Joschka Fischer, der ehemalige Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland (1998-2005), führte die Grünen sowohl in die erste Regierungsbeteiligung auf Landesebene (Hessen) als auch auf Bundesebene. Joschka Fischer hatte von 2006 bis 2007 eine Gastprofessur an der Woodrow Wilson School der Princeton University (USA) inne. Er ist Gründungsgesellschafter der strategischen Unternehmensberatung Joschka Fischer and Company, www.jfandc.de.

Die Coronavirus-Pandemie hat unser aller Leben verändert und eingeschränkt. Vor einigen Wochen wäre das für uns noch unvorstellbar gewesen. Wie nehmen Sie ganz persönlich die Corona-Krise wahr bzw. wie gehen Sie damit um?

Joschka Fischer: Ich neige zur Vorsicht und achte auf Abstand und Distanz und halte mich zu Hause auf. Insofern verhalte ich mich wie viele andere meiner Generation in Deutschland oder auch anderswo. Denn mit gesundheitlicher Vorbelastung und 72 Jahren ist es erforderlich, vorsichtig und vernünftig zu sein.

Wie wird sich die Krise auf unsere Gesellschaft auswirken? Und müssen wir in Zukunft dauerhaft über veränderte Verhaltensweisen im geschäftlichen und öffentlichen Raum nachdenken?

Joschka Fischer: Wir müssen mehr tun als nachdenken. Bestimmte Abstands- und Hygieneregeln werden sicherlich dauerhaft bleiben. Was prinzipiell ja auch sinnvoll ist. Denken Sie an Ostasien. Dort ist es in Erkältungsperioden üblich, einen Nasen- und Mundschutz zu tragen. Und ich nehme mal an, das wird bei uns ebenfalls gebräuchlich werden. Diesbezüglich sehe ich in jedem Fall dauerhafte Veränderungen.

Betrachten wir die ältere Generation, meine Generation, die sich mittlerweile (speziell auch durch die verhängten Kontaktbeschränkungen) mit der intensivierten Nutzung von Internet und Smartphone im Alltag gut eingerichtet hat. Der Zugang zu und der selbstverständliche Umgang mit den digitalen Möglichkeiten wird auch nach der Lockerung der Maßnahmen zur Reduzierung der Virusausbreitung bleiben. Was bei den Jüngeren bereits seit Längerem dazugehört, wird auch bei den Älteren mehr und mehr zur Normalität. Die Digitalisierung wird durch die Coronavirus-Pandemie einen Schub in Deutschland erfahren.

So wird auch der Abschied der Deutschen vom Bargeld mit der Corona-Krise in Verbindung gebracht werden und digitale Bezahlsysteme in den Fokus rücken. 

Zudem denke ich, dass die Zukunft den Lieferdienstleistungen jeglicher Art gehören wird, gerade, was die ältere Bevölkerung betrifft.

Und darauf, dass wir beim Flugverkehr jemals wieder zu den Zahlen vor Corona zurückkehren werden, würde ich auch nicht unbedingt wetten. Denn gerade im geschäftlichen Bereich wird es sicherlich mehr Video- und Telefonkonferenzen geben, ohne persönliche An- und Abreise. Ebenso Home Office.

Generell sei gesagt: Es wird eine Reihe von nachhaltigen Veränderungen geben, die wir gesellschaftlich spüren. Alles, was den direkten Kontakt reduziert oder verhindert, wird sich meines Erachtens auf Dauer in unserer Gesellschaft etablieren.

Südkorea hat im Kampf gegen die Virusausbreitung von Anfang an klar auf Massentests, Isolierung von Erkrankten und vor allem auf das Tracking von Handydaten gesetzt, ohne dass das öffentliche Leben vollständig zum Erliegen kam. Kann Südkorea (vor allem in Sachen „Digitales“) ein Vorbild für Deutschland sein?  

Joschka Fischer: Ich bin kein Experte, doch es gibt beim Tracking von Handydaten gravierende Argumente, die dagegensprechen, z. B. die daraus resultierenden Überwachungsmöglichkeiten und ähnliches mehr. Man wird die Vor- und Nachteile in einer detaillierten Diskussion abzuwägen haben, um priorisieren zu können, was in welcher Situation wichtiger bzw. angemessen ist. Das wird im Nachgang der aktuellen Krise eine nicht unbedeutende Rolle spielen.

Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und die Überlastung unseres Gesundheitssystems zu vermeiden, wurden grundlegende Rechte beschnitten. Wie stehen Sie zu den ergriffenen Maßnahmen?

Joschka Fischer: Meiner Meinung nach haben die Verantwortlichen von Bund und Ländern – ungeachtet meiner eigenen parteipolitischen Neigungen – ihren Job ganz ordentlich gemacht. Ich denke, wir können damit zufrieden sein, und ich halte überhaupt nichts davon, hier vordergründige Kritik zu üben. Das finde ich unangemessen. In der aktuellen Situation konzertierte Entscheidungen auf den Weg zu bringen, ist eine schwere Aufgabe. Und um das klipp und klar zu sagen, ich möchte diese Entscheidungen nicht treffen müssen.

Auch der Ausstieg aus der Kontaktsperre ist alles andere als einfach, und letztendlich wird den regierenden Verantwortlichen kein Fachmann diese Entscheidung abnehmen können. Solche Entscheidungen setzen in jedem Fall demokratische Kontrolle, Offenheit und Transparenz voraus, um Vertrauen in der Gesellschaft zu begründen. Solange dieses Vertrauen existiert, sind wir in Deutschland ganz gut aufgestellt.

Es steht außer Frage, dass vor allen Dingen Menschen aus Risikogruppen besonders geschützt werden müssen. Doch nimmt man diesen Menschen (vor allem der älteren Bevölkerung) nicht auch ein Stück Selbstbestimmung und Selbstverantwortung?

Joschka Fischer: Nein, absolut nicht. Im Gegenteil, es zeigt doch, dass die intergenerativen Beziehungen und unsere Familienbande eine sehr, sehr wichtige Rolle spielen. Hier drückt sich z. B. das Mitgefühl mit den alt gewordenen Eltern aus, und das finde ich enorm positiv und sehe das nicht als Verlust von Autonomie. Wenn jemand besonders schutzbedürftig ist und eine erweiterte Fürsorge in der Familie oder auch in der Gesellschaft generell zum Ausdruck kommt, ist das etwas Gutes und nicht negativ zu bewerten.

Große Bedenken hätte ich allerdings, wenn sich Maßnahmen nur auf eine ganz bestimmte Generation oder eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen bezögen. Davon halte ich nichts. Wenn ich das mal auf mich beziehen darf: Wir Älteren wissen nur allzu gut, dass wir sehr viel mehr Rücksicht nehmen und vorsichtig sein müssen. Und wir wissen auch, dass wir ein sehr viel höheres Risiko eingehen, wenn wir dies nicht tun. So sind wir schon allein aus Eigeninteresse gut beraten, uns zurückzunehmen und zurückzuhalten. Ich bin sicher, die Mehrheit meiner Generation sieht das ähnlich und verhält sich entsprechend.

Insgesamt ist es eine positive Erfahrung, dass die Bevölkerung, ohne dass es zu extrem harten staatlichen Maßnahmen gekommen ist, den Regierungsentscheidungen Folge leistet und sich zum allergrößten Teil sehr vernünftig und freiwillig an die Empfehlungen und Regelungen gehalten hat und weiterhin hält. Das trägt auch jetzt noch grundlegend dazu bei, dass die getroffenen Maßnahmen (auch über die Zeit) erfolgreich greifen. Und auch hier zeigt sich wieder, wie wichtig Vertrauen unter allen Beteiligten ist. Eine Unterteilung in Altersgruppen hielte ich daher für nicht angemessen.

Einen weiteren Punkt, den ich kritisierenswert finde ist, wenn man z. B. als Berliner nicht mehr nach Mecklenburg-Vorpommern darf. Wir sind schließlich in Deutschland, und wenn einzelne Bundesländer und/oder Landkreise beginnen, sich abzuschotten, dann ist das in meinen Augen eine bedenkliche Entwicklung. Doch das wird man im Nachgang in aller Ruhe analysieren, um daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Systemrelevant aber unterbezahlt. Auf einmal werden die Menschen aus systemrelevanten Berufen/Unternehmen zu Helden. Betrachten wir die Fachkräfte im Pflege- und Gesundheitssektor. Wird sich das Image nachhaltig ändern, und sind Sonderprämien im Gesundheitssystem das richtige Signal?

Joschka Fischer: Erst einmal vorweg, wir dürfen auch die Personen in den (systemrelevanten) Berufen nicht vergessen, die die logistischen Lieferketten aufrechterhalten, wie z. B. die Lkw-Fahrer usw.

