Über die Kosten der Pflege und eine neue Reform referierten und diskutierten in München: der Sozialexperte Thomas Klie, der Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform Bernhard Schneider, der Vorstandsvorsitzende der Bank für Sozialwirtschaft Harald Schmitz, sowie die beiden KWA Vorstände Dr. Stefan Arend und Horst Schmieder. 

Von links: Prof. Dr. Thomas Klie (Ev. Hochschule Freiburg), Bernhard Schneider (Sprecher d. Initiative Pro-Pflegereform), Dr. Stefan Arend (KWA Vorstand), Ministerialdirektorin Ruth Nowak (Amtsleiterin Bayer. Gesundheitsministerium), Horst Schmieder (KWA Vorstand), Prof. Dr. Harald Schmitz (Vorstandsvorsitzender der BfS)

Viele Fragestellungen seit der Einführung der Pflegeversicherungen sind gleichgeblieben. Immer wieder geht es – damals wie heute – um die Pflegequalität und deren Finanzierung. Neu ist, so KWA Vorstand Dr. Stefan Arend, dass das Thema Pflege mittlerweile in der Öffentlichkeit sehr prominent angekommen ist, vor allem wegen des Mangels an Pflegekräften.

„Was vielen Menschen mit Pflegebedarf und ihren Angehörigen aktuell Sorgen bereitet, ist der stark angestiegene Eigenanteil, der von Betroffenen in der stationären Pflege zu leisten ist.“

Dr. Stefan Arend, KWA Kuratorium Wohnen im Alter

Die Kosten für Pflege beim Pflegegrad 5, Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionen führen zu einer Summe von 1940 Euro, die Pflegebedürftige im Bundesdurchschnitt pro Monat aufbringen müssen, wenn sie im Heim leben und sich dort pflegen lassen. Wobei die Bandbreite groß ist: In Sachsen-Anhalt liegt der Eigenanteil (Stand 1.1.2020) bei 1359 Euro pro Monat, in Nordrhein-Westfalen bei 2.357 Euro, in Bayern bei 1969 Euro. Rund ein Drittel der Pflegeheimbewohner in Deutschland ist inzwischen auf Sozialhilfe angewiesen.

KWA Vorstand Horst Schmieder wies darauf hin, dass KWA sich als gemeinnütziger Träger schon vor einiger Zeit dazu entschieden hat, den Eigenanteil der Bewohner an den Pflegekosten zu deckeln. Der „Deckel“ scheine gut zu passen. KWA übernimmt die übersteigenden Kosten. Von den rund 2000 Stiftsbewohnern mit Pflegebedarf – in unterschiedlichen Pflegegraden – sind aufgrund dieser Maßnahme derzeit „nur“ 45 auf Sozialhilfe angewiesen. „Durch diese Deckelung können wir vielen Bewohnern ihre Ängste nehmen, ihnen ein Stück Sicherheit geben“, so Schmieder.

Der Sozialexperte Thomas Klie plädiert für einen Nachteilsausgleich über ein steuerfinanziertes Pflegegeld

Prof. Dr. Thomas Klie moderierte das KWA Symposium, nun schon zum 18. Mal. Der promovierte Jurist, Soziologe, Theologe, Gerontologe und Forschungsbeauftragte der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie Leiter von agp Sozialforschung hat das KWA Symposium mit ins Leben gerufen.

Klie eröffnete seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass in der Pflege seit Jahrzehnten um ein gerechtes System gerungen werde. Was er nach wie vor vertrete:

„Dort, wo höchster Pflegebedarf entsteht, wo der Mensch vulnerabel ist, müssen wir solidarisch sein.“

Prof. Dr. Thomas Klie, Sozialexperte

Derzeit stabilisieren circa 600.000 osteuropäische Haushaltshilfen unser Pflegesystem, so Klie. Viele sind illegal beschäftigt. Doch auch diejenigen, die über osteuropäische Vermittlungsdienste nach Deutschland kommen, werden schlecht bezahlt und ausgebeutet. Dies betrifft den häuslichen Bereich.

Verbesserungen sind in Kraft. Allein das Angehörigenentlastungsgesetz führt zu einer halben Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr bei der Sozialhilfe. Erkenntnisse der Konzertierten Aktion Pflege und aus einer Analytischen Personalbedarfsmessung für Heime führen zu weiterem Handlungsdruck.

