Christine Naumann ist Diplomingenieurin für Architektur und Innenarchitektur und spezialisierte sich im multiprofessionellen Masterstudium an der Privaten Universität Witten/Herdecke auf die Versorgung von Menschen mit Demenz. Kontakt: info(at)christinenaumann.de.
Sie beschäftigen sich in Ihrem im Januar erschienen Buch explizit mit Möglichkeiten der Wohnumfeldverbesserungen für Menschen mit Demenz unter Berücksichtigung ihrer individuellen (Lebens- und Gesundheits-)Situation. Für welche Berufsgruppen ist das Buch konzipiert?
Christine Naumann: Die Kernzielgruppe meines Leitfadens sind Beratende von Wohnberatungsstellen. Diese haben in ihrer täglichen Arbeit mit Anfragen von älteren und chronisch eingeschränkten Menschen und/oder ihren Angehörigen zu tun, die wissen möchten, wie sie ihre Wohnumgebung den aktuellen Bedarfen anpassen können. Es kommen aber auch Begutachtende des MDK oder Lehrende und Studierende, beispielsweise der Architektur oder der Pflegewissenschaft, in Betracht.
Die Zielgruppe für mein Buch ist also divers und deren beruflicher Hintergrund dementsprechend ebenfalls. Meiner Meinung nach gibt es bisher kein „solides“ Handwerkszeug für die Beratung zu Wohnumfeldverbesserung bei Demenz, welches sowohl evidenzbasierte Maßnahmen beinhaltet als auch die vorhandenen baulichen und sozialen Rahmenbedingungen ausreichend berücksichtigt.
Was ist das ausgewiesene Ziel des Buches?
Christine Naumann: Die meisten Internetseiten, Broschüren und Ratgeber fokussieren sich auf die Bedarfe von Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Sie gehen bei den vorgeschlagenen Maßnahmen von der baulichen Situation aus und versuchen, räumliche Barrieren (z. B. Stufen oder Schwellen) zu beseitigen. Eine derartige Barriere muss aber nicht zwingend ein Problem für eine Person mit Demenz darstellen. Viel wichtiger ist es, genau zu gucken, wo die Probleme in der Durchführung der Alltagsaktivitäten liegen und danach mögliche Maßnahmen dagegen vorzuschlagen. Und es ist wichtig zu prüfen, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, damit die Umsetzung erfolgreich sein kann.
In meiner Arbeit habe ich einen Grundstein für die Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Leitfadens gelegt. Das Buch beschreibt die konkrete Vorgehensweise bei dieser Entwicklung. Angefangen bei einer systematischen Literaturanalyse möglicher Maßnahmen für Menschen mit Demenz, über die Verknüpfung von baulicher Intervention mit demenzspezifischer Problemlage bis hin zu entscheidungsrelevanten Kontextbedingungen für jede Maßnahme. In der Arbeit wurde die Struktur des Leitfadens definiert und mit exemplarischen Kapiteln und Maßnahmen verdeutlicht. In einem nächsten Schritt soll die Evaluierung und Weiterentwicklung des Leitfadens erfolgen.
Ziel des Leitfadens ist es, die Beratungssituation zu erleichtern und die Beratenden darin zu unterstützen, bedarfsgerechte räumliche Maßnahmen zu empfehlen, welche den individuellen Lebenshintergrund der Betroffenen und deren Angehörigen berücksichtigen.
Welche Bedeutung hat die bauliche Umgebung für Menschen mit Demenz?
Christine Naumann: Die gewohnte Umgebung kann therapeutische Wirkung entfalten, sofern sie auf die Bedarfe abgestimmt ist. In ihrem Zuhause zeigen Menschen mit Demenz oft erstaunliche Fähigkeiten. Die bekannte Umgebung kann Alltagsabläufe unterstützen und Sicherheit bieten. Räume, Möbel und Gegenstände können auch identitätsstiftende Wirkung haben. Wir alle kennen sicher Gefühle von Heimat, Zuhause und Angekommensein. Dies sind Assoziationen, die oft schon beim Öffnen der Haustür über Gerüche, Geräusche und Bilder entstehen.
Die meisten Menschen mit Demenz möchten so lange wie möglich in ihrem gewohnten Zuhause wohnen bleiben. Durch die Einschränkungen, die sich im Verlaufe einer Demenz ergeben, wird die selbständige Durchführung der Alltagsaktivitäten jedoch meist erschwert, und die Abhängigkeit von personeller Hilfe wächst. Dies betrifft sowohl die Pflege als auch „normale“ Alltagshandlungen, wie z. B., den Weg zum Badezimmer zu meistern. Es ist sehr wichtig, Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen darin zu unterstützen, ihre Umgebung den sich verändernden Bedingungen anpassen zu können. Denn mit zunehmendem Verlauf der Demenz werden die Einschränkungen meist schwerwiegender, sodass „nachjustiert“ werden muss.
Welche Aspekte (architektonisch, pflegerisch, medizinisch) wurden dabei in der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt?
Christine Naumann: In der Forschung wurde das häusliche Setting vernachlässigt. Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf professionelle Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser. Dies ist in gewisser Weise verständlich, da der Feldzugang zu diesem Setting einfacher ist. Es entspricht jedoch nicht der Lebensrealität der meisten Menschen mit Demenz, denn etwa 75 % leben zu Hause.
Herausfordernd – egal in welchem Setting – ist der Umgang mit der Komplexität der baulichen Umgebung.
Bei den wohnumfeldverbessernden Maßnahmen handelt ist sich um eine dynamische Interaktion zwischen der Person mit Demenz, der Maßnahme und den vielfältigen Kontextbedingungen.
Der Prozess beginnt mit der Planung einer Veränderung. Bei der Umsetzung sind dann teilweise handwerkliche Arbeiten und fremde Personen im Haus. In vielen Fällen führt das bereits zu Verunsicherung der Person mit Demenz. Sobald die Maßnahme umgesetzt wurde, muss in der Regel eine Gewöhnung an die neue Situation erfolgen. Dies alles muss im Vorfeld einer Maßnahme berücksichtigt werden. Das Zusammenspiel all dieser Aspekte (baulich, pflegerisch, sozial) wird bisher in den vorhandenen Ratgebern nicht berücksichtigt.
Bei der Anpassung der häuslichen Umgebung gilt es also, sowohl architektonische als auch gesundheitsbezogene Aspekte zu beachten und unter Berücksichtigung all dieser Voraussetzungen die Umgebung bestmöglich zu gestalten. In meinem Leitfaden schreibe ich aus der Perspektive der Architektur und Innenarchitektur, denn dies ist mein grundlegender beruflicher Hintergrund. Allerdings verwende ich Konzepte der Medizin und die Perspektive der Sozialgesetzgebung der Pflege, um räumliche Fragen mit gesundheitlichen Fragen zu verbinden. Um zum Beispiel die gesundheitlichen Rahmenbedingungen zu erfassen, verwende ich die ICF. Dies ist ein Klassifikationssystem der WHO, welches alle gesundheitsrelevanten Faktoren beschreibt.
Wie können wohnumfeldverbessernde Maßnahmen hilfreich sein?
Christine Naumann: Vielen Menschen mit Demenz (und ihre Angehörigen) leiden beispielsweise unter den Folgen einer Inkontinenz. Diese kann vielfältige Ursachen haben. Neben organischen Gründen kann es z. B. auch sein, dass die Toilette nicht mehr gefunden wird. Dann sind Wahrnehmungs- oder Orientierungsschwierigkeiten Ursache der Störung. In diesem Fall kann mit (teilweise einfachen) räumlichen Mitteln der Weg zum Badezimmer erleichtert werden, z. B. über eine spezielle Beleuchtung oder über Veränderungen an der Badezimmertür.
Ein weiteres Beispiel:
Für Menschen mit Demenz ist es in der Regel sehr hilfreich, eine ablesbare Umgebung zu haben.
Hierzu kann man mit Kontrasten arbeiten. Dies wird auch oft empfohlen. Jedoch ist die Kontrastwahrnehmung im Alter und bei Demenz häufig stark eingeschränkt. Es gilt also individuell zu prüfen, ob eine Veränderung überhaupt wahrgenommen werden könnte oder ggfs. Seheinschränkungen vorliegen – und wenn ja, in welchem Maße.
Was können Architekten speziell leisten/beitragen bzw. wie muss sich das Studium verändern (Was macht Multiprofessionalität aus)?
Christine Naumann: In meinem Architekturstudium spielten die gesellschaftlichen Veränderungen leider eine untergeordnete Rolle. Wir planten lieber Kindergärten oder Schulen, am liebsten Studentenwohnheime. In den zeitlich sehr knapp angelegten Architekturstudiengängen sind gestalterische und bauliche Themen priorisiert. Große gesellschaftliche Fragen, wie Klimawandel und Bevölkerungsentwicklungen werden zwar zunehmend in den Lehrplan aufgenommen, jedoch sind Themen des barrierefreien Bauens und altersgerechter Umwelten in der Regel nicht fest im Lehrplan verankert. Professionsübergreifende Zusammenarbeit ist selten. Dabei begegnen Architekten spätestens auf der Baustelle anderen Berufsgruppen und sind häufig Moderatoren zwischen den einzelnen Berufsgruppen und den Bauherren.
