Am 11. Januar 2021 wurde Klaus Holetschek (CSU) durch Ministerpräsident Dr. Markus Söder zum Staatsminister im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege berufen. In diesem Interview gibt Herr Holetschek einen Überblick über die Pflegebedarfssituation und die weiteren Pflegestrategien in Bayern.
Da mit zunehmendem Alter das Risiko steigt, pflegebedürftig zu werden, wird auch die Zahl der Pflegebedürftigen und damit auch der Bedarf an Pflegekräften weiterwachsen. Wie kann/muss Bayern auf diese Entwicklung reagieren (Pflegebedarfsprognose)?
Klaus Holetschek: Wir müssen insbesondere den Pflegeberuf attraktiver machen und hierfür die Rahmenbedingungen schaffen. Hier wurde auf Bundesebene – etwa mit der „Konzertierten Aktion Pflege“ – einiges angestoßen, aber eben lange noch nicht genug. Auch in Bayern setzen wir seit Jahren verschiedene Maßnahmen erfolgreich um. Im Ergebnis müssen attraktive Arbeitsbedingungen von den Pflegeeinrichtungen vor Ort geboten werden.
Und gute Arbeitsbedingungen finden sich nachhaltig nur in einem solide finanzierten System.
Auch die Länder müssen in Versorgungsstrukturen investieren. In Bayern hat sich die Ausrichtung der Investitionskostenförderrichtlinie ,,PflegesoNah“ bewährt. Mit ihr wollen wir die pflegerische Versorgungsstruktur weiter ausbauen und verbessern – bedarfsgerecht, flächendeckend, regional ausgerichtet, demenzsensibel und barrierefrei. In diesem Jahr fördern wir 29 Projekte mit knapp 79 Millionen Euro und schaffen damit rund 1.500 zusätzliche Pflegeplätze in Bayern. Und wir fördern bei der Schaffung von Pflegeheimen gezielt kleinere Pflegeeinrichtungen sowie Heime, die sich mit kleineren Standorten auf mehrere Orte verteilen.
Dies alles sind Bestandteile unserer Strategie „Gute Pflege. Daheim in Bayern.“ Wir müssen zugleich die häusliche Pflege stärken. Dafür legen wir zum einen Schwerpunkte auf die Schaffung von Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflegeplätzen.
Zum anderen wollen wir personenzentrierte Angebote wie Gemeindeschwestern ausbauen, eine bayernweite digitale Börse für pflegerische Angebote etablieren und weitere Unterstützungsstrukturen für häuslich Pflegende schaffen.
Wie kann es zukünftig gelingen, Pflegekräfte dauerhaft in ihrem Beruf zu halten?
Und wie können neue Beschäftigte für den Pflegeberuf gewonnen werden?
Klaus Holetschek: Zunächst einmal hat sich der Pflegeberuf durchaus auch positiv entwickelt. Seit Einführung der Pflegeversicherung steigen die Beschäftigtenzahlen stetig. Auch die Löhne sind überdurchschnittlich gestiegen.
Eine große Herausforderung ist die merklich wachsende Zahl der Pflegebedürftigen. Seit Jahren wird daher sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene einiges getan, um durch die Erhöhung der Attraktivität des Pflegeberufs möglichst viele Pflegekräfte zu gewinnen. Dazu gehört auch die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung und die Konzertierte Aktion Pflege. Auf Landesebene setzen wir uns mit zahlreichen Maßnahmen schon lange für den Pflegeberuf ein. Beispielhaft nennen möchte ich das neue Pflegestipendium, die Mentoren für Pflege, die Förderung der Supervision und die neue Imagekampagne „Neue Pflege“, die am 14. September in einer Auftaktveranstaltung mit Dr. Eckart von Hirschhausen an den Start geht und die Professionalität der beruflich Pflegenden in den Vordergrund stellt.
Ein Meilenstein ist die seit diesem Monat geltende neue Tariflohnpflicht für Pflegeeinrichtungen. Die flächendeckende Zahlung von Tariflöhnen entspricht einer jahrelangen bayerischen Forderung.
Auch die Akademisierung des Berufs ist wichtig, um neue Zielgruppen für die Pflege zu begeistern.
Bayern hat deshalb sogar ein eigenes Stipendienprogramm für das primärqualifizierende Pflegestudium auf den Weg gebracht: Die Förderrichtlinie ist rechtzeitig zum Beginn des Wintersemesters 2022 in Kraft getreten. Hierfür haben wir im Haushalt zwölf Millionen Euro vorgesehen.
An einer Stellschraube für die Attraktivität des Pflegeberufs können vor allem die Arbeitgeber drehen:
Denn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, verlässliche Dienstpläne und die Möglichkeiten von Weiterbildungen sind neben der Bezahlung entscheidende Faktoren. Auch Kommunen können durch Kinderbetreuungsangebote und bezahlbaren Wohnraum Anreize setzen.
Letztlich muss die gesamte Gesellschaft den Pflegenden die verdiente Wertschätzung entgegenbringen, das können wir nicht staatlich verordnen.
Was erwarten Sie von der Bundesregierung? Welche Rahmenbedingungen und pflegerische Reformen sind strukturell dringend notwendig?
Klaus Holetschek: Wir brauchen eine umfassende Struktur- und Finanzreform der Pflegeversicherung. Ich habe bereits einen eigenen Reformvorschlag mit Eckpunkten für eine zukunftsfeste Pflegereform vorgelegt. Es bedarf schlankerer und abgestimmter Strukturen anstelle immer komplexerer Regelungen. Wir müssen konsequent vereinfachen, flexibilisieren und entlasten!
Wir können es uns nicht leisten, Pflegebedürftige, Pflegekräfte und Pflegeanbieter mit vermeidbaren komplexen Strukturen rechtlicher, abrechnungstechnischer und organisatorischer Art davon abzuhalten, sich um die bestmögliche Versorgung zu kümmern.
Korrekturen am bestehenden System sind nicht ausreichend. Erforderlich ist eine konsequente Neuausrichtung des Systems an den Pflegebedürftigen und den Pflegenden. Wir brauchen belastbare Versorgungsstrukturen vor Ort, auch um Angehörigenpflege zu unterstützen.
Und wie sollten sich aus Ihrer Sicht Finanzierungsstrukturen ändern/anpassen?
Klaus Holetschek:
Wir müssen insbesondere die Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung im Leistungsrecht der Pflegeversicherung aufheben und die Kosten der medizinischen Behandlungspflege unabhängig vom Ort der Versorgung voll durch die Pflegeversicherung refinanzieren.
Die finanzielle Entlastung der Heimbewohnerinnen und -bewohner wäre deutlich spürbar. Vor allem brauchen wir eine verbindliche regelmäßige Dynamisierung der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung. Außerdem sollte die Pflegeversicherung bei überdurchschnittlich langen Pflegeverläufen – insbesondere bei Pflegebedürftigkeit bereits in jungem oder mittlerem Alter – die Betroffenen und ihre Familien vollständig von Eigenanteilen entlasten.
Zudem sollten die Kosten der Ausbildung nicht auf die Pflegebedürftigen umgelegt werden, sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Hier handelt es sich schließlich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Zur Refinanzierung brauchen wir einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung zumindest für versicherungsfremde Leistungen wie zum Beispiel die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige. Nicht zuletzt brauchen wir ein steuerfinanziertes Pflegezeitgeld, um Angehörigen eine pflegebedingte Auszeit aus dem Beruf zu ermöglichen.
Was Finanzierungsstrukturen generell angeht, sind Reformen dringend nötig. Neben der Tariflohnpflicht seien als großer Kostentreiber die stark gestiegenen und weiter steigenden Energiekosten genannt.
Die entstehenden Mehrkosten dürfen jedoch nicht in Form höherer pflegebedingter Eigenanteile auf die Pflegebedürftigen abgewälzt werden. Es gilt, die Leistungen der Pflegeversicherung an die gestiegenen Kosten anzupassen.
Die Bundesregierung muss umgehend Maßnahmen ergreifen, damit Pflegeeinrichtungen weiter wirtschaftlich arbeiten können und Pflegebedürftige und ihre Angehörigen nicht in finanzielle Not geraten.