Thomas Klie plädiert für einen Nachteilsausgleich über ein steuerfinanziertes Pflegegeld, welches ähnlich wie Kindergeld gezahlt werden könnte. Die Verantwortlichen sollten jedoch nicht nur die Finanzierung der stationären Pflege in den Blick nehmen, sondern auch das Leistungserbringungsrecht müsse reformiert werden. „Den Zeitfaktor in den Mittelpunkt zu stellen, war falsch“, betonte Klie. Auch die Vernachlässigung der häuslichen Pflege wertet Klie als Fehler. Dabei gehe es nicht nur um die Finanzierung, sondern auch um Wegsperren und Fixieren.

Zur Struktur-  und Finanzierungsreform in der Pflegeversicherung empfahl Thomas Klie vier Reformbausteine:

Reformbaustein 1: Die Stärkung der Kommunen. – Durch die Übertragung der Infrastrukturverantwortung sowie Care- und Case-Management vor Ort könne die Akzeptanz für die Pflegeversicherung erhöht werden – insbesondere durch Quartiers- und Dorfarbeit sowie regionale Versorgungszentren.

Reformbaustein 2: Monitoring des regionalen Infrastruktur- und Pflegekräftebedarfs. – Und zwar sektorenübergreifend (ohne Unterscheidung zwischen ambulant und stationär) sowie mit einem Qualifikationsmix beim Personal.

Reformbaustein 3: Die Flexibilisierung des Leistungsrechts – welches unter anderem ein Sachleistungs- und ein persönliches Budget berücksichtigt sowie die Trennung von ambulant und stationär aufhebt. Auch ein einrichtungsübergreifender Personaleinsatz solle möglich werden. Leistungen sollen entweder als Module oder über die Zeit erbracht und abrechenbar werden.

Reformbaustein 4: Eine Finanzierungsreform. – Klie kann sich diesbezüglich den „Sockel-Spitze-Tausch“ und ein steuerfinanziertes Pflegegeld vorstellen.

Bernhard Schneider stellte als Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform sieben mögliche Reformbausteine vor 

Bernhard Schneider kam als Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform. Als Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung trägt er Verantwortung für 141 Einrichtungen der stationären Pflege und mehr als 30 ambulante Dienste. Aktuell sind in Deutschland laut Schneider 450.000 pflegebedürftige Menschen auf Sozialhilfe angewiesen. Die Initiative Pro-Pflegereform ist ein nationales, verbandsübergreifendes, informelles Netzwerk, welches sich 2016 formiert hat, um der Bundesregierung konkrete und umsetzbare Vorschläge für einen Paradigmenwechsel und eine echte Stärkung der Pflege zu unterbreiten und an deren Umsetzung aktiv mitzuwirken.

Im Mai 2017 konnte die Initiative in Berlin ein 1. Gutachten übergeben, welches unter anderem in der Empfehlung mündete, ein einfacheres System einzuführen, nicht nach dem Ort der Pflege zu unterscheiden und den Eigenanteil von Versicherten zu begrenzen. Inzwischen wurde ein 2. Gutachten ausgearbeitet und im November 2019 veröffentlicht. Federführend war, wie schon beim 1. Gutachten, Prof. Dr. Heinz Rothgang. Er ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen. Rothgang konnte nicht selbst zum Symposium kommen, weil Bundesgesundheitsminister Jens Spahn just zur gleichen Zeit mit ihm reden wollte. 

Die Initiative Pro-Pflegereform möchte auf Basis des neuen Gutachtens sieben Reformbausteine als Vorschläge in die Diskussion einbringen. „Derzeit subventioniert die Krankenversicherung die Pflegeversicherung“, sagt Bernhard Schneider. Bei der Pflege zu Hause wird die Behandlungspflege von der Krankenkasse bezahlt, bei stationärer Pflege hingegen nicht. Die Initiative plädiert dafür, dass die Krankenkassen künftig die Kosten für die Behandlungspflege übernehmen – egal, wo sie erbracht wird. Die Pflegekasse solle hingegen die Kosten für die Grundpflege und die Betreuung nach SGB XI übernehmen.

Ein großes Problem ist: Derzeit wissen Pflegebedürftige nicht, wohin sich der Eigenanteil entwickelt, den sie zu tragen haben.

Mit einem fixen Eigenanteil durch den sogenannten Sockel-Spitze-Tausch hätten die Versicherten Planungssicherheit. Und das Risiko könnte dann auch von privaten Pflegeversicherungen gut kalkuliert werden. – Eine Pflegevollversicherung strebt Pro-Pflegereform nicht an.

