Roman Streit ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Raumentwicklung der ETH Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind gemeinnütziger Wohnungsbau, Innenentwicklung, raumplanerische Instrumente und Prozesse.
Welche Bedeutung hat gemeinnütziger/genossenschaftlicher Wohnungsbau in der Schweiz?
Roman Streit: Der gemeinnützige Wohnungsbau hat in der Schweiz – bezogen auf die Anzahl Wohnungen – einen Marktanteil von gesamthaft rund fünf Prozent. Das heißt, rund jede 20. Wohnung wird von einer Wohnbauträgerin nach der sogenannten Kostenmiete vergeben, also zu den tatsächlich anfallenden Kosten für die Finanzierung, den Betrieb und die Erneuerung des Wohnraums. Die gemeinnützigen Bestände sind mehrheitlich auf urbane Gebiete konzentriert. Entsprechend liegt deren Marktanteil in einzelnen Städten deutlich höher. Allen voran in der Stadt Zürich, wo rund jede vierte Wohnung einer gemeinnützigen Wohnbauträgerin gehört. Doch auch in weiteren Städten wie Biel, Luzern oder Winterthur liegen die Marktanteile über zehn Prozent.
Der größte Teil der gemeinnützigen Wohnbauträgerinnen sind genossenschaftlich organisiert. In der Regel sind die Mieterinnen und Mieter dabei Miteigentümer der Organisation mit entsprechend starken Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Wie hat sich der genossenschaftliche Wohnungsbau in der Schweiz in den vergangenen Jahren entwickelt?
Roman Streit: Der genossenschaftliche Wohnungsbau hatte in der Schweiz seine größte Blütezeit in der Zwischen- und der Nachkriegszeit bis circa in die 1970er-Jahre. Dabei spielten öffentliche Wohnbaufördermaßnahmen eine wichtige Rolle, insbesondere die Vergabe von gemeindeeigenem Land an gemeinnützige Bauträgerinnen zu günstigen Konditionen.
Seit circa den 1980er-Jahren Seither ist der Marktanteil des gemeinnützigen Wohnbausektors in der Schweiz aber deutlich gesunken. In den letzten Jahren ist vielerorts aber wieder ein Revival des genossenschaftlichen Wohnungsbaus beobachtbar. Zum einen durch eine verstärkte Aktivität des gemeinnützigen Sektors selber, zum anderen durch eine teilweise wieder entschlossenere Wohnbauförderung, vorwiegend von Seiten der Gemeinden. Genossenschaftliche Organisationen werden dabei vielfach von den Behörden als sehr gute Partner zur Bereitstellung von preisgünstigem und qualitativ hochstehendem Wohnraum angesehen, wobei das Wohnen im Alter eine wichtige Rolle spielt.
Welchen Anteil haben Pflegeeinrichtungen am gemeinnützigen/genossenschaftlichen Wohnungsbau?
Roman Streit: In den gemeinnützigen Wohnungsbeständen weisen rund 20 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner ein Alter von 65 Jahren oder mehr auf. Der Anteil dieser Altersklasse liegt damit im gemeinnützigen Sektor etwa gleich hoch wie in den Eigentumswohnungen und deutlich höher als in sonstigen Mietwohnungen. Verbunden mit der demografischen Entwicklung wird dieser Anteil in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich markant zunehmen.
Bei einem großen Teil dieser Wohnungsbestände handelt es sich nicht um eigentliche Pflegeeinrichtungen, sondern um reguläre Wohnungen, welche von älteren Personen bewohnt werden.
Derzeit werden in der Schweiz in zahlreichen Gemeinden auch spezifische hindernisfreie Wohnangebote für ältere Personen sowie generationendurchmischte Haushalte geschaffen, wobei gemeinnützige Organisationen wie Wohnbaugenossenschaften oder Stiftungen häufig gewählte und geeignete Trägerschaftsformen darstellen.
Oft werden die Wohnangebote auch um Pflegedienstleistungen erweitert, welche teilweise bereits im Mietzins inbegriffen sind. Ein Beispiel hierfür ist das Angebot der gemeinnützigen Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich, welches an zahlreichen Standorten innerhalb des Stadtgebietes Wohnraum für über 2000 Personen bietet. Diese Stiftung bezweckt die Bereitstellung preisgünstiger Wohnungen an betagte Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Zürich, wobei in erster Linie wenig bemittelte Personen berücksichtigt werden. Verschiedene Dienstleistungen wie ein Wäscheservice oder regelmäßige Sprechstunden mit Pflegefachleuten sind in ihrem Wohnungsangebot bereits mit der Miete abgedeckt. Andere Dienstleistungen wie die Behandlungspflege, ein Mahlzeitendienst oder hauswirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen können durch die Bewohnerinnen und Bewohner bei Bedarf zusätzlich bezogen werden, wobei diese nach sozialabgestuften Tarifen separat verrechnet werden. Durch diese Unterstützungsangebote kann eine hohe Wohnqualität und eine Entlastung im Alltag gewährleistet werden.
Welche Vorteile des gemeinnützigen Wohnungsbaus sehen Sie auf Seiten der Genossenschaft und konkret auf Seiten der Nutzer?
Roman Streit: Da gemeinnützige Wohnbauträger keine marktüblichen Renditen erzielen, sondern die Mietpreise konsequent auf Basis der anfallenden Kosten festlegen (Kostenmiete), weisen ihre Wohnungen deutlich unterdurchschnittliche Mietpreise auf. Für die Genossenschaft bietet dies den Vorteil, dass kein Druck besteht, Renditen zu erwirtschaften, wie dies bei vielen gewinnorientierten Immobilienunternehmen der Fall ist.
Für die Nutzer bietet es den Vorteil tieferer anfallender Wohnkosten. Dies ist gerade bei denjenigen älteren Menschen von großer Bedeutung, welche vergleichsweise geringe Renten und Ersparnisse zur Verfügung haben.
Die meisten Wohnbaugenossenschaften sind als Mitgliedergenossenschaften organisiert. Das heißt, die Mieterinnen und Mieter sind gleichzeitig Teileigentümer der Genossenschaft und genießen damit gegenüber einem sonstigen Mietverhältnis verschiedene Vorteile. Ein wichtiger Aspekt ist die erhöhte Wohnsicherheit, da zur Auflösung des Mietverhältnisses besonders hohe Anforderungen gelten und – im Falle von Erneuerungsmaßnahmen der Siedlungen – in aller Regel Ersatzangebote für die betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner gemacht werden. Des Weiteren haben die Genossenschaftsmitglieder auch weitgehende Mitbestimmungsrechte, können bei wichtigen Fragen demokratisch mitentscheiden und sich aktiv in die Weiterentwicklung der Genossenschaft einbringen, beispielsweise über die Mitarbeit in Arbeitsgruppen oder im Organisationsvorstand. Auf diese Weise kann die Genossenschaft gleichzeitig vom Know-how und der Erfahrung ihrer Mitglieder profitieren.
Ein weiterer Vorteil genossenschaftlicher Wohnangebote stellen die oft gemeinschaftsfördernden Siedlungskonzepte dieser Anbieter dar, indem beispielsweise Gemeinschaftsräume sowie gut nutzbare und sorgfältig gestaltete Außenräume geschaffen werden.
Einzelne Wohnbaugenossenschaften experimentieren auch mit innovativen Konzepten, wie sich verschiedene Generationen vermehrt im Alltag unterstützen können. Ein Beispiel hierfür stellt das Mehrgenerationenhaus „Giesserei“ der Wohnbaugenossenschaft Gesewo in der Stadt Winterthur dar, welches durch eine vergleichsweise dichte Bauweise und ein breites Spektrum verschiedener Wohnungstypen für alle Altersgruppen Wohnangebote aufweist. Gleichzeitig wurde dort durch ein Modell der selbstorganisierten Nachbarschaftshilfe durch die Bewohnerinnen und Bewohner ein aktives Netzwerk zur gegenseitigen Unterstützung, insbesondere über Generationengrenzen hinweg, geschaffen.
Betrachten wir den demografischen Wandel: Wie stellt sich der Wohnungsbau auf ältere Mieter ein? Können Mieter z. B. in ihrer Häuslichkeit bleiben? Oder gibt es Kooperationen mit Pflegediensten oder Einrichtungen?
Roman Streit: Ein wichtiger Grundsatz für das Wohnen im Alter in der Schweiz lautet, dass die Bewohnerinnen und Bewohnern dabei unterstützt werden sollten, in ihrer vertrauten Wohnumgebung älter zu werden. Das Stichwort hierzu lautet: Ageing in Place. Dabei steht – sofern dies aufgrund des Gesundheitszustands möglich ist – in erster Linie die ambulante Unterstützung im Bedarfsfall gegenüber einer stationären Pflege im Vordergrund. Hierzu gibt es vielfältige Kooperationen mit Pflegedienstleistern wie der Spitex (spitalexterne Hilfe und Pflege). Ein wichtiger Aspekt, wie sich der Wohnungsbau auf ältere Mieterinnen und Mieter einstellt, ist die vermehrte Umsetzung von barrierefreien Wohnungen und Wohnumgebungen. Gleichzeitig wird versucht, Angebote des Alterswohnens vor allem an Standorten umzusetzen, die gut mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen sind und über ein möglichst breites Angebot an Einkaufsmöglichkeiten und sonstigen Dienstleistungen im näheren Wohnumfeld verfügen. Dies stellt auch eine Herausforderung dar, da die Etablierung solcher Mobilitäts- und Dienstleistungsangebote vielfach eine gewisse Zentralität des Standortes sowie bestimmte Schwellenwerte der Bevölkerungsdichte voraussetzen, welche nicht in jeder Gemeinde gegeben sind.
Welchen Herausforderungen muss sich der genossenschaftliche Wohnungsbau – gerade im Bereich Pflege – noch stellen?
Roman Streit: Eine Herausforderung besteht darin, dass die Wohnbaugenossenschaften über große Bestände der Zwischen- und Nachkriegszeit verfügen, welche vielfach eine eher niedrige bauliche Dichte und ein einseitiges Wohnungsangebot (vor allem Dreizimmerwohnungen, wenige Angebote für Einpersonen- sowie Großhaushalte) sowie teilweise eine bescheidene Bausubstanz aufweisen. Bei diesen Siedlungsbeständen geht es darum zu entscheiden, wie sie künftig weiterentwickelt werden können, um attraktiver für verschiedene Haushaltstypen zu werden. So wurden Dreizimmerwohnungen früher oft für Familien konzipiert, während diese heute aufgrund gestiegener Wohnansprüche kaum mehr von solchen nachgefragt werden. Die große Herausforderung besteht dabei darin, dass die Genossenschaftsvorstände ihre Tätigkeit nicht nur auf die kurzfristige Verbesserung der Wohnqualität für die heutigen Bewohnenden ausrichten (beispielsweise durch den Anbau von Balkonen), sondern eine Strategie zur langfristigen Weiterentwicklung der Bestände vorantreiben, welche auf heutige Wohnansprüche ausgerichtet wird und gleichzeitig ökonomisch, ökologisch und sozial stabile Strukturen schafft. Hierbei kann auch der Abriss und die (verdichtete) Neubebauung eine notwendige Maßnahme darstellen, wobei eine angemessene Etappierung und die Schaffung von Ersatzangeboten für die Bewohnerschaft von Bedeutung sind. In einzelnen Städten, allen voran in Zürich, ist diese Weiterentwicklung der genossenschaftlichen Siedlungsbestände bereits weit vorangeschritten. Vielerorts steht sie aber erst am Anfang.
Eine damit verbundene Herausforderung besteht darin, dass ältere Personen aufgrund fehlender geeigneter Ersatzangebote in bestimmten Genossenschaften teilweise in Wohnungen leben, welche nicht spezifisch auf diese Lebensphase ausgerichtet sind. So kommt es beispielsweise vor, dass die Eltern nach dem Auszug ihrer Kinder weiterhin in einer Familienwohnung leben und dadurch viel Raum in Anspruch nehmen. Gerade im gemeinnützigen Wohnbausektor, welcher unter anderem durch die häufige Anwendung von Belegungsvorschriften (zum Beispiel: Mindestbelegung der Wohnung ist gleich Zimmerzahl minus eins) im Mittel einen vergleichsweise sparsamen Umgang mit dem Boden pflegt, stellt es eine wichtige Aufgabe dar, das Wohnungsangebot so zu erweitern, dass breite Bevölkerungsgruppen angesprochen und eine effiziente Belegung des Wohnraums vorangetrieben werden können.
Wie wird sich aus Ihrer Sicht der gemeinnützige Wohnungsbau in der Schweiz in den nächsten Jahren entwickeln?
Roman Streit: Aufgrund der aktuellen Herausforderungen in der Schweiz – von der Forderung einer haushälterischeren Bodennutzung durch das Raumplanungsgesetz, über die Verknappung des preisgünstigen Wohnraums bis hin zur Notwendigkeit von ökologischeren Bau- und Wohnweisen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen (gerade im Zuge aktueller Debatten zum Klimawandel) – kann davon ausgegangen werden, dass der gemeinnützige Wohnbausektor in den nächsten Jahren gestärkt wird. Dazu muss aber die seit Längerem anhaltende Abnahme des Marktanteils dieses Sektors gestoppt oder sogar umgekehrt werden, was wiederum eine entschiedene Wohnbauförderung voraussetzt. Zahlreiche Städte und Gemeinden widmen sich dieser Förderung in den letzten Jahren wieder verstärkt – beispielsweise indem sie aktiv Land erwerben und zu günstigen Konditionen an gemeinnützige Bauträger abgeben, oder indem sie in Raumplanungsinstrumenten wie der Bau- und Zonenordnung vorgeben, dass im Gegenzug zu einer Erhöhung der rechtlich zulässigen baulichen Ausnützung ein Mindestanteil gemeinnütziger Wohnungen geschaffen werden muss.
Wäre dieser Weg auch in Deutschland denkbar?
Roman Streit: Die aktive Förderung von Wohnbaugenossenschaften – unter anderem zur Bereitstellung von Wohnangeboten für ältere Personen – ist grundsätzlich auch in Deutschland denkbar. Es gilt aber zu beachten, dass Deutschland ein gegenüber der Schweiz anderes Wohnbaufördermodell aufweist, welches seit der Aufhebung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes im Jahr 1989 nicht mehr darauf ausgerichtet ist, nicht gewinnorientierte Bauträgerschaften wie etwa gemeinnützige Baugenossenschaften speziell zu fördern. Vielmehr werden in Deutschland auch gewinnorientierte Bauträger unterstützt, welche für eine bestimmte Dauer von in der Regel rund 20 Jahren Wohnungen zu preisgünstigen Konditionen an einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen vergeben. Dies ist ein grundsätzlicher Unterschied zum Fördermodell der Schweiz, in welchem die Gemeinnützigkeit – unter anderem über die Anwendung der Kostenmiete definiert – eine wichtige Voraussetzung für den Großteil der Wohnbaufördermaßnahmen darstellt. Dennoch gibt es auch in Deutschland viele Bauträgerschaften, die sich freiwillig zur Kostenmiete verpflichten und mit den gemeinnützigen Baugenossenschaften der Schweiz vergleichbar sind. Ein Beispiel hierfür stellt die Wohnbaugenossenschaft wagnis eG dar, welche in der Stadt München bereits verschiedene innovative Siedlungen umgesetzt hat.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen!