Martin Litsch, Jahrgang 1957, stammt aus Trier und studierte dort Soziologie und Ökonomie. Danach arbeitete er unter anderem bei der Caritas und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Ab 1989 startete Litsch seine Karriere in der AOK und durchlief verschiedenste Positionen. Seit Beginn des Jahres 2016 ist Martin Litsch Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Martin Litsch hat im Geschäftsführenden Vorstand den Vorsitz und ist verantwortlich für die Geschäftsführungseinheiten Versorgung, Politik/Unternehmensentwicklung, IT-Steuerung sowie für die Bereiche Medizin, Justitiariat, Interne Revision, das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) und die Ständige Vertretung in Brüssel.
Die Digitalisierung ist einer der ganz großen globalen Trends. Die Vielfalt und die Zahl digitaler Angebote – gerade in der Pflegebranche – steigen stetig. Wie hat die Digitalisierung die Aufgaben der Kranken- und Pflegekassen in den vergangenen Jahren verändert?
Martin Litsch: Die Digitalisierung der Interaktion mit unseren Kunden ist für uns das wichtigste Zukunftsthema. Allerdings sind die Rahmenbedingungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung sehr speziell: Wir müssen verantwortungsvoll mit den sensiblen Gesundheitsdaten unserer Versicherten umgehen. Der Gesetzgeber macht hier zu Recht strenge Vorgaben. Und echter Nutzen entsteht nicht allein aus dem digitalen Kontakt zwischen dem Versicherten und seiner Krankenkasse, sondern erst durch die Vernetzung der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen. Vor diesen Herausforderungen stehen Krankenkassen wie die AOK, die sich ernsthaft um eine bessere Versorgung kümmern und sinnvolle digitale Lösungen mit Mehrwert für ihre Versicherten und für die Leistungserbringer entwickeln wollen.
Wie und mit welchen konkreten digitalen Angeboten können Kranken- und Pflegekassen die Qualität der medizinischen Versorgung von Pflegepatienten verbessern?
Martin Litsch: Die elf AOKs stellen sich diesem Thema gemeinsam. Sie haben verschiedenen Projekte und Aktivitäten zur digitalen Transformation angeschoben. Zentrales Projekt der AOK-Gemeinschaft ist der Aufbau eines Digitalen Gesundheitsnetzwerkes. Das ist eine Plattform zum Austausch von Gesundheitsdaten und Dokumenten zwischen Patienten, niedergelassenen Ärzten, Kliniken und weiteren Akteuren. Dabei haben wir auch die Pflegeeinrichtungen fest im Blick. Denn aus meiner Sicht liegen große Chancen in der Vernetzung des Pflegepersonals mit den Ärzten, die die Pflegebedürftigen versorgen. Das kann eine Plattform wie das Digitale Gesundheitsnetzwerk möglich machen, die auch mit der offiziellen Telematikinfrastruktur vernetzt werden soll.
Dass diese Vernetzung auch im Pflegebereich sinnvoll ist, zeigen einzelne Projekte der AOK.
So hat das Pilotprojekt „Vernetzte ärztliche Versorgung im Pflegeheim“ der AOK Nordost in Berlin gezeigt, dass eine elektronische Pflegedokumentation, auf die Hausarzt und Pflegeheim gemeinsam zugreifen können, die Kooperation von Ärzten und Pflegepersonal fördern kann.
Sie verbessert die Versorgungsqualität und entlastet die Mitarbeiter. In dem Pilotprojekt hat sich durch die digitale Vernetzung von Hausarztpraxis und Pflegeheim die Anzahl der Krankenhaustage je Bewohner deutlich verringert. Außerdem ist der Anteil der Notfalleinweisungen zurückgegangen. In Sachsen erprobt die AOK PLUS in einem weiteren Pilotprojekt gerade mit zwei Hausarztpraxen und drei Pflegeeinrichtungen in Leipzig den Einsatz von Telemedizin. In diesem Projekt können Pflegekräfte bei Bedarf den Hausarzt per Video zu einem Pflegebedürftigen hinzuzuschalten. Im Kontakt mit dem Arzt können sie die Vitaldaten des Patienten erheben und das weitere Vorgehen abstimmen. Solche Modelle sind aus meiner Sicht zukunftsträchtig.
Kann die Digitalisierung dazu beitragen, dauerhaft Kosten einzusparen? Wie schätzen Sie das Kosteneinsparungspotenzial auf Seiten der Patienten und Betreiber ein? Und welche Möglichkeiten ergeben sich auf Seiten der Krankenkassen und des Staates?
