Prof. Dr. Ing. Christophe Kunze ist seit 2011 Professor für assistive Gesundheitstechnologien im Studiengang Angewandte Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Furtwangen. Zuvor war er als Sprecher des AAL Living Labs und Leiter des Forschungsbereichs Embedded Systems & Sensors Engineering am FZI Forschungszentrum Informatik in Karlsruhe tätig.
In Ihrem Buch „Neue Technologien in der Pflege“ behandeln Sie die Digitalisierung des Pflegesektors. Zudem wird es in Ihrem Vortrag auf den Veranstaltungen von „Zukunft Gutes Wohnen“ um digitale Technologien in der Pflege und deren Implementierung gehen. Zuallererst: Was sind heute – aus Ihrer Sicht – die größten Probleme in der pflegerischen Versorgung?
Prof. Christophe Kunze: Wo soll man da anfangen? Die Herausforderungen sind vielfältig. Aber ein Kernproblem ist sicher das Thema Personalmangel. Dieser erschwert gute Pflege und sorgt gleichzeitig dafür, dass die Belastungen der Pflegenden steigen und die Attraktivität des Pflegeberufs leidet. Die Mangelverwaltung macht es auch schwer, sich für die Zukunft aufzustellen. Gerade am Umgang mit dem digitalen Wandel wird das deutlich:
Strategische Planung, Veränderungsmanagement und die Implementierung neuer Systeme oder Prozesse brauchen Ressourcen, die in der Pflege oft nicht verfügbar sind.
Und dann ist da noch eine sehr umfassende und starre Regulierung, die es schwer macht, Pflege neu zu denken. Hier wären mehr Flexibilität und Gestaltungsspielräume für die Pflegedienstleister wünschenswert.
Wie haben die Technologien und Tools die pflegerischen Berufe bereits verändert und können neue Pflegetechnologien die Probleme in der pflegerischen Versorgung lösen?
Prof. Christophe Kunze: Technik pflegt nicht – das muss einem klar sein. Insofern kann Technik allein auch keine Probleme in der pflegerischen Versorgung lösen. Aber sie kann die Pflegenden in ihrer Arbeit unterstützen und sie entlasten. Und sie kann Menschen mit Pflegebedarf dabei helfen, Selbständigkeit und Teilhabe zu erhalten.
Wir müssen Technik als Werkzeug begreifen, nicht als Ersatz für menschliche Pflege und Zuwendung.
Die Möglichkeiten sind vielfältig: Digitale Vermittlungsportale, häusliche Monitoringsysteme, App-gestütze Sturzrisikoassessments, bettintegrierte Sensorik zur Dekubitusprävention, elektrische Umlagerungshilfen, automatische Sprachübersetzungssysteme, interaktive digitale Medien in der Betreuung von Menschen mit Demenz – für fast alle pflegerischen Kontexte stehen heute digitale Werkzeuge zur Verfügung. Und auch deren Nutzung in der Praxis nimmt inzwischen deutlich zu.
Denken wir zum Beispiel an die Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotik, Virtual Reality, Deep Learning, Smart Homes usw. Auf welche Technologien und Tools wird man zukünftig in der Pflege nicht mehr verzichten können?
Prof. Christophe Kunze: Man sollte zumindest auf keine davon von vorneherein verzichten! Warum sollte auch ausgerechnet die Pflege als ein Feld mit großer gesellschaftlicher Bedeutung nicht von Mehrwerten digitaler Technologien profitieren? Für alle diese Technologien sind sinnvolle Anwendungen in der Pflege denkbar.
Allerdings klafft zwischen den Erwartungen an bestimmte Technologien und deren tatsächlichen Möglichkeiten im komplexen Anwendungsfeld Pflege häufig eine riesige Lücke.
Ein gutes Beispiel ist der Hype um sogenannte „Pflegeroboter“. In vielen medialen Beiträgen der letzten zwei Jahre konnte man den Eindruck gewinnen, Robotersysteme wie Pepper könnten im Alltag pflegerische Aufgaben in großem Umfang übernehmen – mit der Realität hat das wenig zu tun. Häufig führen solche verzerrenden Darstellungen dazu, dass tatsächliche Potenziale einfacher digitaler Technologien aus dem Blick verloren werden – z. B. in der digitalen Kommunikation mit Angehörigen und anderen Leistungserbringern. Umso wichtiger ist es, dass Pflegende sich aktiv mit Möglichkeiten und Grenzen neuer Technologien auseinandersetzen.
Welchen Einfluss hat die Coronapandemie auf neue Technologien in der Pflege bzw. hat die Coronapandemie hier konkrete Schwachstellen offengelegt? Welche sind das?
Prof. Christophe Kunze: In der Tat hat die COVID-19 Pandemie Versäumnisse der letzten Jahre gnadenlos offengelegt. Wenn es im Pflegeheim kein WLAN gibt, können Bewohner bei Kontaktbeschränkungen auch nicht ohne weiteres mit Angehörigen z. B. per Video digital kommunizieren.
Und wenn der Träger weder über eine IT-Strategie noch ein entsprechend aufgestelltes IT-Management und kompetentes Personal verfügt, kann er auch nicht auf die Schnelle auf Veränderungen reagieren.
