Christian Stichler studierte Politikwissenschaften, Geschichte, Literatur und Skandinavistik in Hamburg. Seit 2018 leitet er als ARD-Korrespondent das schwedische Hauptstadtstudio in Stockholm.
Wie erleben Sie dort ganz persönlich die Corona-Pandemie bzw. wie gehen Sie damit um?
Christian Stichler: Als Auslandskorrespondent lebe ich gewissermaßen zwischen den Welten. Zum einen habe ich meine redaktionelle Heimat in Deutschland und verfolge die deutschen Medien. Zum anderen bewege ich mich als Auslandskorrespondent in einem fremden Land. Hier in Schweden war schon von Anfang an klar, dass das Land im Umgang mit der Corona-Pandemie einen anderen Weg einschlagen wird als Deutschland. In Schweden gibt es bis heute keine Maskenpflicht, Schulen bleiben weiterhin geöffnet, in Deutschland wurden sie zeitweise komplett geschlossen. Zudem begann in Deutschland relativ schnell die Diskussion über Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren, in Schweden geht das Leben immer noch mehr oder weniger uneingeschränkt weiter. Es gibt lediglich die Empfehlung, 1,5 Meter Abstand zu halten.
Sehr deutlich kamen die Unterschiede beim Vergleich der Pressekonferenzen des RKI in Deutschland mit den Pressekonferenzen der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit zum Tragen. Auf der schwedischen Seite vermittelte der Epidemiologe Anders Tegnell sehr lange den Eindruck, dass Schweden alles im Griff hat, es nicht so schlimm werden und alles vorbeigehen würde. Im Gegensatz dazu war beim RKI bereits Anfang März eine gewisse Alarmstimmung angesichts der steigenden Fallzahlen zu spüren.
Daraufhin blieben Auswirkungen auf meinen beruflichen Alltag nicht aus: Reisebeschränkungen, Homeoffice, keine unnötigen Kontakte, auch nicht im Arbeitsteam. Während die schwedischen Kollegen praktisch normal weiterarbeiteten, waren wir bereits im – wie wir es genannt haben – virtuellen Auslandsstudio tätig.
In der zweiten Phase der Corona-Krise bekam ich manchmal den Eindruck, dass die Schweden – von ihrer Lebensweise her – sehr viel freier agierten, während in Deutschland eine Restriktion nach der anderen beschlossen wurde. Allein die Tatsache, dass die Menschen aufgrund von Zutrittsbeschränkungen vor Supermärkten Schlange standen, war ein Bild, das mir aus Schweden völlig fremd war.
Sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld lebte und lebe ich in zwei verschiedenen Welten. Mittlerweile hat sich einiges wieder etwas angeglichen, doch Unterschiede bleiben.
Schweden hat im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern mehr auf freiwillige Einschränkungen der Bevölkerung gesetzt. Leider ist vor allen Dingen die Zahl der Todesfälle in Pflegeheimen sehr hoch. Gab es in Schweden Besuchsverbote in Pflegeheimen? Wie wurden diese umgesetzt?
Christian Stichler: Was die Gesundheitsversorgung angeht, ist Schweden sehr dezentral organisiert, und die 21 politischen und administrativen Regierungsbezirke (schwedisch: Län) haben große Befugnisse. So gab es zum Beispiel in Stockholm und anderen von der Corona-Pandemie stark betroffenen Regionen relativ früh (etwa Mitte März) Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen. Ein Besuchsverbot für ganz Schweden wurde ab 1. April beschlossen. Angehörige durften ihre Verwandten in den Alten- und Pflegeeinrichtungen nicht mehr treffen. Im Grunde eine sinnvolle Maßnahme. Doch täglich kommen verschiedene Pflegekräfte in die Heime.
Das schwedische Gesundheitssystem wurde in den vergangenen Jahren sehr stark durchrationalisiert. So gibt es nicht mehr einen oder zwei feste Pfleger für eine bestimmte Anzahl von bekannten Patienten, sondern ein Pfleger betreut üblicherweise 15 Fälle im wöchentlichen Wechsel.
