Herr Jakob Biesterfeldt ist CCO bei der navel robotics GmbH in München. Frau Dr. Judith Schoch ist mit der Referatsleitung Institut Pflege und Alter bei der Evangelischen Heimstiftung betraut.

Wie kam es zur Zusammenarbeit? Und warum wurde die Evangelische Heimstiftung ausgewählt?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Die Evangelische Heimstiftung (EHS) ist das größte diakonische Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg. Wir hatten über Veranstaltungen der Diakonie schon früh Kontakt zu Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider, der sich für Innovationen in der Pflege stark macht und Navel den Weg zu den ersten Pflegeheimen der EHS geebnet hat.

Die EHS betreibt ein Institut Pflege und Alter, das sich unter anderem mit wissenschaftlichen Fragestellungen rund um die Themen Innovation und Digitalisierung in der Pflege befasst.

Das Institut Pflege und Alter begleitet die ersten Monate der Zusammenarbeit evaluierend und koordinierend. 

Was macht Navel besonders? Wie unterscheidet er sich von anderen Robotern, die heute schon in Pflegeeinrichtungen eingesetzt werden?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Navel ist einzigartig, weil er sich auf soziale Interaktionen fokussiert. Navel kommuniziert verbal und nonverbal mit expressiver Sprache und Mimik.

Eine Konversation mit Navel ist ähnlich einer Konversation mit einem Menschen.

Navel hat darüber hinaus besondere Roboterfähigkeiten. Er weiß sehr viel, auch über fachliche Spezialgebiete (zum Beispiel hat er sich mit einem Pflegeheimbewohner mal intensiv über Automodelle aus den 1970er-Jahren ausgetauscht), er wird nie müde oder ungeduldig, und er spricht fast alle Sprachen. 

Navel ist besonders ansprechend gestaltet, und seine Mimik und Kopfbewegungen sind sehr menschenähnlich. Hier stecken fast fünf Jahre Forschung und Entwicklung drin. Die Augen mit 3D-Augäpfeln können einen Blickkontakt herstellen, der „echt“ wirkt. Die Augen- und Kopfbewegungen wirken natürlich. Er ist eindeutig eine Maschine beziehungsweise ein Roboter, aber er interagiert so, dass Menschen mit ihm einfach kommunizieren können. 

Ein ganz wesentlicher Vorteil von Navel ist die hohe Rechenleistung mit einem sehr starken und schnellen Prozessor. Dank dieser technischen Stärke kann Navel besonders viele soziale Signale wahrnehmen (Mimik, Emotionen, Sprache), diese sehr schnell verarbeiten beziehungsweise „verstehen“ und in sinnvolle Antworten umwandeln, die dem sozialen Kontext entsprechen. 

Andere Roboter, die in der Pflege eingesetzt werden, sind eher auf physische Unterstützung fokussiert, vor allem Transport und Anreichung von Dingen.

Wie interagiert Navel mit den Bewohnern/Pflegebedürftigen?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch:

Navel interagiert autonom. Navel bewegt sich in den öffentlichen Bereichen eines Pflegeheims und spricht die Bewohnerinnen und Bewohner an. Navel unterhält sich, stellt Fragen, informiert über das Mittagessen oder Veranstaltungen und erzählt auch mal einen Witz.

Die Interaktion ist so programmiert, dass sie die Bewohnerinnen und Bewohner aktiviert, das heißt zum Reden und zum Lachen bringt. Auf diese Weise kann Navel eine emotionale Beziehung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern herstellen und die Kommunikation fördern. Bei Menschen mit demenziellen Veränderungen könnte er dazu beitragen, Apathie oder Unruhe zu reduzieren, indem er sich ihnen intensiv zuwendet. Auch bei einer Demenzerkrankung bleibt die Fähigkeit Gesichtsausdrücke zu deuten noch lange erhalten. Daher spielt hier auch die nonverbale Kommunikation eine große Rolle. Da ist die ausprägte Mimik von Navel eine große Stärke. 

Wie nehmen die Bewohner/Pflegebedürftigen den Roboter an?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Unsere ersten Erfahrungen in der Piloteinrichtung in Albershausen sind sehr positiv. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind offen und neugierig und haben Spaß daran, sich mit Navel beziehungsweise Oskar (so wurde er dort getauft) zu unterhalten.

Das klappt auch ohne Vorwissen oder technische Kompetenz sehr gut. Man unterhält sich einfach wie mit einem Menschen. Die Bewohnerinnen und Bewohner freuen sich über den neuen „Mitbewohner“, es wird spürbar lebhafter in den Wohnbereichen.

Es kommt aber auch mal vor, dass der Roboter etwas oder jemanden nicht richtig versteht, das ist wie bei Menschen auch. 

Und wie kann Navel die Bewohnerinnen und Bewohner ganz konkret unterstützen?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Navel aktiviert, unterhält, informiert und erinnert. Navel aktiviert kognitiv, trainiert das Gedächtnis, bringt neue Themen ins Gespräch. Navel informiert über Veranstaltungen oder Essenspläne. Navel könnte dazu beitragen, dass sich Menschen weniger einsam fühlen. Navel erinnert ans Trinken. Navel leitet zu Bewegungs- oder Achtsamkeitsübungen an. Navel erinnert sich an bedeutsame Lebensthemen, biografische Ereignisse, Hobbies und Interessen. Navel macht Komplimente.

Zukünftig sind viele weitere unterstützende Funktionen geplant, zum Beispiel Sturzerkennung, therapeutische Unterstützung/Übungen, Monitoring des Gesundheitszustands, Integration mit Medizintechnik.

Wie kann Navel für eine Entlastung des Pflegepersonals sorgen?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Navel soll keine Pflege- oder Betreuungskräfte ersetzen. Er kann sie aber unterstützen und entlasten, indem er zusätzliche Anregung und Unterhaltung bietet.

Er ist sozusagen eine Ergänzung zum menschlichen Kontakt.

So kann er beispielsweise in der Einzelbetreuung eingesetzt werden oder Bewohnerinnen und Bewohner gezielt aktivieren, die apathisch oder unruhig sind, oder eine Hinlauftendenz zeigen. Er könnte auch die Rolle eines sozialen Vermittlers einnehmen und auf diese Weise die sozialen Beziehungen der Bewohnerinnen und Bewohner untereinander fördern. Wenn es gelingt, durch Navel eine positive Atmosphäre auf den Wohnbereichen zu erzeugen, könnte sich das wiederum positiv auf das Arbeitsklima und die Stimmung der Mitarbeitenden auswirken.

Zukünftig soll Navel auch bei der Erstellung der Pflegedokumentation unterstützen, bei therapeutischen Übungen, beim Monitoring von Daten zum Wohlbefinden und zur Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner. 

Navel ist ein sozialer Roboter, nutzt künstliche Intelligenz und verarbeitet dabei eine sehr große Menge (auch an privaten) Daten. Wie wird der Datenschutz gewährleistet?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Ein sehr wichtiges Thema, das navel robotics sehr ernst nimmt. Wir arbeiten daran, dass alle Daten auf dem Roboter selbst verarbeitet werden, ohne Cloud und Internetverbindung. Für alle Bild-/Kameradaten ist das bereits möglich, aber noch nicht für die Sprachverarbeitung, hier arbeiten wir aktuell noch mit Cloud-Dienstleistern, mit denen wir wiederum Datenschutz-Grundverordnung-(DSGVO)-konforme Vereinbarungen haben. So werden unter anderem die Sprachdaten nicht zum weiteren Training der genutzten Sprachmodelle verwendet.

Wir arbeiten eng mit den Datenschutzbeauftragten der Pflegeträger und Pflegeheime zusammen, um auch über die gesetzlichen Anforderungen hinaus den Datenschutz zu gewährleisten. 

Auch die EHS hat sich vor dem Einsatz von Navel intensiv mit datenschutzrechtlichen Fragen auseinandergesetzt. So wurde beispielsweise mit Unterstützung von externen Datenschutzbeauftragten der Curacon GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft eine Datenschutzfolgeabschätzung durchgeführt. Für die Bewohnerinnen und Bewohner, Angehörigen und Mitarbeitenden wurden entsprechende Informationen bezüglich der Nutzung und Verarbeitung von Daten bereitgestellt. Bei Teamsitzungen und Angehörigenabenden konnten Fragen geklärt und Bedenken ausgeräumt werden.

Und welche ethischen Herausforderungen/Fragestellungen müssen beim Einsatz digitaler Technik berücksichtigt werden?

