Simone Hartmann-Eisele ist seit 1999 als examinierte Altenpflegerin in der stationären und ambulanten Pflege tätig. Seit 2006 unterrichtet sie als Diplom-Pflegepädagogin in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und nimmt Lehraufträge im Rahmen der Hochschullehre wahr. Zudem engagiert sie sich in freiberuflicher Beratungstätigkeit und Begleitung von Veränderungsprozessen in der stationären Langzeitpflege, Implementierung und Verstetigung nationaler Expertenstandards. Seit 2009 arbeitet Simone Hartmann-Eisele als Pflegeexpertin für Kontinenzförderung am AGAPLESION BETHANIEN KRANKENHAUS HEIDELBERG. Schwerpunkte der Tätigkeit sind die Beratung von Betroffenen und Bezugspersonen zu den Themen Harn- und Stuhlinkontinenz sowie die praktische Anleitung und direkte pflegetherapeutische Betreuung in Kooperation mit dem multidisziplinären Team in den Fachbereichen Akut- und Reha Geriatrie. Hinzu kommen Unterrichts-, Vortrags- und Publikationstätigkeiten zum Thema (In-)Kontinenz, Mitarbeit in nationalen und internationalen Gremien und Arbeitsgruppen. Außerdem leitet Simone Hartmann-Eisele die Weiterbildung zur/zum Pflegeexpertin/Pflegeexperte für Kontinenzförderung an der AGAPLESION AKADEMIE in Heidelberg. 2017 machte sie ihren Masterabschluss Systemische Beratung an der Universität Kaiserslautern und ist seit 2017 auch als wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen im Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen tätig. Simone Hartmann-Eisele ist seit 02/2019 Promovendin an der Universität Witten/Herdecke. Das Thema der Dissertation ist „Kontinenz-Sensible-Kommunen“. Eine Analyse der ambulanten Informations- und Beratungsangebote für erwachsene Menschen zum Thema Harn(in-)kontinenz in der Kommune.  

Wie viel Prozent der älteren Menschen sind von Harn- und/oder Stuhlinkontinenz betroffen, und trifft das Thema auch jüngere Personen?

Simone Hartmann-Eisele: Schaut man sich die Zahlen der Deutschen Kontinenz Gesellschaft aus dem Jahr 2018 an, geht man davon aus, dass in Deutschland etwa jeder Neunte von Harn- und/oder Stuhlinkontinenz betroffen ist. Inkontinenz tritt bei allen Geschlechtern und in jedem Alter auf. Während jüngere Frauen häufig im Kontext von Schwangerschaft und Geburt von Kontinenzproblemen betroffen sind, kommen Männer im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter im Rahmen von Prostataerkrankungen mit dem Thema in Berührung. Alte und hochaltrige Menschen sind aufgrund ihrer fragileren Gesamtsituation zwar deutlich häufiger von Inkontinenz betroffen – einen Automatismus gibt es hier jedoch nicht! 

Welche Präventivmaßnahmen sind sinnvoll? Können mit speziellen Trainings Inkontinenzprobleme reduziert werden?

Simone Hartmann-Eisele: Generell gibt es vielfältige Strategien, um die Blase gesundzuhalten und auch bei bereits bestehende Kontinenzproblemen zu lindern. So ist es beispielsweise wichtig, auf eine ausreiche Trinkmenge zu achten. Häufig reduzieren Personen mit Inkontinenz aus Angst vor unwillkürlichem Urinverlust ihre Trinkmenge. Dies ist jedoch ausgesprochen kontraproduktiv, denn es hat einen konzentrierteren Urin zur Folge, der Drang- und Inkontinenzsymptome eher verstärkt und die Entstehung von Harnwegsinfekten begünstigt. Ebenso ist es wichtig, auf eine regelmäßige Darmentleerung zu achten, da zwischen Blase und Darm vielfältige Wechselwirkungen bestehen und Drangbeschwerden, wie auch eine unvollständige Entleerung der Blase, durch Obstipation mitverursacht werden können. 

Einen wichtigen Faktor in der Prävention und in der Behandlung von Inkontinenz stellen regelmäßige Toilettengänge dar, die sich immer an den individuellen Trink- und Lebensgewohnheiten orientieren sollten. Gerade bei älteren Menschen ist es hierbei eminent wichtig, barrierefreie Zugänge zu sanitären Anlagen zu schaffen, in der Nacht auf angepasste Beleuchtung zu achten und zur Auswahl von Kleidungsstücken zu beraten, welche einen raschen und selbstständigen Toilettengang unterstützen. Diese allgemeinen Maßnahmen spielen eine zentrale Rolle in der Förderung von Kontinenz und sollten bei Beratungsgesprächen stets benannt und erläutert werden. Ebenso sollten bestehende Toilettengewohnheiten reflektiert werden. Wie häufig und in welchen Abständen sucht eine Person die Toilette auf? Wie groß ist die Miktionsmenge? Gibt es ein Dranggefühl oder tritt Urinverlust ohne Symptome auf? Wie wird die Trinkmenge über den Tag verteilt? Dies alles sind wichtige Informationen, die in einem Blasentagebuch/Miktionsprotokoll festgehalten werden sollten. Oftmals trägt bereits die Protokollierung von Gewohnheiten zu Einsichten und Verhaltensänderungen bei. Treten Beschwerden plötzlich auf, sollten zeitnah mögliche Ursachen abgeklärt werden, denn manchmal sind diese recht banal. So können zum Beispiel Inkontinenzprobleme im Rahmen eines (oftmals auch unbemerkt verlaufenden) Harnwegsinfekts auftreten. Ist der Infekt saniert, verschwindet auch die Inkontinenz wieder. 

Welche unterschiedlichen Hilfsmittel/Inkontinenzmaterialien gibt es auf dem Markt?

Simone Hartmann-Eisele: Beim Einsatz von Hilfsmittel kann man zunächst unterscheiden, ob diese der Förderung von Kontinenz dienen oder der Kompensation von Inkontinenz. Auch bei bestehender Inkontinenz sollten die Maßnahmen zur Förderung nicht vernachlässigt werden, da sich selbst langjährig bestehende und massive Beschwerden in der Regel positiv beeinflussen lassen. Hilfsmittel zur Förderung sind beispielsweise Urinflaschen für Männer und Frauen. Für Frauen können darüber hinaus auch sogenannte Schiffchen eingesetzt werden. Männer profitieren bei bestehender Inkontinenz, insbesondere während der Nacht, von der Anlage sogenannter Urinal-Condome.

Der Hilfsmittelmarkt ist groß und unübersichtlich – es muss immer darum gehen, für die individuelle Situation das geeignete Hilfsmittel auszuwählen, es anzupassen und den Umgang damit zu erlernen.

Bei saugenden Hilfsmitteln zur Kompensation ist auf deren Zuverlässigkeit, Qualität und Tragekomfort zu achten sowie auf die richtige Saugstärke und die Möglichkeit der eigeständigen Nutzung. Keinesfalls sollten bei Urinverlust Produkte zur Monatshygiene eingesetzt werden, da diese über vollkommen andere Produkteigenschaften verfügen – Hautirritationen bis hin zu ernsthaften Komplikationen können die Folge sein. Viele Betroffenen wissen drüber hinaus nicht, dass Inkontinenzvorlagen vom Arzt rezeptiert werden können und Patient*innen diese nicht selbst finanzieren müssen. In der Praxis ist es leider noch immer so, dass von Inkontinenz betroffene Menschen selten Beratung und/oder Behandlung in Anspruch nehmen – das Schamempfinden und die Tabuisierung in diesem Bereich sind noch immer sehr groß.

Inwieweit wird das Thema auch im Rahmen der Aus-/Weiterbildung von Pflegefachkräften behandelt?

