Maartje de Lint ist Gründerin, Eigentümerin und künstlerische Leiterin von „Singen in der Pflege – Schulung und Ausbildung für das Singen mit Menschen mit Demenz“. Sie studierte klassischen Gesang und Oper am Sweelinck-Konservatorium (heute: Hochschule für Musik) in Amsterdam bei Cora Canne Meijer und trat als Solistin auf Opern- und Konzertbühnen in den Niederlanden und im Ausland auf. Zudem sang Maartje de Lint zwanzig Jahre lang im Chor der Nationaloper in Amsterdam (https://zingenindezorg.nl/de/).

Wie ist die Idee zu „Singen in der Pflege“ entstanden? 

Maartje de Lint: Ich singe bereits, so lange ich denken kann, das heißt, von klein auf hat mich das Singen auf meinen Wegen begleitet, und es hat mir immer schon sehr viel Freude bereitet, wenn ich durch meinen Gesang andere Menschen begeistern und mitreißen konnte. Durch das Singen entsteht eine Verbindung zwischen den Menschen, deswegen liebe ich die Interaktion mit meinem Publikum, und so habe ich nach meinen Konzerten immer schon den direkten Kontakt zu meinen Zuschauern beziehungsweise Zuhörern gesucht, um mich mit ihnen auszutauschen. Stets haben auch Menschen mit Demenz mit ihren Angehörigen meine Konzerte besucht, und diese Begegnungen haben dazu geführt, dass ich mich nach vielen Jahren als Opernsängerin und Solistin voll und ganz auf das Singen in der Pflege und die Ausbildung fokussiert habe, denn allein das Singen auf den verschiedenen Konzertbühnen hat mich irgendwann nicht mehr zu 100 Prozent ausgefüllt. Ein prägendes Erlebnis möchte ich gern erzählen: Ich traf nach einem Konzert eine Tochter und ihre Mutter mit Demenz. Die Tochter war so berührt und glücklich, da ihre Mutter auf einmal aktiv aus sich heraus ging und anfing, der Tochter – mit längst vergessen geglaubten Worten und einer klaren Sprache – eine intensive Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen.

Ausgelöst durch die Musik und den Gesang trat plötzlich wieder eine tiefe Verbindung, ein Wiedererkennen zwischen diesen beiden einst sehr vertrauten Menschen, zutage, die durch die Demenz der Mutter eigentlich verloren schien.

Die Musik und das Singen können gemeinsames Erleben, einen Fluss voller Erinnerungen, Worte und vor allem die Lust und die Möglichkeit am Sprechen wieder zurückbringen, denn sehr viele Menschen mit Demenz ziehen sich im Laufe ihrer Erkrankung aufgrund von Ängsten und Unsicherheiten stark zurück. Es gab viele solcher beschriebenen emotionalen Momente, die mich schlussendlich zur Idee „Singen in der Pflege“ geführt haben. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich dahingehend etwas tun und entwickeln muss.

Was ist Ihre Mission?

Maartje de Lint: Meine Mission ist, die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl von Menschen mit Demenz zu steigern und auch ein entspanntes, verständnisvolles, liebevolles Miteinander zwischen den Erkrankten und den Angehörigen sowie den Pflegekräften zu fördern, Verbindungen aufzubauen. Es ist meine Mission, allen Beteiligten und Betroffenen zu zeigen, was bei Menschen mit Demenz doch noch alles möglich ist. Ich möchte das Positive in den Vordergrund stellen und nicht immer die negativen Seiten der Demenz sehen.

Natürlich ist es so, dass Demenz degenerativ verläuft, Hirnteile massiv geschädigt werden, doch es gehört auch zur Wahrheit, dass es immer auch noch gesunde Bereiche im Gehirn gibt, die stimuliert und aktiviert werden können.

Es ist daher meine Mission zu zeigen, was wir heute, was wir sofort tun können, um die Menschen mit Demenz wieder in die Gegenwart zurückzuholen, sie in die Gesellschaft zurückzubringen, ihnen respektvolle Teilhabe zu ermöglichen, ihnen zu zeigen, dass sie wertvoll sind.

Was sind Ihre wichtigsten Angebote? Und für wen sind die Angebote gedacht?

Maartje de Lint: Ich biete eine Vielzahl an Zielgruppen-gerichteter, struktureller und methodischer Programme an, die sich im Kern immer mit der heilsamen Kraft des Singens beschäftigen.

Ein essenzielles Angebot meines Portfolios ist die zertifizierte Aus- und Weiterbildung professioneller Sänger oder auch Musiktherapeuten und Stimmtrainer sowie Menschen mit entsprechender Berufspraxis zu Sängern in der Pflege. In acht Lektionen über fünf Monate verteilt werden die Teilnehmenden dabei intensiv auf die Zusammenarbeit mit Menschen mit Demenz vorbereitet. Vorrangiges Ziel der Ausbildung ist es, individuelle Singstunden mit demenzkranken Menschen in ihrem eigenen Zuhause zu gestalten oder später auch einen Singkreis zu leiten. 

So leite ich oder eine/einer meiner ausgebildeten Sängerinnen und Sänger regelmäßig Singkreise in den Niederlanden, die sich an Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen richten. Die Singkreise finden in den Heimatorten (in der eigenen Lebensumgebung) oder in Pflegeeinrichtungen statt. Unterstützt werden wir dabei je nach Bedarf von Freiwilligen, Fachleuten und Pianisten. Und auch in Deutschland ist unter meiner Leitung bereits ein Singkreis in Kooperation mit der Oper Leipzig ins Leben gerufen worden. Das Projekt „In mir singt ein Lied“ richtet sich ganz gezielt an Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen, die die Oper und die Klassik lieben. Das gemeinsame Singen an einem über die Jahre vertrauten Ort mit seiner speziellen Opernhausatmosphäre ist etwas ganz Besonderes.

Meine jeweils auf die Zielgruppen zugeschnittenen Schulungs- und Ausbildungsangebote sowie auch Präsentationen zum Thema „Singen in der Pflege“ beschränken sich aber nicht nur auf professionelle Sänger.

Sondern sie richten sich auch ganz bewusst an interessierte Angehörige und vor allem auch an Pflegekräfte, Therapeuten, Projektmanager in der Pflege usw., um durch die positiven Effekte des gemeinsamen Singens das Miteinander und die Arbeit mit Menschen mit Demenz zu erleichtern und zu verbessern. 

Auf welchen wissenschaftlichen und therapeutischen Grundlagen fußt „Singen in der Pflege“?

Maartje de Lint: Bei allem, was ich tue, ist das Singen nicht das vorrangige Ziel, sondern das Mittel, der Vermittler, um etwas zu erreichen. So können ganz alltägliche Dinge und Lebensmomente, wie duschen, Kleidung an- oder ausziehen, essen, zu Bett gehen, aufstehen usw. mit geeigneten Liedern verbunden werden, um die Kommunikation der Menschen mit Demenz zu aktivieren. Denn im Laufe der Erkrankung verlieren die Betroffenen nach und nach ihre Sprache, können die Worte nicht mehr finden. Durch das Singen werden weit in der Vergangenheit gespeicherte musikalische Erinnerungen und damit auch Wörter- und Spracherinnerungen zurückgebracht. Denn schon bevor wir geboren werden, erleben wir im Mutterleib Schwingungen und Geräusche, die ersten Eindrücke und Erinnerungen werden in unserem gesunden Gehirn verankert. Alle Klänge, die wir während unseres Lebens wahrnehmen, werden im sogenannten Klanggedächtnis (auditives Gedächtnis) gespeichert. Wenn wir selbst sprechen, singen, Musikinstrumente spielen, regen wir zusätzlich unser sogenanntes Muskelgedächtnis (motorisches Gedächtnis, Muscle Memory Effect) an. Beide Gedächtnisbereiche sind in unserem Gehirn neuronal vernetzt und bleiben bis ins hohe Alter erhalten. Ja, sie lassen sich sogar lebenslang (weiter)entwickeln.

Ich bin ständig mit verschiedenen Wissenschaftlern im Gespräch, die sich mit der Wissenschaft und der Forschung von Musik und Demenz beschäftigen. Und so habe ich mit dem Wissen über das Klang- und Muskelgedächtnis für „Singen in der Pflege“ die BASE-Methode (Brain Awakening Singing Education) entworfen. Mit dieser Methodik nutzen wir beim gemeinsamen Singen mit Menschen mit Demenz die bereits gespeicherten musikalischen Erinnerungen.