Pro-Pflegereform plädiert für „Wohnen und Pflege in einer Welt ohne Sektoren“. Das heißt: Die Versicherungen sollen bei der Bezahlung von Leistungen nicht mehr zwischen ambulanter und stationärer Pflege unterscheiden. Bisher bekamen die Pflegebedürftigen Pflegegeld. Das soll sich – wenn es nach Pro-Pflegereform geht – künftig ändern: Das sogenannte „Pflegegeld 2.0“ soll an die Pflegenden gehen, nach dem Grundsatz „cash for care“. Pflegeheimen empfiehlt die Initiative Pro-Pflegereform die Umstellung auf Wohngruppen und ambulante Pflege.

Das sogenannte „3-Instanzen-Modell“ sieht vor, dass der MDK als erste Instanz auf der Basis eines neuen Begutachtungsinstruments ein bedarfsgerechtes, individuelles Leistungsbudget zuweist. Case und Care Management als zweite Instanz, in kommunaler Verantwortung, solle Pflegebedürftige und Angehörige in Bezug auf ein passendes, individuelles Pflegearrangement im Wohnquartier beraten. Ein ambulanter Pflegedienst könnte dann die tägliche Leistungsplanung übernehmen und solle einer Qualitätsprüfung und Qualitätssicherung unterliegen, so Schneider.

Zur Finanzierung von Pflegekosten schlägt der Sozialökonom Heinz Rothgang ein dreigliedriges Modell vor. Die Komponenten wären: eine Pflegebürgerversicherung, ein Steuerzuschuss in Höhe von 10 Prozent sowie für den Versicherten im Fall der Pflege einen Eigenanteil in Höhe von 471 Euro. Zur Abschätzung der finanziellen Auswirkungen wurden verschiedene Szenarien berechnet. Das Reformszenario – mit „Sockel-Spitze-Tausch“ und Begrenzung des Eigenanteils auf 471 Euro/Monat – würde zu einer Steigerung des Beitragssatzes auf 5,6 Beitragspunkte im Jahr 2045 führen.

Die Beitragssteigerung in den nächsten 25 Jahren ist im Wesentlichen von der demografischen Entwicklung und verbesserten Arbeitsbedingungen in der Pflege getrieben. – Da Pflege gemäß § 8 SGB eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sind, so Schneider, Steuerzuschüsse gerechtfertigt. Im gerechneten Reformmodell würde der jährliche Steuerzuschuss bis zum Jahr 2045 auf 10 Mrd. Euro anwachsen. Zur Stärkung der Kohleregionen nach dem Kohleausstieg will man 40 Mrd. Euro verteilen. Das zeige, dass es nur eine Frage des politischen Willens ist, ob man die Pflege auch finanziell stärken will.

Die Einführung einer Pflegebürgerversicherung würde gemäß einer Berechnung von Rothgang & Domhoff (von 2019) den ausgabendeckenden Beitragssatz im Jahr 2020 um 0,51 Prozentpunkte senken, im Jahr 2045 um 0,60 Prozentpunkte. Im Falle einer Bürgerversicherung und eines 10-prozentigen Steuerzuschusses könnte der Beitragssatz im Jahr 2045 bei knapp 4,4 Prozent liegen.

Der BfS-Vorstandsvorsitzende Harald Schmitz sieht enormen Investitionsbedarf in der Sozialwirtschaft

Prof. Dr. Harald Schmitz ist Vorsitzender des Vorstands der Bank für Sozialwirtschaft (BfS). Zunächst nahm der Finanzexperte aktuelle Marktentwicklungen in den Blick. Im Pflegemarkt bedecken die „TOP 5“ – Korian,  Alloheim, Pro Seniore, Orpea und Kursana – in Summe einen Marktanteil in Höhe von 10 Prozent. Die „großen“ freigemeinnützigen Träger können zwar nicht wie Großkonzerne betrachtet werden. Caritas ist beispielsweise ein eingetragener Verein und Spitzenverband von über 900 einzelnen Organisationseinheiten. Bei „aggregierter Betrachtung“ liegen im deutschen Pflegemarkt in Bezug auf verfügbare stationäre Plätze freilich noch vor den fünf genannten privaten Trägern: die Diakonie mit einem Marktanteil von 14 Prozent, Caritas mit 12 Prozent, die Arbeiterwohlfahrt mit 7 Prozent und das Deutsche Rote Kreuz mit 4 Prozent Marktanteil – macht in Summe rund 37 Prozent.

Thema Kassensturz. Die Niedrigzinsphase ist mit einer Geldschwemme verbunden. Dies verleitet Investoren laut Schmitz zu Investitionen in Wachstumsmärkte. Die starke Marktfragmentierung in der Pflege mit vielen privaten Trägern sei für Investoren reizvoll, sorge für eine hohe Marktdynamik. Dass die freie Wohlfahrtspflege „in ihren Strukturen stehenbleibt“ bewertet der BfS-Vorstandsvorsitzende als großes Risiko. Einen Kapazitätsaufbau in Bezug auf Pflegeheime und Pflegeplätze leisteten in den vergangenen Jahren in erster Linie die privaten Träger.