Daraus resultiert eine knappe Personaldecke und eine hohe Fluktuation von Pflegekräften in den Alten- und Pflegeheimen. Viele dieser Pflegekräfte haben beispielsweise einen Migrationshintergrund, sind nicht so gut ausgebildet und arbeiten teils auf Stundenbasis und sind auf ihre Arbeit dringend angewiesen. Altenpfleger ist ein Einstiegsjob und somit einer der ersten Jobs, den man in Schweden als Migrant ausüben darf. So blieb es nicht aus, dass einige zu Beginn der Krise krank zur Arbeit kamen. Hinzu kommt, dass Pflegekräfte schon sehr früh darauf hingewiesen haben, dass sie mehr zusätzliche Ausrüstung wie Mund-Nasenschutze und Visiere für die Betreuung älterer Menschen – egal ob erkrankt oder symptomfrei – benötigen.
Bis jetzt wird darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist oder nicht, und zum Teil werden die Menschen immer noch ohne Mund-Nasenschutz behandelt, da laut Anweisung der schwedischen Gesundheitsbehörde die Pflegekräfte nur in bestimmten Situationen einen Schutz tragen müssen. Und das, obwohl man heute weiß, dass das Virus nicht über Besucher, sondern vor allem über die Pflegekräfte in die Alten- und Pflegehäuser eingeschleppt wurde, was wiederum zu den hohen Todesraten führte.
Mittlerweile räumen die schwedischen Behörden ein, dass sich das Virus, durch die vergleichsweise milden Beschränkungen wie freiwillige Abstands- und Hygienemaßnahmen und keine Schließungen von Schulen und Restaurants sowie keine Ausgangs-/Kontaktsperren und keine Maskenpflicht, viel stärker verbreiten konnte als in Deutschland. Diese Tatsache hat man in Schweden lange in Kauf genommen bzw. war sogar ein gewünschter Nebeneffekt, da man der Auffassung war, nur mit einer hohen Herdenimmunität gut durch die Krise zu kommen. Bis Ende April wurde noch von einem Erreichen der Herdenimmunität in Stockholm gesprochen. Aufgrund von Antikörpertests stellte sich dann heraus, dass aber nur bei 7,5 Prozent der Getesteten entsprechende Antikörper nachgewiesen werden konnten. Hier hatte man einen deutlich höheren Wert erwartet. Dabei hatte die schwedische Gesundheitsbehörde für Juni in Stockholm vorhergesagt, dass bis dahin mindestens 50 Prozent der Bevölkerung COVID-19 durchlaufen haben werden.
Das schwedische Gesundheitssystem ist anders geregelt als in Deutschland. Wenn Sie Schweden mit Deutschland vergleichen: Was macht Schweden in den Bereichen Pflege/Gesundheit/Finanzierung der Systeme grundsätzlich anders?
Christian Stichler: Das schwedische Gesundheitssystem ist für alle kostenlos und vollständig steuerfinanziert. Es gibt zwar auch eine private Zusatzversicherung, die den Zugang zu Privatärzten ermöglicht. Doch die gesamte Gesundheitsversorgung, sowohl in den weiten Regionen des Landes als auch in den Großstädten, wird über die staatlichen Gesundheitszentren und Großpraxen (ähnlich den früheren Polikliniken in der DDR) abgewickelt. Diese Zentren sind bei Krankheit oder Beschwerden die erste Anlaufstelle für alle, und sie sind im Gegensatz zu Deutschland fest in der Hand der Krankenschwestern und Pfleger. Die schwedische Gesundheitsversorgung basiert darauf, dass jeder Patient erst einmal von einer Schwester begutachtet wird. Sie entscheidet im Anschluss, ob die Konsultierung eines Arztes notwendig ist oder nicht.
Hier in Schweden haben Krankenschwestern und Pflegefachkräfte eine stärkere berufliche Ausbildung sowie eine höhere Qualifikation, und sie füllen dadurch auch eine verantwortungsvollere Rolle aus. Dies hat durchaus Vorteile, denn nicht jede Spritze, jeder Verband oder jede Behandlung muss von einem Arzt durchgeführt werden.
Was ist aus Ihrer Sicht eher nachteilig? Mit welchen gravierenden Auswirkungen rechnen Sie?
Christian Stichler: Insgesamt ist das Gesundheitssystem dergestalt organisiert, dass es den Bedarf gerade so deckt. Schweden hatte früher einmal hohe Überkapazitäten, diese wurden aufgrund geringerer Steuereinnahmen und konsequenter Sparkurse abgebaut. Mittlerweile ist die Gesundheitsversorgung gerade auf dem Land sehr stark ausgedünnt, sodass es vor allem in diesen Provinzen häufig zu sehr langen Wartezeiten kommt. Bei der letzten Wahl vor zwei Jahren war das Gesundheitssystem das beherrschende Thema in der Bevölkerung, und es gibt große Missstände im Land. Zudem wurde die Zahl der Intensivbetten sehr stark reduziert. Schweden liegt hier im internationalen Vergleich viel, viel weiter hinten als beispielsweise Deutschland. Dies betrifft auch die Altenpflege, die in Schweden eine besondere Rolle einnimmt und anders eingeordnet wird als bei uns. In Deutschland würde diese (Alten-)Pflege, in der schwerkranke und chronisch kranke Menschen versorgt werden, eher als ein Teilbereich im Krankenhaus rangieren. Gerade die Altenpflege ist ein sehr sensibler Bereich, der in den vergangenen Jahren ebenfalls einem harten Sparkurs und Personalkürzungen unterzogen wurde. Heute betreut ein Pfleger nicht mehr fünf oder sechs Patienten, sondern in aller Regel 15 oder sogar bis zu 25. Das sind alles Faktoren, die sich bei einer Infektionskrankheit wie Covid-19 negativ auswirken. Da verwunderte es nicht, dass Schweden bis weit in den April hinein auf Seiten der Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger mit einem sehr hohen Krankenstand und damit mit einer gravierenden Personalknappheit zu kämpfen hatte. Das hat sich mittlerweile klar gebessert, doch es bleibt eine Tatsache, dass in Bezug auf die flächendeckende Gesundheitsversorgung sowie die Ausstattung mit Krankenhaus- und Intensivbetten Schweden deutlich schlechter dasteht als Deutschland.
Es gab außerdem immer wieder Berichte von Ärzten, die Menschen über 80 Jahre nicht mehr auf der Intensivstation aufgenommen haben.
Zudem kamen Vorwürfe auf, dass vor allem das Karolinska-Krankenhaus in Stockholm eine Triage-Regelung eingeführt hat, die allerdings erst dann gelten und zur Anwendung kommen sollte, wenn sämtliche Kapazitäten im ganzen Land erschöpft sind.
Die Kapazitäten waren zwar Mitte März in Stockholm ausgeschöpft, aber nicht landesweit. Es hätte eigentlich zur Verlagerung von Patienten in andere Regionen kommen müssen. So entstand tatsächlich zeitweise die Situation, dass in Stockholm Menschen ab eines bestimmten Alters oder mit gewissen Vorerkrankungen „aussortiert“ wurden und nur die Patienten, die vorrausichtlich eine Covid-19-Erkrankung (gut) überstehen, einer Intensivbehandlung zugeführt wurden.
Erstaunlich aus unserer Sicht ist, dass die schwedischen Medien (auch groß) darüber berichten, die Fälle aber wenig skandalisiert werden und schnell wieder aus der Berichterstattung verschwinden.
Und was bewerten Sie als positiv? Was könnte man aus dem schwedischen System übernehmen oder adaptieren?
Christian Stichler: In Schweden ist der Weg zum Arzt lang und manchmal mühsam. Einen Termin erhält man nur nach Absprache und erster Bewertung der Situation über die nationale, zentrale Rufnummer 1177. Doch hat man bei einer entsprechend schweren Erkrankung oder eines sich nicht bessernden Krankheitsverlaufs einen Arzt erreicht, kann sich dieser Arzt entsprechend viel Zeit nehmen und sich seinem Patienten umfassend widmen. Das liegt daran, dass die Ärzte in den staatlichen Gesundheitszentren keinem wirtschaftlichen Druck ausgesetzt sind, ganz im Gegensatz zu deutschen Praxen, in denen man nicht selten schnellstmöglich abgehandelt wird.
Wie gesagt, ist aber der Weg zum schwedischen Arzt schwierig, und die Wartezeiten sind bei Routinekontrollen und kleineren, nicht dringenden Eingriffen sehr lang. Gerade ältere Menschen klagen darüber, und die Anfahrtswege ins nächste Gesundheitszentrum sind in den ländlichen Regionen zeitraubend.
Trotzdem berichten uns viele Ärzte, auch deutsche Ärzte, dass sich das System sehr intensiv um ihre Patienten kümmert. Und auch die Rollenverteilung zwischen Ärzten und Krankenschwestern und deren jeweilige Verantwortlichkeiten und Aufgabenbereiche fallen deutlich zugunsten der Patienten aus. Durch die größere Entscheidungs- und Handlungsgewalt der Krankenschwestern werden die Ärzte entlastet und können sich besser auf Spezialthemen und besonders schwere Fälle fokussieren. Insgesamt schätze ich die Personaldecke in den Einrichtungen aber als zu knapp ein.
Ein weiterer Punkt ist, dass in Schweden viel weniger Menschen und auch zeitlich verzögert vom Gesundheitssystem aufgenommen werden (müssen), da die Menschen generell seltener Ärzte aufsuchen und der Gang zum Arzt eher nach hinten geschoben wird. Dies wird vom System gefördert, das dazu anhält, erst dann erstmals oder in einem Folgetermin zum Arzt zu gehen, wenn sich ein Zustand nach einer gewissen Zeit nicht bessert oder verschlimmert. Die Genesung von zum Beispiel leichteren Infekten, Krankheiten oder ähnlichen Dingen findet so öfter auch erfolgreich außerhalb des Gesundheitssystems statt. Wie gesagt, gehen die Menschen hier grundsätzlich eher nicht bzw. später zum Arzt und greifen im ersten Schritt erstmal zum Telefonhörer.
Gerade asiatische Länder sind uns in der Digitalisierung und in der Anwendung digitaler Hilfsmittel eine ganze Ecke voraus. Wie weit ist Schweden in Sachen Digitalisierung in der Pflege?
Christian Stichler: Die Telemedizin mit Videosprechstunden usw. ist in Schweden schon seit Jahren vor allem durch den Anbieter Kry (der auch in Deutschland arbeitet) präsent, und sie hat mit der Corona-Krise eine noch größere Verbreitung erlangt.
Die Schweden sind der technikaffin und nutzen diese digitalen Hilfsmittel ganz selbstverständlich.
Ein weiterer Umstand, den ich, als jemand, der in Deutschland beheimatet ist, faszinierend finde, ist, dass in Schweden jeder Bürger seine eigene Personalnummer hat. Jeder Arzt, jedes Krankenhaus, jede Apotheke, jede Pflegeeinrichtung kann unter der jeweiligen Personalnummer des Patienten die komplette Krankenakte, die Historie der Arztbesuche, der diagnostizierten Krankheiten und der durchgeführten Behandlungen und Medikamentengaben sowie Rezeptierungen online einsehen. Was in Deutschland unter Datenschutzgesichtspunkten (noch) undenkbar ist, ist hier in Schweden bereits Routine, funktioniert reibungslos und macht Doppelerfassungen, Doppelbehandlungen, Arztbesuche, die nur der wiederholten Rezeptausschreibung dienen, obsolet. Eine datenschutzrechtliche Diskussion findet nicht statt.
Schweden liegt in der Digitalisierung des Gesundheits- und Pflegebereichs im Vergleich zu Deutschland ganz klar vorn.
Vielen Dank für das angenehme Gespräch!
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