Martin Litsch: In erster Linie werden die Patienten, aber auch Ärzte und Pflegepersonal von der besseren Verfügbarkeit medizinischer Informationen profitieren – über Sektorengrenzen und Disziplinen hinweg. Das hat natürlich auch Kostenaspekte für die gesetzlichen Krankenkassen: Unnötige Doppeluntersuchungen und Schnittstellenprobleme bei der Krankenhausentlassung können vermieden werden. Durch einen digitalen Medikationsplan verbessert sich die Arzneimitteltherapiesicherheit. Das ist besonders für ältere und pflegebedürftige Versicherte mit chronischen Erkrankungen wichtig, die viele behandelnde Ärzte und viele Arztkontakte haben. Aber natürlich muss man auch sehen, dass der Aufbau digitaler Dienste Geld kostet.
Übrigens sehe ich auch beim Technikeinsatz in der Pflege noch große Potenziale, die für die Betreiber von Pflegeeinrichtungen interessant sein dürften.
Eine Befragung von Pflegefachpersonen, die im aktuellen Pflege-Report 2019 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK erschienen ist, hat gerade gezeigt, dass technische Assistenzsysteme zur Unterstützung der Pflegearbeit große Akzeptanz finden.
Da geht es zum Beispiel um Hebehilfen, die die körperliche Arbeit der Pflegekräfte erleichtern. Die Befragung hat aber auch gezeigt, dass diese Systeme in der Praxis bisher kaum eine Rolle spielen. Der sinnvolle Einsatz von Technik kann sicher dazu beitragen, die Versorgung zu verbessern, Pflegepersonal zu unterstützen und damit die Arbeitsbedingungen positiv zu beeinflussen.
Welche bestehenden Prozesse/Prozessketten haben sich im Zuge der Digitalisierung bereits verändert bzw. müssen noch verändert werden?
Martin Litsch: Hier hat sich schon eine Menge getan. Die AOK-Versicherten können beispielsweise über die „Meine AOK“-App oder über einen passwortgeschützten Bereich auf unserer Homepage viele Prozesse mit der AOK digital abwickeln. Hier kann man Anträge und Bescheinigungen anfordern, die elektronische Patientenquittung abrufen oder seine persönlichen Daten ändern – bequem von zu Hause aus und rund um die Uhr. Wir arbeiten daran, dieses Angebot weiter auszubauen. Das gilt auch für den Datenaustausch mit den Leistungserbringern. So richtig spannend für die Versorgung wird das Ganze aber erst, wenn alle beteiligten Akteure im Gesundheitswesen miteinander vernetzt sind.
Welche Vorgaben wünschen Sie sich beim Umgang mit der Digitalisierung in der Pflegebranche vom Staat bzw. welche gesetzlichen Vorgaben erachten Sie als besonders wichtig?
Martin Litsch: Der Bundesgesundheitsminister macht ja mit dem Referentenentwurf zum „Digitale Versorgung-Gesetz“ gerade ordentlich Dampf bei der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens. Wir sehen in dem Gesetzesentwurf zahlreiche gute Ansätze. Vor allem im neuen Paragraphen 68a wird den Krankenkassen eine deutliche Rolle zugewiesen: Endlich erhalten wir hier die Möglichkeit, Angebote zu entwickeln, die die Versorgungspfade sektorenunabhängig in den Blick nehmen. So können wir für den Patienten Informationen zusammenbringen, die im Behandlungsverlauf für alle Beteiligten transparent verfügbar sind. Das führt zu qualitativ besseren Ergebnissen. Daher befürworten wir ausdrücklich den geplanten Ausbau der Telematikinfrastruktur. Es ist richtig und wichtig, weitere Akteure wie Krankenhäuser, Rehaeinrichtungen, Apotheken, Physiotherapeuten, Pflegeeinrichtungen und andere anzuschließen, damit sie Daten im Sinne des Versicherten austauschen können. Das fördert die Vernetzung, die wir auch mit unserem Digitalen Gesundheitsnetzwerk verfolgen.
Doch die Sache hat einen entscheidenden Haken: Mit der heutigen Hardware-basierten Infrastruktur würden unverhältnismäßig hohe Technikkosten entstehen. Schon die Erstausstattung und der Betrieb der Telematikinfrastruktur für die Vertragsärzte haben in den vergangenen drei Jahren etwa 700 Millionen Euro verschlungen. Der Anschluss von Krankenhäusern und Apotheken ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. Wenn jetzt auch noch alle 29.000 Pflegeeinrichtungen einen Konnektor hingestellt bekommen, der nach fünf Jahren wieder ausgetauscht werden muss, wäre das keine Investition in die Zukunft, sondern rausgeworfenes Geld. Aus Sicht der AOK muss jetzt ganz schnell eine Alternative zu den Hardware-Konnektoren entwickelt werden, bevor die Telematikinfrastruktur weiter ausgerollt wird. Das kann man mit einer Software-basierten Lösung viel besser und effizienter hinbekommen.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen!