David Matusiewicz ist Professor für Medizinmanagement an der FOM Hochschule – der größten Privathochschule in Deutschland. Seit 2015 verantwortet er als Dekan den Hochschulbereich Gesundheit & Soziales und leitet als Direktor das Forschungsinstitut für Gesundheit & Soziales (ifgs). Darüber hinaus ist er Gründungsgesellschafter des Essener Forschungsinstituts für Medizinmanagement (EsFoMed GmbH) und unterstützt als Gründer bzw. Business Angel technologie-getriebene Start-ups im Gesundheitswesen. Matusiewicz ist zudem in verschiedenen Aufsichtsräten (Advisory Boards) sowie Investor von Unternehmen, die sich mit der digitalen Transformation des Gesundheitswesens beschäftigen. Vor seiner Professur arbeitete er mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Jürgen Wasem am Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftungslehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen in den Arbeitsgruppen „Gesundheitsökonomische Evaluation und Versorgungsforschung“ sowie „Gesundheitssystem, Gesundheitspolitik und Arzneimittelsteuerung“. Berufserfahrung sammelte Matusiewicz bis 2017 zudem in der Stabsstelle Leistungscontrolling in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Betriebskrankenkasse u.a. von Thyssen Krupp). Er ist zudem Gründer der Digital Health Academy mit Sitz in Essen und des Medienformats Digi Health Talk. Weitere Infos unter: www.david-matusiewicz.com.
Die Digitalisierung ist einer der großen, übergeordneten, globalen Trends. Beschreiben Sie uns bitte den Entwicklungsstand der Digitalisierung speziell in der Pflege im Vergleich zu anderen Branchen.
Prof. David Matusiewicz: Im Vergleich zu anderen Branchen hinkt die Pflege in der Digitalisierung deutlichst hinterher. Betrachten wir z. B. die Branchen Automotive, Handel oder andere, so würde ich sagen, liegt der Pflegesektor mindestens 15 bis 20 Jahre im Rückstand. Was die Digitalisierung anbelangt, so bildet die Pflegebranche sicherlich eines der Schlusslichter. Leider! Denn der Fokus in der Pflege lag bis dato auf dem Menschen, auf „der helfenden Hand“, ohne (bis auf einzelne Ansätze wie Sturzmatten, Treppenlifte, Raum-/Lichtkonzepte, Hebehilfen usw.) den breiteren, flächendeckenden Einsatz von Technik zu berücksichtigen.
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf ambulante und stationäre Leistungserbringer aus?
Prof. David Matusiewicz: Die Leistungserbringer sind genauso davon erfasst wie alle anderen Bereiche. Dadurch, dass sich Ärzte, Pflegekräfte, Krankenhäuser auf dem Weg der digitalen Transformation befinden, tangiert dies natürlich auch die Pflege über die Leistungserbringer.
Und konkret auf die Patienten und deren Angehörige?
Prof. David Matusiewicz: Ich bin der Meinung, dass das Thema der Digitalisierung durch die Angehörigen und die Patienten durchaus eine viel größere Triebfeder sein wird, als wir es momentan durch die Pflegekassen und -versicherungen sowie der anderen Leistungserbringer in der Pflege beobachten. Weil die Erwartungshaltung von Angehörigen und Patienten exponentiell wächst. Denn wir alle sind es mittlerweile – privat wie beruflich – gewohnt, ganz selbstverständlich eine Vielzahl digitaler Services zu nutzen.
Und so erwarten wir auch von der Pflege, dass sie mehr Unterstützungsleistungen anbietet, die online beantragt werden können, dass mehr spezifische Informationen online abrufbar sind. Gerade deshalb könnten Angehörige einen wichtigen Schlüsselfaktor darstellen, um die Digitalisierung in der Pflege voranzutreiben.
Die Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Genomik findet immer schneller statt. Welche Technologien und Methoden werden sich Ihrer Meinung nach in der Pflege durchsetzen bzw. auf welche Technologien und Methoden wird man nicht mehr verzichten können?
Prof. David Matusiewicz: Vor ein paar Wochen war ich bei der Enquete-Kommission Pflege im Deutschen Bundestag. Unter anderem ging es dort um künstliche Intelligenz. Der Status-quo war klar: es gibt zurzeit noch keine nennenswerte KI im Pflegebereich, doch es tut sich einiges. Im Hinblick auf die Technologien wird sich vieles im Bereich Smart Home abspielen. Sodass die Menschen durch neue Technik länger selbstständig im eigenen Zuhause bleiben können. Vom Grundsatz her würde ich formulieren: digital vor ambulant vor stationär vor Pflege. Durch die Position der Digitalisierung in dieser Prozesskette ist es zukünftig möglich, die Menschen früher als noch heute abzuholen, sodass sie ggf. nicht sofort persönlich zum Arzt, nicht so schnell in ein Krankenhaus oder erst deutlich später in die Pflege müssen.
Zudem wird es zukünftig um konkrete Anwendungsfelder vor allem auf Serviceebene gehen. Betrachten wir nochmal das Thema Angehörige. Angehörige können durch Apps und ähnliches sowie durch Chatbots und in Zukunft auch durch KI-angeleitetes maschinelles Lernen passende Antworten auf ihre speziellen Fragen rund um Pflege und Pflegeleistungen bekommen. Antworten, auf die sie sonst gar nicht oder nur schwer hätten zugreifen können.
