Raum zu geben. Mit der Zeit konnten die Guides genug Erfahrungen darin sammeln und können gut auf Beiträge der dementen Besucher eingehen, sodass selbst die Betreuer oftmals über die Fähigkeiten ihrer Gruppe staunen. Anja Grosse, Guide in der Hamburger Kunsthalle und Museum am Rothenbaum, sagt dazu: „Man muss ein bisschen zwischen den Zeilen lesen. Die Menschen mit Demenz haben viel zu sagen, und durch die Kunst fühlen Sie sich oft ermutigt, Gedanken auszudrücken, die sie normalerweise für sich behalten. Auch Menschen, die gar nicht mehr sprechen, drücken oft durch Blickkontakt aus, dass sie dem Gespräch folgen.“ In den Führungen nutzen die Guides auch themenbezogene Gegenstände, um sinnliche Erfahrung auf mehreren Ebenen zu ermöglichen, die den Teilnehmern den Einstieg in die Veranstaltung erleichtern. Die nachfolgenden Gespräche in den Pflegeheimen und Tagestreffs ergeben oft, dass sich die Besucher sehr wohl gefühlt haben bei ihrem Museumsbesuch und das Angebot genossen haben. Dadurch kommen alle Gruppen gerne wieder. Bisher haben wir es noch nicht erlebt, dass eine Gruppe sich negativ geäußert hätte und den Besuch nicht gerne wiederholen wollte. Bei Rückkehr erinnern sich die Teilnehmer häufig an den Ort, d. h. das Museum, auch wenn sie sich nicht an die Führung oder einzelne Kunstwerke erinnern können. Sie erinnern sich einfach an einen Ort, an dem sie gerne waren und freuen sich, wieder da zu sein!

Wie werden die Museumsführer auf den Umgang mit Demenzpatienten vorbereitet/geschult?

Vera Neukirchen: Die Guides haben mehrere Fortbildungen bei Fachleuten besucht und frischen ihre Kenntnisse in Weiterbildungen auf, darunter bei Michael Ganß und Peter Sinapius von der Hamburger Medical School sowie Sybille Kastner, ausgewiesener Expertin für Führungen für Menschen mit Demenz am Duisburger Lehmbruck-Museum. Die Guides sind im beständigen Kontakt mit dem Pflegepersonal und den Gruppenleitern und besprechen deren Rückmeldungen im Team. Darüber hinaus wird z. B. in der Kunsthalle zweimal im Jahr eine Supervision mit einem Psychologen für Guides durchgeführt. Alle Fortbildungen und die kostenlosen Angebote wären ohne die großzügige Unterstützung unserer Förderer, der Körber Stiftung, der Stiftung Kulturglück usw. nicht realisierbar.

Nehmen auch Angehörige und/oder andere nicht an Demenz erkrankte Personen an den Führungen teil?

Vera Neukirchen: Von Museumsseite sehr gerne! Es wird von den Gruppen jedoch unterschiedlich gehandhabt und hängt davon ab, ob es eine geschlossene Gruppe ist oder ein offener Termin für Einzelbesucher. Einige Gruppenbesuche, wie zum Beispiel solche, die über die Alzheimer Gesellschaft organisiert werden, kommen gerne zusammen mit den Angehörigen. Auch bei den öffentlichen Angeboten nehmen in der Regel die Angehörigen teil. Bei Pflegeeinrichtungen hingegen kommen fast immer Bewohner mit Pflegepersonal ohne Angehörige.

Können wir uns von den Menschen mit Demenz auch etwas im Umgang mit Kunst und Malerei abschauen? 

Vera Neukirchen: Auf jeden Fall! Menschen mit Demenz leben mehr in der Gegenwart und haben oftmals – im Gegensatz zu anderen Erwachsenen – keine Hemmungen, sich direkt und ehrlich zu äußern. Ihre Einschätzungen sind auch häufig überraschend. Dabei gibt es viel zu lachen, und das lockert die Atmosphäre auch für die begleitenden Angehörigen und Pflegekräfte auf. Diese werden ebenfalls ermutigt, einfach zu sagen, was sie in dem Moment denken, ohne lange zu überlegen, ob es schlau klingt oder gebildet wirkt.

Wir können lernen, uns auf das Unmittelbare, auf den direkten Eindruck im Jetzt zu konzentrieren, wenn wir ein Kunstwerk betrachten. Das bedeutet nicht, die Gedanken auszuschalten und nur noch über Gefühle zu reden, sondern den geistigen Überbau nicht über die Wahrnehmung und die unmittelbare Erfahrung zu stellen, und das halten wir im Umgang mit Kunst und Kultur für eine wertvolle Bereicherung. 

Ich bedanke mich auch ganz herzlich bei Anja Grosse, langjähriger Guide in der Hamburger Kunsthalle, die mit Auskünften zu den Führungen für Menschen mit Demenz aus ihrem großen Erfahrungsschatz Auskunft gab.

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

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