Sehr wichtig finde ich den Dialog mit den Nutzern. Deren Alltagsblick zeigt oft deutlich die vorherrschenden Probleme, die durch starre Organisationsstrukturen, Gesetze, Architektur oder soziale Gefüge entstehen und zu deren Lösung die beteiligten Berufsgruppen beitragen können. Die Voraussetzung dazu ist aber ein konstruktiver Dialog – und der kommt oft nicht zustande. In der Regel sind mit der Inbetriebnahme eines Gebäudes die Baudisziplinen verschwunden, sie haben ihren Auftrag erfüllt. Wir müssten viel mehr über Nutzerbedarfe sprechen. Man kann nur gute Räume planen und bauen, wenn die Nutzer, Alltagsabläufe und Bedarfe berücksichtigt werden. Und das gilt überall: im Einfamilienhaus, in der Pflegeeinrichtung und im Krankenhaus.
Die Planungsdisziplinen haben eine wichtige Aufgabe: wir planen und bauen den Lebensraum der Menschen. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Gestaltung des Raumes zu sehen, sondern auch die Nutzer im Blick zu haben, rechtliche und politische Rahmenbedingungen zu kennen und Gebäude zu entwerfen, die in allen Lebenslagen nutzbar sind.
Nennen Sie uns bitte die wichtigsten möglichen Maßnahmen zur Förderung der Selbstständigkeit in pflegerelevanten Lebensbereichen.
Christine Naumann: Das wesentliche Ziel bei allen Maßnahmen sollte sein, die Selbständigkeit zu fördern und die Pflege zu erleichtern. Hierzu können in unterschiedlichen Lebensbereichen Maßnahmen ergriffen werden.
Generell ist es hilfreich, dass die Umgebung deutlich und ablesbar gestaltet ist. Neben den altersbedingten Seheinschränkungen leiden Menschen mit Demenz häufig unter einer verringerten Kontrastwahrnehmung, und somit werden räumliche Elemente schwerer erkannt. Da kann es schon mal sein, dass eine Tür nicht bedient werden kann, weil sich der Türgriff nicht vom Türblatt abhebt. Auch fehlerhafte Interpretation der Umgebung kann ein Problem sein. So können Veränderungen im Bodenbelag (Hell-Dunkel-Wechsel) als Stufe interpretiert und damit zur Stolperfalle werden. In solchen Fällen sollte ein durchgehend gleicher Bodenbelag gewählt werden.
Viele Menschen mit Demenz haben kognitive Problemlagen, z. B. Wahrnehmungsschwierigkeiten oder Ängste. Aber auch körperliche Beeinträchtigungen spielen im Verlauf der Demenz eine wichtige Rolle. Die Einschränkungen sind individuell sehr unterschiedlich, die daraus resultierenden Probleme auch. Wichtig ist es, genau hinzusehen und dann die passende Maßnahme zu wählen.
Wie geht’s weiter?
Christine Naumann: In meiner Arbeit habe ich die grundlegende Struktur für den Leitfaden entwickelt und exemplarische Maßnahmen ausgearbeitet. Aktuell sind wir auf der Suche nach Kooperationspartnern und Fördermöglichkeiten, um den Leitfaden wissenschaftlich zu evaluieren und die Anwendung in der Praxis zu testen.
Besten Dank für die Beantwortung unserer Fragen.
Hinweis der Redaktion: Das Buch von Christine Naumann „Wohnumfeldverbesserungen für Menschen mit Demenz – Bauliche Maßnahmen unter Berücksichtigung komplexer Gesundheitsprobleme“ ist im Januar 2019 im Springer Verlag in der Reihe „Best of Pflege“ erschienen, 169 Seiten, Softcover: 54,99 Euro, ISBN 978-3658247539 oder als eBook: 42,99 Euro, ISBN 978-3-658-24754-6
„Christine Naumann verbindet in ihrem Buch die Perspektiven der Architektur, Pflege und Medizin und setzt bauliche Interventionen mit individuellen Gesundheitsproblemen von Menschen mit Demenz in Zusammenhang. Mithilfe von Anleihen in den unterschiedlichen Berufsgruppen und deren Regelwerken (DIN-Normen, ICF, SGB XI) entsteht ein multiperspektivisches Werk. Ein Maßnahmenkatalog für demenzgerechte Wohnungsanpassung systematisiert das komplexe Wirkungsgefüge von Person und Umwelt und kann die Beratenden unterstützen, die passende Intervention für die Person mit Demenz unter Berücksichtigung individueller Einschränkungen und der baulichen Rahmenbedingungen zu empfehlen.“ (siehe www.springer.com/de/book/9783658247539).