Anderseits hat die Krise in vielen Einrichtungen eine enorme Dynamik und Dinge möglich gemacht, die vorher lange undenkbar waren. Das hat viele Einrichtungen vorangebracht.
Welche Vorteile sehen Sie in der Digitalisierung der Pflege?
Prof. Christophe Kunze: Digitalisierung ist schlicht ein gesellschaftlicher Veränderungsprozess, der auch vor der Pflege nicht halt macht. Im Vordergrund steht sicher häufig die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen wie Abrechnung und Dokumentation.
Wichtig ist, dass Digitalisierung dort nicht aufhört, sondern auch die Art und Weise, wie pflegerische Dienstleistungen erbracht werden mit in den Blick genommen wird.
Große Potenziale sehe ich in der digitalen Kommunikation mit Klienten, Angehörigen, Ehrenamtlichen und anderen Leistungserbringern. Diese kann dazu beitragen, die Organisation komplexer Versorgungsarrangements erheblich zu unterstützen – etwa für weit entfernt lebende Angehörige. Gleiches gilt für digitale Beratung, Versorgungssteuerung, Telesupport und digitale Schulungsangebote für Angehörige.
Wo fehlen noch Kenntnisse und wo liegen für Sie Grenzen und Barrieren, die noch zu überwinden sind, um digitale Technologien erfolgreich und nachhaltig in der Pflege zu implementieren?
Prof. Christophe Kunze: Pflegerische Versorgung ist ein sehr komplexes Anwendungsfeld. Häufig wird bei der Gestaltung von Technik aber von stark vereinfachten Anwendungsszenarien ausgegangen, die der Komplexität der Anwendungskontexte nicht gerecht werden. Die Implementierung neuer Technologien geht in der Regel auch mit Veränderungen in Versorgungsprozessen einher, die geplant und vorbereitet werden müssen.
Pflegende müssen entscheiden können, für welche Zielgruppen und unter welchen Bedingungen eine technische Lösung geeignet ist. Rechtliche Fragen müssen geklärt werden, Mitarbeitende und ggf. Klienten geschult werden, Supportstrukturen aufgebaut werden usw.
Auch die regulatorischen Rahmenbedingungen wie z.B. Vergütungssysteme müssen mit dem digitalen Wandel Schritt halten. In der Regel gilt daher: Je höher die Komplexität einer technikbasierten Veränderung, desto unwahrscheinlicher ist ihre erfolgreiche Verbreitung und nachhaltige Etablierung im Gesundheitswesen. Wichtig ist daher, digitale Veränderungen sorgfältig und langfristig zu planen. Dazu gehören zunächst einmal eine entsprechende Haltung auf Führungsebene, die Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie und entsprechender organisatorischer Strukturen.
Wie führt man sowohl Pflegepersonal als auch (ältere) Pflegebedürftige, die neuer Technik oft eher skeptisch gegenüber stehen, an neue Technologien heran?
Prof. Christophe Kunze: Es ist ein Mythos, dass Pflegende und Menschen mit Pflegebedarf digitalen Technologien grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Sicher ist die Bandbreite an Haltungen und Einstellungen sehr groß, aber sehr viele Pflegende sind durchaus offen für Technik, sofern dabei die Qualität der Versorgung und die Qualität der Pflegearbeit im Vordergrund stehen. Anders sieht es aus, wenn primär ökonomische Ziele im Vordergrund stehen. Viele Pflegende haben die Erfahrung gemacht, dass Technik, „die Zeit spart“, eher zu einer Verdichtung der Arbeit führt. Das ist nicht besonders attraktiv.
Angesichts des großen Wettbewerbs um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in Zukunft technische Lösungen an Bedeutung gewinnen, die auch die Arbeitszufriedenheit und die Belastungen von Pflegenden zum Ziel haben.
Wie bewerten Sie das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege, das Mitte des Jahres in Kraft treten soll und welche Vorteile sehen Sie?
Prof. Christophe Kunze: Grundsätzlich sehe ich es sehr positiv, dass mit dem DVMPG bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens nun auch die Belange der Pflege stärker in den Blick genommen werden. Die Anbindung von Pflegediensten und anderen Leistungserbringen an die IT ist wichtig, um eine effiziente interprofessionelle Versorgung zu unterstützen.
Eine riesige Chance ist meiner Ansicht nach die Schaffung von Digitalen Pflegeanwendungen (DIPAs) als neue Leistungsform, bei der neben der digitalen Anwendung selbst auch damit zusammenhängende Versorgungsleistungen vergütet werden können.
Gerade die Verknüpfung von Apps mit professionellen Unterstützungsleistungen ermöglicht vielfältige neue Konzepte zur Stabilisierung häuslicher Versorgungsarrangements, insbesondere im ländlichen Raum. Auch die digitale Ergänzung der Pflegeberatung macht Sinn. Wichtig wird dann, all diese neuen Angebote auch wissenschaftliche zu evaluieren, um sicher zu stellen, dass die so finanzierten Leistungen auch einen Mehrwert bringen.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.