Der gesunde Teil des Gehirns kann so zielgerichtet aktiviert werden.

Und mit einem passenden Lied (je nach Stimmung, je nach Situation, je nach Vorliebe) können Möglichkeiten eröffnet werden, die das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Demenzbetroffenen verbessern, die Vertrauen schaffen und darüber auch das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl steigern. Natürlich hängen diese Dinge vom Stadium und dem Schweregrad der Demenz ab, doch wir sind in der Lage, mit der BASE-Methode aufzuzeigen, was alles noch oder wieder erreicht werden kann. Die BASE-Methode fußt auf den wissenschaftlich bewiesenen Ergebnissen, dass Singen heilsam ist. Wir alle haben eine Stimme, die einzigartig ist, die es nur einmal auf der Welt gibt. Wenn wir singen, dann versetzen wir unseren Körper in Schwingungen, in Resonanz. Diese Schwingungen setzen sich von der Körperebene bis auf das Zellniveau fort. Und es konnte nachgewiesen werden, dass bestimmte Schwingungen (= bestimmte Lieder) Spannungen bis auf Zellebene lösen. Zum Beispiel wird das Stresshormon Cortisol schneller abgebaut, die Hormone im Körper finden wieder ihre Balance. Hormone wirken auf unser Gehirn, unser Gehirn steuert und produziert Hormone. Umso interessanter ist der Einfluss des Singens auf unseren Hormonspiegel. Und da zweimal so viele Frauen von Demenz betroffen sind als Männer, scheint es einen Zusammenhang auf hormoneller Ebene zu geben. Deswegen möchte ich im kommenden Jahr auch ein Präventionsprogramm für Frauen entwickeln. Zudem gibt es Untersuchungen, dass durch bestimmte Schwingungen das Mikrobiom im Darm, das so wichtig ist für ein gutes Immunsystem, gestärkt wird, da sich durch die Schwingungen wichtige Bakterien besser vermehren. Wenn ich mit einer Gruppe eine Stunde lang singe, dann schlagen nach einer Weile alle Herzen im selben Rhythmus. Und je nach Liederauswahl kann die Herzfrequenz gesenkt (beruhigt) oder erhöht (aktiviert) werden.

Es geht nicht einfach nur darum, dass das Singen Freude bereitet, sondern warum es Freude macht: Das Singen macht eben gesünder.

Wie wirkt sich das Singen ganz konkret auf Menschen mit Demenz aus? 

Maartje de Lint: Menschen mit Demenz sind oft in sich gekehrt, da sie sich aufgrund von Ängsten und Unsicherheiten immer weiter zurückziehen. Durch das Singen werden sie wacher, aufmerksamer. Sie kommen wieder mehr aus sich heraus, weil das Singen, das Erinnern, das Formulieren von Worten Vertrauen schafft und das Selbstvertrauen steigert.

Andererseits können Ängste und Unsicherheiten auch zu Aggressionen, Wut, Frust und Anspannungen führen, weil die Menschen mit Demenz ihr Leben nicht mehr erkennen, in ihrer eigenen Welt gefangen sind und psychisch und physisch ein regelrechtes Chaos herrscht, und hier kann das Singen zur Beruhigung und Entspannung führen – auch auf Seiten der Angehörigen und Pflegekräfte, die sich mit solchen Situationen konfrontiert sehen.

Durch das Anstimmen bestimmter Lieder können zum Beispiel drohende Negativspiralen aufgelöst werden – egal wo: zu Hause, im Singkreis, im Pflegeheim. Das Singen erleichtert den zwischenmenschlichen Kontakt, die zwischenmenschlichen Verbindungen, es schafft Raum für (positive) Emotionen und fördert diese. Singen gibt Sicherheit. Ich verwende gerne folgendes Beispiel: Ein Mensch mit Demenz lebt wie unter der Last einer schweren, dunklen Decke. Das Singen macht die Decke leichter, hebt sie an und bringt den wirklichen Charakter und die eigentliche Persönlichkeit des Menschen wieder zum Vorschein, die Person wird wieder sichtbar. Und in diesen Momenten, wenn die Decke lichter wird, wird in meinen Veranstaltungen sehr viel geweint, weil sich Spannungen lösen, intensive Verbindungen geschaffen werden und alle Beteiligten spüren, dass hier einfach nur Menschen untereinander gemeinsam etwas erleben und die Krankheit Demenz für eine gewisse Zeit völlig in den Hintergrund tritt.