Simone Hartmann-Eisele: In der Aus- und Weiterbildung, wie und auch in der pflegerischen Praxis, wird das Thema (In-)Kontinenz häufig stiefmütterlich behandelt. Ich bin seit über 10 Jahren als Pflegepädagogin in der Ausbildung von Pflegepersonen tätig und leite eine Weiterbildung für Pflegeexperten zum Thema Kontinenz. Viele Pflegende sehen zwischenzeitlich die Notwendigkeit, sich zum Thema zu qualifizieren und die Rahmenbedingungen in der Pflegepraxis zu verändern. Die Grundausbildung vermittelt ein Basiswissen zum Thema und sollte auf den Erkenntnissen des nationalen Expertenstandards zur Kontinenzförderung aufbauen. Und auch in der Pflegepraxis sollten sich Strukturen und Prozesse an dieser wissenschaftsbasierten Leitlinie orientieren. Hier findet sich auch internationales Know-how zum Thema, und Deutschland kann sicher sehr von den Erfahrungen anderer Länder, wie Großbritannien, Kanada oder Australien, profitieren. Hier findet die Qualifikation für Kontinenzberater*innen in der Regel im Hochschulbereich statt und wird mit einem Master oder sogar einer Promotion abgeschlossen. Dies macht die großen internationalen Unterschiede im Bewusstsein für die Bedeutung des Themas vielleicht besonders deutlich. In Deutschland geschieht es im Praxisalltag häufig, dass das Thema aus dem Blick gerät, auch weil kaum Pflegende mit vertieftem Fachwissen vor Ort sind – sehr zum Leidwesen der Betroffenen. Das Thema verlangt nach hoher Fachlichkeit auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Inkontinenz ist meist multikausal verursacht, und daher müssen auch die Interventionen auf verschiedenen Ebenen gedacht und begleitet werden. So verlangt der Aushandlungsprozess mit den Betroffenen und die Arbeit im multidisziplinären Team nach ausgeprägter sozialkommunikativer Kompetenz. In Deutschland wird Kontinenzberatung durch Pflegepersonen sicher auch deshalb nur selten angeboten, da die Kostenträgern diese Leistung oftmals nicht finanzieren und die Einrichtungen die Kosten durch Umlagefinanzierung decken müssen. Dies führt zur fatalen Situation, dass Betroffene und Angehörige in unserem Gesundheitssystem oftmals keine adäquaten Ansprechpartner*innen für ihre Anliegen finden können.

Wird der Inkontinenz genug Aufmerksamkeit gegeben oder sehen Sie konkreten Handlungsbedarf auf Seiten der Pflegeheimbetreiber und der Pflegekräfte?

Simone Hartmann-Eisele: Inkontinenz ist gesamtgesellschaftlich gesehen noch immer ein sehr scham- und tabubehaftetes Thema, über das die Betroffenen oft nicht einmal mit engsten Familienangehörigen sprechen. Viele unserer Patientinnen und Patienten leben bereits seit Jahrzehnten mit einer Inkontinenz und haben in der Vergangenheit, trotz massiver Einschränkung der Lebensqualität, keinerlei Beratung- oder Behandlungsmöglichkeiten wahrgenommen.

Hier sehe ich die Verantwortung von Einrichtungen des Gesundheitswesens, den ihnen anvertrauten Patient*innen und Bewohner*innen adäquaten Zugang zu Beratungs- und Versorgungsleistungen zu ermöglichen. So ist es die Aufgabe der Einrichtungen, Strukturen und Prozesse zum Thema sicherzustellen. Das bedeutet beispielsweise, ausreichend weitergebildetes Personal zu haben und adäquate Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, aber auch interdisziplinäre Zuständigkeiten zu klären und für die Beratungstätigkeit Freiräume zu definieren. Kontinenzberatung ist sicher kein Thema für „nebenbei“. 

Wie kann das Thema Inkontinenz in Zukunft (weiter) enttabuisiert werden; wie sollte mit dem Thema umgegangen werden?

Simone Hartmann-Eisele: Ich beschäftige mich aktuell im Rahmen meiner Promotion mit dieser Fragestellung. Das Thema Inkontinenz muss raus aus der Tabuzone, damit Betroffene und Bezugspersonen leichter die Entscheidung treffen können, sich Beratung und Unterstützung in Ihrer individuellen Situation zu organisieren. Hierzu brauchen wir Angebote, welche die bisher häufig verkürzte Fokussierung auf medikamentöse und operative Verfahren ergänzen. Wir brauchen Angebote, die zu Präventionsmaßnahmen beraten und Anlaufstellen, in denen die Betroffenen konkrete Hilfestellung zur gelingenden Alltagsgestaltung erhalten. Beratungs- und Unterstützungsangebote müssen hierzu in der kommunalen Lebenswelt angesiedelt sein, um einen niederschwelligen Zugang zu ermöglichen. Vorstellbar sind hier beispielsweise Projekte mit Volkshochschulen und Stadtbüchereien oder auch Schulen, Sportvereine und Kirchengemeinden als Multiplikatoren für das Thema einzubinden. 

Hier haben wir in Deutschland vielleicht einen noch weiten – aber im Sinne der Betroffenen, sicher auch sehr lohnenden Weg vor uns! 

Herzlichen Dank für das angenehme Gespräch!

Interessenten finden hier Informationen zur modularisierten Weiterbildung zur/zum Pflegeexpertin/-experten für Kontinenzförderung: https://www.agaplesion-akademie.de/weiterbildung/top-weiterbildungen/pflegeexpertin/-experte-fuer-kontinenzfoerderung-1

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