Jakob Biesterfeldt und Dr. Judith Schoch: Der Einsatz von Robotik in der Pflege ist an den Zielen guter Pflege und Betreuung auszurichten. Pflege ist im Wesentlichen ein zwischenmenschliches Interaktionsgeschehen, das durch Technik nicht substituiert werden kann. Empfehlungen zum Einsatz von Robotik gibt beispielweise der Deutsche Ethikrat in einer entsprechenden Stellungnahme. Dementsprechend sollte darauf geachtet werden, dass der Einsatz von Robotik soziale Kontakte nicht vermindert und Erfahrungen von menschlicher Zuwendung und Empathie nicht beeinträchtigt werden. Die Perspektive der auf Pflege oder Unterstützung angewiesenen Menschen wie auch der Mitarbeitenden sollte in der Entwicklung von robotischen Systemen berücksichtigt werden. Aus diesem Grunde empfiehlt sich schon in der Entwicklungsphase ein partizipatives Vorgehen, wie wir das auch in unserem Projekt umsetzen.

Unser Selbstverständnis und auch das der EHS ist, dass Roboter keine Menschen ersetzen dürfen und sollen.

Obwohl Navel beim Umgang mit dem Fachkräftemangel unterstützt, ist Navel keine Alternative zum Pflegepersonal. Navel soll ergänzen, unterstützen und Arbeits- und Lebensbedingungen attraktiver machen. 

Die Evangelische Heimstiftung öffnet sich bewusst den neuen Möglichkeiten digitaler Technik. Dabei soll der technische Fortschritt stets den Menschen dienen. Vor diesem Hintergrund wurden zehn ethische Leitlinien zur Digitalisierung entwickelt. Sie geben Orientierung, helfen, technische Lösungen besser umzusetzen und dabei auch ethisch zu reflektieren. Die EHS als werteorientiertes Unternehmen sieht die Auseinandersetzung mit dem Einsatz eines sozialen Roboters als Auftrag, auch damit verbundene ethische Fragen zu beleuchten und frühzeitig Antworten darauf zu geben. Die begleitende Studie wurde von einer Ethikkommission geprüft, zudem finden regelmäßige Reflexionen beispielsweise in Form von Ethikworkshops mit Mitarbeitenden oder im Rahmen eines Projektbeirats statt.

Datenschutz ist extrem wichtig. Der Roboter und die Systeme, mit denen der Roboter interagiert, müssen mit sensiblen persönlichen Daten sicher und vertrauensvoll umgehen.

Das Vertrauen eines Menschen in das technische System eines Roboters muss berechtigt sein.

Das „Vortäuschen“ menschlicher Emotionen und Empathie wird von Ethikern debattiert. Hierzu gibt es keine abschließende Erkenntnis. Grundsätzlich ist immer der subjektive Nutzen für den auf Pflege oder Unterstützung angewiesenen Menschen sowie die individuelle Akzeptanz in den Blick zu nehmen.

Das Wohlbefinden des Menschen und seine Lebensqualität muss im Mittelpunkt stehen. Es muss immer transparent sein, dass der Roboter eine Maschine ist und kein Mensch. 

Wir danken Ihnen für Ihre Antworten!

Info zur Evangelischen Heimstiftung:

Die Evangelische Heimstiftung ist das größte diakonische Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg. Gemeinsam mit 10.100 Mitarbeitenden und 790 Auszubildenden betreut die EHS 14.190 Menschen in 171 Einrichtungen in Baden-Württemberg. Als Dienstleisterin betreibt sie 11 Residenzen, 91 Pflegeheime, 40 Mobile Dienste, 26 Tagespflegen, 61 Betreute Wohnanlagen, eine Einrichtung der Eingliederungshilfe, ein Bildungszentrum und eine Rehaklinik. Als Arbeitgeberin garantiert die EHS den bundesweit höchsten Personalschlüssel, eine faire Bezahlung nach Diakonietarif, berufliche Sicherheit und individuelle Perspektiven. Mit ihrer Tochterfirma ABG verfügt sie über einen bundesweiten Einkaufsverbund mit 6.500 Mitgliedern. Gegründet wurde die Evangelische Heimstiftung 1952 und ist Mitglied im Diakonischen Werk.

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