Nun zu Ihrer Frage: Angesichts der Leistung, die das Personal in der Pflege und in Kliniken täglich erbringt, ist eine Besserstellung sowohl finanziell als auch im Hinblick auf eine nachhaltig wertschätzende, gesellschaftliche Wahrnehmung dringend geboten. Und ich kann – auch aus eigener Erfahrung heraus – vor der Arbeit und vor allem vor der Verantwortung, der sich diese Menschen Tag für Tag bei einer teils erbärmlichen Bezahlung stellen, nur den Hut ziehen. Deswegen hoffe ich sehr, dass es durch die Corona-Krise nicht nur zu einer (Image-)Aufwertung von Pflege- und Gesundheitsberufen kommt, sondern auch zu einer deutlich besseren finanziellen Besoldung und einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. 

Es liegt klar auf der Hand, die Pflege- und Gesundheitsberufe bzw. das gesamte Pflege- und Gesundheitswesen kann man nicht ökonomisieren. Genau das stellen wir gerade in der Krise fest. Das Pflege- und Gesundheitswesen ist ein wesentlicher Bestandteil der Daseinsvorsorge einer offenen Gesellschaft – und das kostet!

Vor wenigen Monaten wurde noch über Studien diskutiert, die die Schließung vieler kleiner Krankenhäuser vorsahen. Heute, mitten in der Corona-Krise, sind wir heilfroh, dass es noch nicht soweit gekommen ist. Denn ein Gutteil der Intensivbetten wird momentan durch kleinere Krankenhäuser zur Verfügung gestellt. Wir werden hier im wahrsten Sinne des Wortes umdenken und die Prioritäten anders setzen müssen. Aus meiner Sicht wird die Zeit der Kürzungen im Gesundheitssystem zu Ende gehen, und wir werden dementsprechend Daseinsvorsorge betreiben müssen – und dafür auch bezahlen.

Was muss sich in der Zukunft in Sachen Finanzierung der Gesundheitspolitik ändern?

Joschka Fischer: Man muss sicher nicht jede „Verrücktheit“ mitmachen. Es ist wichtig, genau zu betrachten und demokratischen und transparent zu entscheiden, welche und wie viele Gesundheits- und Spezialzentren ein Flächenland mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsgröße wie Deutschland braucht.

Es kann und darf nicht sein zu glauben, ein teures medizinisches System auf den Knochen der Beschäftigten sanieren zu können.

Die Männer und Frauen im Pflege- und Gesundheitsbereich, die oft schwere Arbeiten auf sich nehmen und in vielen Fällen auch Verantwortung für die von ihnen in gewisser Weise abhängigen Menschen übernehmen, brauchen keine Dankbarkeit in Worten, sondern ein faires und auskömmliches Einkommen. Auch Zustände von Überforderung oder beklagenswerten Arbeitsbedingungen müssen behoben werden. Es muss in der Betrachtung unseres Gesundheitssystems ein Umdenken stattfinden. So wichtig Kostengesichtspunkte auch sind, aber sie können nicht alles sein, und sie dürfen nicht die letzte Aussage sein. Denn, um das nochmal klar herauszustellen, der letzte Zweck unseres Gesundheitssystems ist die Daseinsvorsorge – für uns alle. 

Herzlichen Dank für das angenehme Gespräch!

1 comment
  1. Herr Fischer spricht mir aus der Seele. Ich bin seit rund 50 Jahren ununterbrochen im Pflegesystem (verschiedene Bereiche, Funktionen, auch MDK), tätig. Seit Jahren beschäftige ich mich freiberuflich mit der Qualitätsberatung in der Langzeitpflege. Die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr Lohn kenne ich aus dieser langen Zeit und aus unterschiedlichen Perspektiven nur zu gut. Meine Erfahrung: Mit jedem Versuch des Berufsstandes wurden die Bedingungen eher schlechter. Schlimm wurde es, als das Gesundheitswesen dem freien Spiel des Marktes überlassen wurde. Wer die Gewinner und wer die Verlierer waren und sind, wissen eigentlich alle Beteiligten. Und wer das Sagen hat??? Nun das wissen wir doch eigentlich auch. Deshalb: Bei allem Respekt gegenüber Herrn Fischer, bleibt das wohl eher eine nie erreichbare Vision.

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