Oder nehmen wir die Pflegeversicherungen. Leistungsbewilligungen werden künftig durch automatisierte Prozesse sehr viel einfacher und schneller als heute vonstattengehen.
Auch in der Pflege selbst geht es voran. Als Beispiel möchte ich das Universitätsklinikum Essen nennen, das auf dem Weg zum Smart Hospital ist. Hier wird konkret darüber nachgedacht, wie Pflege optimiert werden kann. Eine interne Erhebung ergab, dass 30 % der Zeit in der Pflege aus pflegenahen Tätigkeiten bestehen (Wäschesäcke transportieren, Essen bringen/abräumen etc.), 30 % werden für Bürokratie und Dokumentation benötigt, und nur 30 % der gesamten Zeit steht tatsächlich für echte Pflegearbeit zur Verfügung. Nehmen wir beispielsweise die pflegenahen Tätigkeiten, diese könnten durch sensorgetriebene Roboter ausgeführt werden, um damit das Personal zu entlasten, und auch die Bürokratie könnte durch sinnvolle Softwarelösungen deutlich heruntergefahren werden. In der Pflege selbst gibt es ja bereits einige Unterstützungssysteme (Pflege- und Stühle, Sturzmatten, Raum- und Lichtkonzepte, Hebehilfen und in Zukunft Exoskelette usw.), doch stehen wir in der Pflege immer noch am Anfang.
Es ist wie die Besteigung des Mount Everest. Wir sind auf Höhenmeter 50 angelangt, alles andere kommt noch auf uns zu.
Wie verändern diese neuen Technologien und Tools den Pflegeberuf?
Prof. David Matusiewicz: Die Aus- und Weiterbildung wird sich deutlichst verändern. Dass heute die Digitalisierung im Pflegeberuf noch keine wesentliche Rolle spielt, war zu erwarten gewesen, da die Branche – wie oben bereits erwähnt – in Sachen Digitalisierung eher ein Nachrücker ist. Doch so, wie z. B. das Studienwahlfach „Digitale Medizin“ für angehende Ärzte am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Einzug gehalten hat, wird auch die Pflegebranche nach und nach die digitale Pflege in die Aus- und Weiterbildung integrieren. Das Thema Digitalisierung wird die Pflege nachhaltig verändern. Dabei liegt meine Betonung ganz klar darauf, dass nicht der Mensch ersetzt wird, sondern dass die Digitalisierung die Arbeitsprozesse immer unterstützend und vereinfachend begleiten wird. Pflegekräfte werden dadurch entlastet, um mehr Zeit in die eigentlichen Pflegetätigkeiten investieren zu können. Es ist Fakt, dass wir viel zu wenig Personal in der Pflege haben. Schon jetzt fehlen 100.000 Fachkräfte. Umso wichtiger ist es, die Pflegekräfte, die wir haben, möglichst gut und sinnvoll einzusetzen, damit wir diese Ressource nicht leichtfertig verschwenden und verheizen.
Die digitale Transformation verändert unser Lebensumfeld, unsere Gesellschaft. Es entstehen durch die Interaktionen zwischen Menschen und Maschinen teils hochsensible Daten in nie dagewesener Menge und Geschwindigkeit. Wie und unter Berücksichtigung welcher (ethischen/moralischen) Aspekte sollte mit den Daten zum Wohle des Menschen idealerweise umgegangen werden (Stichwort: Ethik in der digitalen Pflege)?
Prof. David Matusiewicz: Je digitaler wir werden, desto wichtiger wird sicher auch die Ethik! Doch ich bin fest davon überzeugt, dass es unethisch ist, die Digitalisierung auszubremsen oder nicht zu nutzen. Das ist mein Statement! Denn ich glaube, es läuft heute einfach noch zu viel schief. Es sterben Menschen durch falsche Pflege oder durch Falsch- und Fehlinformationen usw. Menschen leiden, liegen tagelang herum, ohne dass sie gefunden werden, weil ein Monitoring fehlt und wir die Technik nicht in der Art nutzen, wie sie eigentlich schon zur Verfügung stehen würde. Man muss das alles wie eine Waagschale betrachten – mit Chancen und Risiken. Selbstverständlich gibt es Risiken wie Hackerangriffe, Datenverluste usw. Ein bisschen überspitzt gesagt: Nehmen wir eine 90-jährige, pflegebedürftige Person. Ihr ist es sicher wichtiger, sich gut versorgt und betreut zu fühlen und dass die Prozesse reibungslos laufen, als sich darüber Gedanken zu machen, ob ihre Daten auf irgendeinem russischen Server herumliegen. Es ist eine Sache der Verhältnismäßigkeit. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Thema, und ich bin der festen Meinung, dass die Chancen der Digitalisierung deutlich größer sind als die Risiken.
Herzlichen Dank für das angenehme Gespräch!
Anmerkung: Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Digitalisierung und Ethik in Medizin und Gesundheitswesen“ finden Sie im gleichnamigen am 1. September 2019 erschienenen Buch (MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 250 Seiten, 39,95 Euro, ISBN: 978-3954664658, Herausgeber: Prof. Dr. David Matusiewicz, siehe auch: www.david-matusiewicz.com/bücher).
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