Sie haben den Schulungskurs „Sänger in der Pflege“ entwickelt. Was ist das Besondere an den Pflegesängern und wie arbeiten sie? 

Maartje de Lint: Zuallererst ist es eine sehr praxisbezogene Ausbildung.

Wir arbeiten nach dem Prinzip der drei Vs: Vertragen – Verstillen – Verzachten (auf Deutsch: Verlangsamen – Stiller werden – Nachsicht haben). Und genau dieses Prinzip ist die größte persönliche Herausforderung während der Ausbildung und in der Praxis selbst.

Betrachten wir das Verlangsamen. Unsere Gesellschaft ist nicht auf Langsamkeit ausgelegt, alles muss immer höher, schneller, weiter passieren, wir werden tagtäglich mit Informationen überflutet. Doch bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz ist es eminent wichtig, die Dinge langsam anzugehen, langsam zu sprechen, sich und der Person gegenüber Zeit und Raum zu geben, den Klang, die Tonlage der Stimme einzuordnen. Kommen wir zum Stiller werden. Wir Menschen haben oft Angst vor Stille, doch bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz ist da oft eine Stille und Apathie, da sie die Sprache verloren oder sich aus dieser Welt zurückgezogen haben. Umso wichtiger ist das Beobachten von Körpersprache und Mimik, um Bedürfnisse und Stimmungen zu erkennen und darauf zu reagieren. Doch die Stille dabei muss man aushalten können und sich daran gewöhnen. Und dann ist da noch die Nachsicht, das Sanfter werden. Üblicherweise leben wir in einer Gesellschaft, die sehr perfektionistisch ist, in der Fehler nicht vorgesehen sind. Doch sich und anderen die Chance zu geben, eben nicht immer perfektionistisch sein zu müssen, Fehler machen zu dürfen, um daraus zu lernen, nicht immer so hart zu sich zu sein, das ist eine weitere Herausforderung. Denn wenn wir nicht nachsichtig mit uns selbst sind, dann können wir auch bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz nicht nachsichtig sein. Und ich bin davon überzeugt, dass dieser Punkt der schwerste ist. Der Dreh- und Angelpunkt bei der Ausbildung der Sänger in der Pflege und der darauffolgenden Arbeit mit Menschen mit Demenz ist, dass wenn wir beziehungsweise die Pflegesänger diese drei Vs nicht aktiv und ehrlich leben, dann funktioniert es nicht. Nur wenn wir uns selbst damit identifizieren und es kommunizieren, dann können wir den Menschen mit Demenz helfen, sie unterstützen und fördern. Wir müssen die Menschen, mit denen wir arbeiten, holistisch betrachten und sie auch ganzheitlich behandeln, auf sie eingehen, sie verstehen. Die Arbeit mit Menschen mit Demenz ist ein Austausch, und ich bin sehr dankbar für das, was mir diese Menschen zurückgeben und auch beigebracht haben, und das gebe ich in der Aus- und Weiterbildung weiter, damit die Sänger in der Pflege optimal für den Einsatz in den individuellen Singstunden, im Singkreis, im Pflegeheim gerüstet sind.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Ein kurzes Video über „In mir singt ein Lied“ (IMSEL) in Leipzig und Erfahrungen von Angehörigen mit ihren Familienmitgliedern mit Demenz sehen Sie unter www.youtube.com/watch?v=uTeL2Ml2R2Y. Weitergehende Informationen erhalten Sie unter www.oper-leipzig.de/de/programm/in-mir-singt-ein-lied/162.

Fotos: © Kirsten Nijhof; Abbildung Klang- und Muskelgedächtnis mit freundlicher Genehmigung von https://zingenindezorg.nl/de/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert