Elisabeth Haslinger-Baumann ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und studierte Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Wien und im Doktoratsstudium Pflegewissenschaft an der Universität UMIT Hall in Tirol. Sie hat mehr als zehn Jahre Erfahrung als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin im In- und Ausland. Von 1998 bis 2013 war sie im Forschungsinstitut des Roten Kreuzes (Wien) beschäftigt. Seit 2014 zuständig für Lehre und Forschung an der FH Campus Wien. Sie hat das Kompetenzzentrum Angewandte Pflegeforschung am Department Angewandte Pflegewissenschaft aufgebaut und leitet es seit 2019. Sie ist Projektleiterin von mehreren interdisziplinären Projekten an der Schnittstelle Pflege und Digitalisierung.

Wie schätzen Sie die Digitalisierung in der Pflege in Österreich ein – auch im Vergleich zu Deutschland?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann: Die Ergebnisse der Befragungsstudie in Deutschland im Jahr 2018 mit 495 befragten Gesundheits- und Krankenpflegern ergab eine hohe positive Zustimmung zum Einsatz von digitaler Technik in der Pflege (87 %). Dies wird durch eine 2021 in Österreich durchgeführte Studie noch übertroffen.

Die hohe Bedeutung der digitalen Kompetenzen in der Pflegepraxis wurde von den 147 befragten jungen Pflegepersonen mit 98 % Zustimmung bejaht.

Die Digitalisierung in der Pflege (bzw. im Gesundheitsbereich) wird grob in drei Bereiche eingeteilt: 

Informations- und Kommunikationstechnologien, für Dokumentation, Information, Verwaltung. Mit dem Einsatz in mobilen Endgeräten. Dieser Bereich ist in Österreich und in Deutschland im höchsten Ausmaß umgesetzt. In Österreich ist z. B. in mehr als der Hälfte der Krankenhäuser die elektronische Pflegedokumentation in zumindest einem Bereich umgesetzt. In Deutschland ist diese Quote etwas niedriger, aber Deutschland zieht hier sehr nach. Am weitesten vorne mit der elektronischen Pflegedokumentation sind Dänemark und die Niederlande. 

Zweitens, die intelligente und vernetzte Robotik und Technik für Service- und Transportrobotik, pflegenahe Robotik, Emotionsrobotik, Rehabilitationsrobotik. Im Einsatz sind nur sehr wenige robotische Systeme, da der Großteil der Produkte noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase steckt. Besonders die pflegenahe Robotik spielt kaum eine Rolle in der pflegerischen Versorgung. Aktuell scheitert die Einführung auch wegen datenschutzrechtlichen Bedenken, aber vor allem an der Kosteneffizienz. Die Kosteneffizienz ist eine zentrale Position bei der Anschaffung neuer Systeme. 

Vernetzte Hilfs- und Monitoringsysteme in Form von intelligenter Sensortechnik, Überwachung der Vitalparameter, Telehealth-Monitoring, Active and Assisting Living werden ebenfalls immer bekannter. Diese Technologien kennen zum Beispiel die Hälfte der befragten Pflegepersonen der Befragungsstudie in Deutschland (2018) in ihrem Arbeitsfeld, und zwei Drittel der Befragten sehen eine klare Hilfestellung in ihrer Tätigkeit durch die digitalen Assistenzsysteme. Diese Ergebnisse lassen sich auch auf Österreich übertragen. Der Bereich Active and Assisting Living entwickelt sich rasch. Zunehmend sind die einzelnen Anwendungen auch untereinander vernetzbar und sollen den Alltag der älteren Menschen zu Hause managen helfen. Pflegepersonen nehmen hier eine zentrale Rolle in der Information zur Anwendung dieser Systeme ein. 

Seit April läuft das Pionierprojekt „Linked Care – LICA“ an der FH Campus Wien. Was verbirgt sich genau hinter dem Projekt?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann: Das Ziel von LICA-Linked Care ist, dass Betroffene und deren Angehörige mit Menschen in Pflege- und Betreuungsberufen, Ärzten sowie Therapeuten und Apotheken online effizient, sicher und niederschwellig direkt mit optimaler IT-Unterstützung zusammenarbeiten können.

Linked Care bedeutet also, dass Schnittstellen in der Informationsweitergabe ausgebaut werden und damit sowohl unnötige Doppelerhebungen, aber vor allem auch Informationsverluste zukünftig verhindert werden sollen. 

Was ist das Besondere/Neue?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann: LICA soll ausgehend von mobilen Pflege- und Betreuungsdiensten ein Zusammenwirken der unterschiedlichen Berufsgruppen wie der Pflege, der Betreuung (auch 24-Stunden-Betreuung), der therapeutischen Berufe und der medizinischen Dienstleistungen durch eine durchgängige digitale Kommunikations- und Informationsaustauschmöglichkeit bieten. Bestehende digitale Systeme werden dabei berücksichtigt. Es werden Interfaces zur Integration dieser bereits bestehenden Dokumentationssysteme entwickelt. 

Die möglichen Schnittstellen zu Arztsoftware und Apotheke und in ELGA vorhandenen Dokumenten helfen Mehrfacherfassungen zu vermeiden. Die Erarbeitung wesentlicher Standards (z. B. einer Care Summary) und die Einbeziehung aller betroffenen Zielgruppen ermöglichen es, praxisgerechte IT-Tools für standardisierte Vernetzung in der mobilen Betreuung und Pflege zu entwickeln. Künstliche Intelligenz liefert „intelligente“ Sensordaten über Gesundheitsaspekte wie zum Beispiel Vitalparameter und kann somit dabei helfen, die responsive Oberfläche des Portals zu steuern.

Das Ergebnis wird ein integriertes, leistbares, einfach zu bedienendes, gut vernetztes IT-System für Pflege, Betreuung, Therapie und auch Betroffene selbst sein.

Linked Care kann über mobile Endgeräte, PC oder Tablet bedient werden und lässt in der Evaluierung klare Verbesserungen in der durchgängigen Gesundheitsversorgung erkennen.

Kurz gesagt ist LICA sowohl eine Web-Plattform als auch eine Schnittstellensoftware ohne Endnutzer-Interface.

Wer ist bzw. welche Branchen sind im Projekt involviert? Mit wem arbeiten Sie zusammen?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann:

Die Zusammenarbeit mit Stakeholdern und Endusern ist einzigartig.

Bei der Expertise aus dem Bereich Pflege und Betreuung greifen wir auf Erfahrungen von Endusern zurück, es beteiligen sich Organisationen wie Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit, Johanniter Österreich Ausbildung und Forschung gem. GmbH, Wiener Rotes Kreuz- Rettungs-, Krankentransport-, Pflege- und Betreuungsgesellschaft m. b. H., Volkshilfe Gesundheits- und Soziale Dienste GmbH und Volkshilfe Wien gemeinnützige Betriebs-GmbH. 

Die technische Umsetzung erfolgt durch im Gesundheits- und Pflegebereich sehr erfahrenen Partnerinnen und Partner: CareCenter Software GmbH, Loidl-Consulting & IT Services GmbH, Compugroup Medical CGM, Österreichische Apotheker-Verlagsgesellschaft m.b.H. sowie Steszgal Informationstechnologie GmbH. 

Gemeinsam mit der Universität Wien und der FH Technikum Wien legen wir bei der wissenschaftlichen Arbeit auch großen Wert auf den Fokus Ethik.  

Welchen Nutzen werden Pflege-/Betreuungsbedürftige und deren Angehörige sowie Pflegende/Betreuende von LICA haben?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann: Große Vorteile für Betroffene/Klienten ergeben sich durch die aktive Einbindung in den Pflege-/Betreuungsprozess. Sie können rasch Einsicht in die eigene Dokumentation erlangen, dies ist vor allem auch durch die einfach bedienbare Benutzungsoberfläche gewährleistet. Generell erfährt die Kommunikation eine Vereinfachung.

Schlussendlich führen diese Vorteile auch zu einer Erhöhung der individuellen Autonomie. 

Angehörige können je nach Bedarf oder Wunsch somit aktiv in den Pflege-/Betreuungsprozess eingebunden werden. Sie profitieren dadurch, dass eine zielgerichtetere Planung der informellen Pflege/Betreuung ermöglicht wird und die Informationseinholung stark vereinfacht wird.

Vorteile für Pflege- und Betreuungspersonen: Sie haben alle relevanten Daten auf einen Blick in der Pflege-Summary. Die einfache Bedienung der entsprechenden Werkzeuge zur Dokumentation unterstützt innovative Arbeitsprozesse durch vereinfachte interdisziplinäre und Setting-übergreifende Zusammenarbeit.

Die standardisierte und einfache Kommunikation trägt massiv zur Überwindung sprachlicher, Setting-spezifischer und demografischer Barrieren bei.

Wie können Gesundheitsanbieter und Pflegedienstleister zukünftig von LICA profitieren?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann: Die erstmalige Vernetzung noch nie miteinander verknüpfter Systeme bringt große Vorteile für Gesundheitsdienstanbieter/Dienstleister. So findet die Anwendung von ELGA (elektronische Patientenakte für alle Österreicher) auch Eingang in der Pflege und Betreuungspraxis. Neue Angebote wie Telemedizin/E-Health werden vorangetrieben. 

Linked Care bietet ein Portal/Tool für alle Stakeholder (Pfleger, Betreuer, Angehörige, Klienten, Mediziner, Apotheker und Therapeuten), sprich trägt zur Vereinheitlichung und damit Vereinfachung bei.

Flexibler Umstieg auf digitale Dienste ist sofort möglich, wenn es die Situation erfordert (z. B. Covid). Letztendlich steigert das auch die Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit, denn die neuen Technologien können einfach und schnell angewendet werden.

Bei immer größerer, digitaler Transparenz und interdisziplinärer Zusammenarbeit, inwieweit wird eine digitale Ethik in den Entwicklungsprozess mit einbezogen?

Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann: Dem Thema Autonomie der pflegebedürftigen Person wird im Projekt breiter Raum gewidmet.

Ethisch betrachtet zielt das Projekt auf innovative Weise auf Empowerment der Klienten ab, indem diese als Nutzer des neu zu entwickelnden Tools in ihrer selbst-bestimmten alltäglichen Lebensführung gestärkt werden.

Zugleich liegt das Augenmerk auf der besonderen Vulnerabilität der Klienten. Dabei kommt es darauf an, das Prinzip des Nichtschadens mit dem Benefizienzprinzip in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. Um den genannten ethischen Aspekten durchgehend während des gesamten Projektprozesses Geltung zu verschaffen, wird mit dem diskursethischen Modell gearbeitet. Vorgesehen sind nicht nur Workshops mit den beteiligten Forschern, sondern auch mit den Endnutzern. So können während des gesamten Prozesses konkrete ethische Probleme innerhalb der Entwicklungsphase der Softwarekomponenten bis hin zur Implementierung aufgezeigt und lösungsorientiert diskutiert werden. Das Thema Behandlungs- und Versorgungssicherheit wird mit einer medizin- und pflegeethischen Reflexionskompetenz in der individuellen Versorgungssituation verbunden und wird zugleich auf übergeordnete Team- und Organisationsebenen bis hin zur Ebene des Gesundheitssystems bezogen.

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt: https://www.fh-campuswien.ac.at/forschung/projekte-und-aktivitaeten/lica-linked-care-durchgehende-informationsversorgung-in-der-mobilen-pflege-und-betreuung.html

Weitere Informationen über das Kompetenzzentrum für Angewandte Pflegeforschung:

https://www.fh-campuswien.ac.at/forschung/kompetenzzentren-fuer-forschung-und-entwicklung/kompetenzzentrum-fuer-angewandte-pflegeforschung.html

Foto: © FH Campus Wien/Schedl


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