Die Konkret Consult Ruhr GmbH (KCR) im Wissenschaftspark Gelsenkirchen ist seit 1993 tätig. KCR verbindet Analyse, Beratung, Qualifizierung und Training für Dienstleistungsunternehmen, insbesondere aus dem Bereich der Sozialwirtschaft (stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen, Behinderteneinrichtungen, Beschäftigungsgesellschaften, Wohlfahrtsverbände, Krankenhäuser); www.kcr-net.de.
Wir sprachen mit Roland Weigel, Geschäftsführer von KCR, über das Thema Organisation, Prozesse und Führung im Pflegesektor.
Wie hat sich die Definition von guter Führung im Laufe der Zeit verändert?
Roland Weigel: Eine genaue Definition von guter Führung kann ich Ihnen nicht liefern. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es die in dieser Form überhaupt gibt. Ich begleite seit über 25 Jahren Führungskräfte im Benchmarking und in Vergleichsprozessen. Ich mache Workshops zum Wohnbereichsleiter-, PDL- und Geschäftsführer-Benchmarking, in denen wir unter dem Motto „Lernen von guten Ideen und Lösungen finden“ Führungskräfte zusammenbringen. Dabei stelle ich fest, dass wir in den vergangenen Jahren vor allem auf der mittleren Ebene einen deutlichen Professionalisierungsschub erlebt haben und noch erleben. Hin zu einer Mentalität des klaren Führenwollens und hin zur Bereitschaft, Führung professionell verstehen zu wollen. Denn zu einer guten Führung gehört erst einmal der Wunsch und der Wille, eine Führungskraft zu sein. Das Thema Führung und Leitung ist nicht unbedingt das (erste) Kernthema bei Pflegekräften. Pflegekräfte gehen nicht in die Pflege, um Führung und Leitungsverantwortung zu übernehmen (zumindest nicht zu Beginn). Doch das verändert sich gerade.
Welche Art von Führung ist heute modern/angemessen?
Roland Weigel: Die Führung in der Pflege ist so gut wie in anderen Unternehmensbereichen auch. Führung ist vielfältig. Und es bestätigt sich aus meiner Erfahrung heraus immer wieder die oft bemühte Binsenweisheit, dass jedes Unternehmen die Führung hat, die es verdient bzw. die es will oder braucht. Dabei haben sich unterschiedliche Führungskulturen etabliert. Wir arbeiten beispielsweise an neuen Organisationskonzepten, wie sich selbststeuernde, selbstverantwortliche, autarke Pflegeteams, wie es bei Buurtzorg experimentell in Deutschland und in der Fläche bereits in den Niederlanden praktiziert wird, wo wir eine ganz andere Form von Führung und Leitung und auch eine andere Form des Verständnisses von Führung und Leitung erleben. Die eigenständigen Teams aus mehreren Mitarbeitenden sind selbst organisierend ohne zusätzliche Hierarchieebenen tätig, es gibt lediglich ein übergeordnetes Backoffice/Management. Des Weiteren etablieren sich Organisationskonzepte wie das agile Management, das starre, klassische Strukturen aufbricht, um flexibler, schneller und proaktiv auf Veränderungen reagieren zu können.
Zudem rückt heute auch immer mehr die Diskussion über wertschätzende Führung und über gesunde Führung in den Fokus.
Entscheidend bei diesem Thema ist auch das Image von Pflegeberufen. Ein entsprechendes Image fängt immer bei der Führung an. Dabei geht es aber nicht nur um die Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern, sondern es geht generell um die Wertschätzung gegenüber der eigenen Arbeit und der eigenen Leistung. Das ist für mich ein ganz zentrales Element. Fakt ist: Wir können nicht darauf warten, von außen wertschätzender wahrgenommen zu werden, wir müssen erst einmal anfangen, intern wertschätzender wahrzunehmen. Wir müssen den Blick darauf richten, was Mitarbeiter gut machen. Denn der Großteil der geleisteten Arbeit ist eine gute Arbeit. Hier nehmen Führungskräfte eine Schlüsselrolle ein! Gute Arbeit muss wahrgenommen und vor allem konsequent nach innen sowie auch nach außen kommuniziert werden.
Fachkräftemangel, unzufriedene/erschöpfte Mitarbeiter, hohe Krankenstände, Leistungsdruck: Wie können es Unternehmen/Institutionen der Pflegebranche trotzdem schaffen, gute, motivierte, qualifizierte Mitarbeiter zu finden?
