Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein zählt zu den führenden Designmuseen weltweit. Es erforscht und vermittelt die Geschichte und Gegenwart des Designs und setzt diese in Beziehung zu Architektur, Kunst und Alltagskultur (www.design-museum.de). 

Mit Dr. Jochen Eisenbrand, Chief Curator, sprachen wir über „Gesellschaft und Corona – Leben, Wohnen, Arbeiten“.

Unser Zuhause ist Ausdruck unseres Lebensstils, es prägt unseren Alltag und bestimmt unser Wohlbefinden. Wie und warum hat sich unser Zuhause in den letzten Jahrzehnten verändert?

Dr. Jochen Eisenbrand: In Neubauten sind die Wohnungen in den letzten Jahrzehnten offener und heller geworden. Grundrisse sind offener und fließender, am deutlichsten zu sehen an den Küchen, die häufig nicht mehr vom Ess- und Wohnbereich abgetrennt sind. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass insgesamt weniger gekocht wird, aber wenn gekocht wird, wird das entsprechend zelebriert und inszeniert – auch gemeinsam mit Gästen.

Die Sofa-Fernsehecke existiert noch, verliert aber an Bedeutung, weil der Medienkonsum vermehrt auf mobilen Geräten und individuell statt in der Gemeinschaft erfolgt.

In der Breite sind Möbel immer mehr zu Konsumgütern geworden, die nur für eine gewisse Dauer, einen gewissen Lebensabschnitt angeschafft werden, während sie früher noch weitervererbt wurden.

Der Wohnungsbau orientiert sich immer noch häufig an der drei- oder vierköpfigen Familie, aber es gibt – gerade in Großstädten – inzwischen häufiger Konzepte, die der Tatsache Rechnung tragen, dass die Kleinfamilie nicht mehr die Regel ist und die daher Grundrisse mit kleinen Privatwohnungen und großen gemeinschaftlichen Bereichen für Kochen, Essen, Wohnen und Arbeiten anbieten.

Während soziale und architektonische Themen (wie die Frage nach bezahlbarem Wohnraum) heute lebhaft debattiert werden, findet eine ernsthafte gesellschaftliche Auseinandersetzung über das Wohninterieur (noch) nicht in dem Maße statt. Was sind die Gründe und was möchten Sie mit der aktuellen Ausstellung „Home Stories“ darstellen/erreichen?

Dr. Jochen Eisenbrand: Im 20. Jahrhundert haben sich Architekten/innen stärker mit dem Interieur auseinandergesetzt, als das heute der Fall ist. Das geschah zum Teil aus sozialreformerischen Motiven, zum Teil auch, weil sie für ihre Vorstellung modernen, sprich zeitgemäßen Wohnens die Einrichtungen überhaupt erst schaffen mussten. Architekten gestalteten also auch Möbel, Leuchten und Wohntextilien. Bei dem heutigen riesigen Angebot ist diese Notwendigkeit schon lange nicht mehr gegeben. Heute scheinen sich Architekten vielleicht auch deswegen nicht mehr so sehr für das Wohninterieur zur interessieren und haben das Feld den Innenarchitekten/innen überlassen, die wiederum mehr an ganz individuellen und weniger an allgemein gültigen Lösungen interessiert sind.

Die Schauwohnungen, Ausstellungshäuser, Wohnausstellungen, Publikationen und Debatten darum hatten bei aller Aufklärung häufig auch etwas Belehrendes, das würde heute so vermutlich nicht mehr akzeptiert werden. Um eine reflektierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Wohnen und der Wohneinrichtung heute anzustoßen, fanden wir es wichtig, mit unserer Ausstellung auf Interieurs von Architekten/Innenarchitekten/Künstlern zu verweisen, die im 20. Jahrhundert bestimmte neue Vorstellungen des Wohnens geprägt oder erstmals sehr anschaulich verkörpert haben. Dabei ging es immer auch um die Frage, wie sich allgemeine gesellschaftliche oder technische Entwicklungen auf das Wohnen auswirken und das bleibt ja aktuell.

Wie hat sich der Blick auf das Interieur durch die Corona-Krise verändert?

Dr. Jochen Eisenbrand: Wie wir auch mit unserer Ausstellung festgestellt haben, die ja vor der Krise eröffnet wurde und während dieser läuft, gibt es ganz offensichtlich wieder ein verstärktes Interesse am Wohninterieur (Home Stories (design-museum.de)).

Wie ich gelesen habe, waren die wirtschaftlichen Einbrüche der Möbelindustrie viel geringer als befürchtet, vermutlich weil sich viele in dieser Zeit gezwungenermaßen auch verstärkt mit ihrer eigenen Einrichtung beschäftigt und den Wunsch entwickelt haben, etwas zu verändern.

Durch die Corona-Krise sind viele Menschen gezwungen, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Wohnen und arbeiten werden dabei neu definiert. Wie wird sich das aus Ihrer Sicht in zukünftigen Wohnformen bemerkbar machen?

Dr. Jochen Eisenbrand: Das Wohnen ist ja an sich etwas sehr Konservatives und verändert sich nur sehr langsam. Daher bin ich mir nicht sicher, inwiefern die ein- bis zweijährige Krise dauerhaft etwas verändern wird. Viele der Funktionen, die die Wohnungen aktuell irgendwie zusätzlich erfüllen, entfallen ja hoffentlich innerhalb des nächsten Jahres wieder, da lohnt es sich vielleicht nicht, längerfristige Lösungen zu entwickeln.

Was bleiben wird, ist das vermehrte „von zu Hause aus Arbeiten“.

Da bin ich selbst gespannt, ob es für all jene, die zu Hause nicht das Privileg eines separaten Arbeitsraumes haben, neue Lösungen geben wird.

Eine klare Trennung zwischen dem privaten und dem beruflichen Umfeld wird dadurch schwieriger. Wie kann (und sollte?) man die Trennung aufrechterhalten und wie kann man beides trotzdem „unter einen Hut bringen“?

Dr. Jochen Eisenbrand:

Die Grenzen sind komplett fließend geworden und wegen der Digitalisierung auch nicht mehr räumlich zu ziehen.

Insofern muss sie wohl jede/r für sich vor allem zeitlich bestimmen, durch klare Off-Zeiten. 

Wohnraum vor allem in Städten wird tendenziell immer knapper, oft teurer, die Wohnungen kleiner. Zudem wurden die sozialen Kontakten seit Beginn der Krise immer wieder eingeschränkt. Wie kann das Wohninterieur der Vereinsamung entgegenwirken und zu einem besseren Wohlbefinden in der Krise führen?

Dr. Jochen Eisenbrand: Ich glaube, dass die oben genannten gemeinschaftlichen Wohnkonzepte ein guter Weg sind, um Vereinzelung und Vereinsamung entgegen zu wirken aber auch den knappen städtischen Raum effizienter zu nutzen.

Verändern sich durch die Corona-Krise unsere Arbeits- und Lebenswelten gerade für immer?

Dr. Jochen Eisenbrand: Die Pandemie-bedingten Restriktionen und die Notwendigkeit, oftmals zu Hause zu arbeiten haben der gesamten Digitalisierung der Büroarbeit und -kommunikation einen enormen Schub gegeben. Sie haben aber auch gezeigt, dass die physischen Begegnungen im Büro dennoch wichtig sind. 

Insofern denke ich, dass es auch nach der Pandemie mehr Homeoffice und weniger Geschäftsreisen geben wird und Büros vielleicht weniger stark belegt sein werden, dass sie aber gerade für kreative und strategische gemeinschaftliche Arbeit ihre Bedeutung behalten oder sogar ausbauen werden.

Besten Dank.

© Vitra Design Museum/Foto: Lucia Hunziker

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