Das französische Unternehmen Korian griff Schmitz als Beispiel heraus. Korian ist seit Jahrzehnten in der Pflege tätig, mit ganzheitlichen Versorgungsangeboten sowie vielfältigen Betreuungs- und Dienstleistungen. In Korian haben unter anderem französische Versicherungsgruppen und ein kanadischer Pensionsfonds investiert. Versicherungen und Pensionsfonds schauen sich weltweit Märkte an, tätigen Investitionen in Pflege als langfristige, strategische Kapitalanlage. Doch auch Finanzinvestoren mit kurzfristigen Interessen – sogenannte Heuschrecken – finden sich im Pflegemarkt.  

Investitionen in Immobilien seien einfacher für Investoren als Investitionen in den Betreibermarkt – dazu brauche man kein Branchenwissen, sondern nur Mieter. Die Renditeerwartung bei Immobilien liege bei 4-6 Prozent. Im Jahr 2018 wurden in Deutschland 1,2 Mrd. Euro in Pflegeimmobilien investiert. Neben dem Betreibermarkt sei also auch der Immobilienmarkt sehr attraktiv.

Der Investitionsbedarf in der Sozialwirtschaft ist laut Harald Schmitz enorm. Allein für die stationäre Pflege bezifferte der BfS-Chef ihn für die Jahre 2019-2030 mit 62 Mrd. Euro.

Eine Befragung zum Stand der Digitalisierung ergab, dass der Investitionsanteil in Innovation und Digitalisierung „erschreckend niedrig“ ist.

Als Investitionshemmnisse benannte Schmitz den Fachkräftemangel sowie Belegungsdefizite, die zum Teil auf dem Fachkräftemangel beruhen. Die Renditen in der Sozialwirtschaft bewegen sich auf niedrigem Niveau – was immer so sei, wenn das Investitions-Risiko niedrig ist. Schmitz wies explizit darauf hin, dass auch gemeinnützige Träger Rendite erzielen müssen, „schon allein zum Finanzerhalt“. Das abschließende Fazit von Schmitz: „Neben dem Fachkräfteengpass ist der Kapitalzugang in der Sozialwirtschaft zu einem kritischen Erfolgsfaktor geworden.“  Dennoch prognostiziert der BfS-Vorstandsvorsitzende: „Der deutsche Pflegemarkt wird bestehen. – Langfristige Investoren können auch Durststrecken überstehen.“

KWA Vorstand Horst Schmieder sagt: Die Renten und Vermögen in Deutschland sind zu niedrig

KWA Vorstand Horst Schmieder verantwortet im gemeinnützigen Sozialunternehmen die Finanzen. Sein Fazit zum Symposium: „Sehr interessant finde ich eine Pflegewelt ohne Sektoren. Und auch die Fachkraftquote muss fallen. Beim Sockel-Spitze-Tausch bin ich etwas skeptisch. 78 Prozent der Menschen haben Sorge, dass sie ihre Ersparnisse verlieren bei stationärer Pflege. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es am Eigenanteil liegt. Es ist ein Grundproblem unserer Gesellschaft, dass die Renten zu niedrig sind. Der sogenannte Gini-Koeffizient beschreibt die Einkommensverteilung. Läge er in Deutschland bei 0, würden alle gleich viel verdienen. Je näher er sich bei 1 befindet, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung. Da liegt Deutschland mit einem Wert von etwa 0,3 gar nicht so schlecht. Anders sieht es mit dem Koeffizienten aus, der die Höhe des Vermögens beschreibt. Da liegt Deutschland mit einem Wert von 0,7 in Europa weit hinten. Griechen, Italiener, Spanier haben einen besseren Koeffizienten beim Vermögen als wir Deutschen. 60 Prozent der Deutschen haben ein Vermögen von unter 25.000 Euro. Wenn irgendein Problem auftaucht, ist das schnell weg. Das ist ein riesiges Problem, ist unter anderem ein Resultat der Steuerpolitik. Das erste Risiko für Altersarmut ist nicht die Pflegebedürftigkeit, sondern die Entwicklung der Nettoeinkommen. Eine Gesellschaft wie unsere muss die Frage der Vermögensverteilung lösen können.“

Foto Copyright: KWA / Jörg Peter Urbach 

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