Auch die Corona-Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen. Über die Hälfte der COVID-19-Sterbefälle in ganz Deutschland wurden von einem ambulanten Pflegedienst versorgt oder lebte in einer stationären Pflegeeinrichtung. Was waren/sind die häufigsten psychischen und physischen Belastungen, die bei Angehörigen sowie beim pflegenden Fachpersonal auftraten/auftreten?
Klaus Holetschek: Die Belastungen durch die Pandemie – physisch wie auch psychisch – waren und sind hoch. Viele Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte sind an ihre Grenzen gekommen. Wir müssen daraus die richtigen Schlüsse ziehen und brauchen gezielte Präventions- und Nachsorgestrategien.
Insbesondere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie auch Führungskräfte in der stationären Pflege waren und sind durch die Pandemie stark gefordert. Um psychischen Erkrankungen vorzubeugen und bei psychischem Hilfebedarf rasche und wirksame Hilfe gewährleisten und zugänglich machen zu können, müssen wir sowohl die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst für den Schutz der eigenen Gesundheit stärken, als auch Führungskräfte im Umgang mit den eigenen und psychischen Belastungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sensibilisieren.
Durch Supervision, also die regelmäßige Beratung von Mitarbeitern, können psychische Belastungen und die Gefahr des Ausbrennens im Pflegeberuf frühzeitig erkannt, kompensiert und somit der Verbleib von Pflegekräften unterstützt werden.
Im Haushalt 2022 stehen im Rahmen des Sonderfonds Corona-Pandemie 17,8 Millionen Euro für Maßnahmen zum Umgang mit solchen psychischen Belastungen zur Verfügung.
Zu den psychischen Auswirkungen im Bereich der ambulanten Pflege haben wir die Studie „BaCoM – Hinsehen, zuhören“ in Auftrag gegeben, welche die psychischen Auswirkungen der Pandemie auf Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte untersucht.
Die ersten Ergebnisse zeigen deutlich, dass insbesondere Brüche in den familiären Prozessen Pflegebedürftige und Angehörige massiv belastet haben – wenn Beziehungen etwa nicht mehr persönlich, sondern nur über das Telefon gelebt werden konnten.
Im weiteren Verlauf der Studie werden weitere Folgen psychischer und physischer Belastungen der Pflegekräfte und Angehörigen untersucht – darunter Burnout und Depression. Die Studie soll entscheidungsrelevante Daten und Analysen für bevorstehende Pandemien oder vergleichbare Krisensituationen liefern.
Alle erwarten eine nächste Corona-Welle im Herbst, wie können sich die Pflegeheime darauf besser einstellen bzw. was muss schon dafür getan werden? Wie kann vermieden werden, dass sie wieder schließen müssen?
Klaus Holetschek: Der Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Pflege und für Menschen mit Behinderung ist mir besonders wichtig. Mit unserem Fünf-Punkt-Plan für den Herbst haben wir auch das besondere Schutzbedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen bzw. Einrichtungen für Menschen mit Behinderung im Blick. Wir setzen weiterhin auf bewährte Schutzmaßnahmen wie Testungen und Masketragen, um die besonders gefährdeten Gruppen bestmöglich zu schützen.
Wir begleiten Pflegeeinrichtungen außerdem engmaschig bei der Erstellung und der Aktualisierung von Hygienekonzepten. Durch die enge Zusammenarbeit unter anderem mit der Steuerungsstelle Pflege am Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit können wir auf die individuellen Besonderheiten der Einrichtungen eingehen. Die in den Einrichtungen lebenden Menschen haben das Bedürfnis nach Geborgenheit, nach physischem und psychischem Wohlbefinden.
Diese menschlichen Grundbedürfnisse müssen wir mit den hygienischen, medizinischen und pflegerischen Maßnahmen in Einklang bringen.
Unsere breit angelegte Impfkampagne richtet sich zudem explizit an Bewohner und Mitarbeitende der Pflegeeinrichtungen. Viele Pflegebedürftige haben die zweite Auffrischungsimpfung noch nicht erhalten und sind somit nicht bestmöglich gegen das Virus geschützt. Unser Ziel ist es, durch unsere Kampagne – mit Broschüren, Factsheets und Plakaten, aber auch digital – auf die Auffrischungsimpfungen aufmerksam zu machen und die Bewohnerinnen und Bewohner in den Einrichtungen zur zweiten Auffrischungsimpfung zu bewegen.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.