Roland Weigel: Erst einmal widerspreche ich dem vehement. Wir haben nicht durchgängig unzufriedene und erschöpfte Mitarbeiter. Das ist ein Bild, das vielerorts (leider) kultiviert wird. Wir können bei unseren Messungen beispielsweise pro Jahr aus den Rückmeldungen von etwa 4000 Mitarbeitern aus der Pflegebranche eine 80-prozentige Zufriedenheitsquote ermitteln, d. h. auf einer Skala von 1-5 haben 80 % die Werte 4 (trifft überwiegend zu) und 5 (trifft voll zu) angegeben. Davon kann die Deutsche Bahn nur träumen. Doch, und da stimme ich Ihnen zu, wir haben durchaus ein herausforderndes Tätigkeitsfeld.
Interessant sind auch neue Erkenntnisse hinsichtlich der Fluktuation. Die Fluktuation in der Pflege ist z. B. nicht größer als anderswo auch. Dafür gibt es mittlerweile empirische Belege.
Doch speziell in der Pflege haben wir leider eine Kultur des Jammerns und des Klagens, und diese Kultur haben wir, weil die Pflege eine alimentierte Branche ist. Wir glauben immer noch, wer am lautesten jammert, bekommt die besten und meisten Alimente. Durch geeignete Initiativen versuchen wir, dies wieder ins rechte Licht zu rücken. Ich möchte damit nicht sagen, dass alles nur besser werden kann. Und ich möchte auch nichts beschönigen oder die Meinung einiger Politiker unterstützen, die behaupten, alles ist gut, und mit ein bisschen mehr Geld sind alle Probleme gelöst. Denn das sehe ich bei Weitem nicht so. Doch zuallererst müssen wir Folgendes betrachten: Wer soll denn als neuer Mitarbeiter in eine Branche gehen, die so schlecht von sich selbst denkt und so schlecht über sich selbst redet. Hier müssen wir einen Paradigmenwechsel herbeiführen. Das ist sicher kein einfaches Unterfangen. Doch wir müssen endlich beginnen, mehr darüber zu reden, was die Mitarbeiter stolz macht, in einer Pflegeeinrichtung zu arbeiten.
Zu den Krankenständen: Ja, wir haben hohe Krankenstände, was mit der hohen psychischen und physischen Belastung zu tun hat. Aber auch hier wieder nicht durchgehend. Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass noch niemand die Lösung dafür gefunden hat, von den hohen Krankenständen – wo sie bestehen – herunterzukommen. Es gibt einige vernünftige und gute Ansätze, wie z. B. in den skandinavischen Ländern, wie man den Mitarbeitern bei der Verrichtung von schweren körperlichen Arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme greifen kann. Ich glaube, das können wir noch viel besser machen. Und es gibt viele Unternehmen, mit denen wir zu tun haben, die das erkannt haben und sich mit unterschiedlichen Initiativen für eine Verbesserung einsetzen.
Es stimmt, auch der Leistungsdruck ist hoch. Das messen wir jährlich bei den Mitarbeiterbefragungen.
Die Menschen haben das Gefühl, ihre Arbeit nicht sorgfältig genug ausführen zu können. Trotzdem gibt es eine hohe Akzeptanz bei den Themen Arbeitstempo und Arbeitszeiten.
Das ist kein Widerspruch in sich, sondern es zeigt, wie in anderen Branchen auch, dass durch immer mehr Technik und durch den allgegenwärtigen Kostendruck ein erhöhter Leistungsdruck entsteht. Vor allen Dingen in der ambulanten Pflege haben wir in den vergangenen Jahren einen gewaltigen Produktivitätsschub zu verzeichnen, der allerdings eindeutig zulasten der Beschäftigten gegangen ist. Gerade dieser Umstand muss gesund reflektiert werden, dass wieder mehr Zeit für den Kontakt zwischen Menschen generiert wird. Da kann sicher – in Zeiten der Digitalisierung – Technik helfen, doch sie muss gezielt und sinnvoll an den richtigen Stellen eingesetzt werden.
Wir brauchen zudem eine ganz andere Ansprache von jungen Menschen durch ein vernünftiges und gutes Bewerbermanagement.
Wie kommt man an die jungen Menschen heran? Wie sollte sich ein Unternehmen an Schulen oder bei anderen Auftritten in der Öffentlichkeit aufstellen? Wir arbeiten mit unseren Kunden mit dem Konzept der Markenbotschafter. Diese Markenbotschafter berichten authentisch über ihre Erfahrungen mit dem Thema Pflege und Pflegearbeit und können auch mit allerlei Klischees aufräumen, z. B. mit der schlechten Bezahlung. Ein Auszubildender erhält nach einem ordentlichen Tarif 1380 Euro im dritten Lehrjahr. Wir haben in der Branche (nach einem dreijährigen Ausbildungsberuf) Startgehälter von 2800 Euro. Objektiv betrachtet ist das erstmal nicht wenig. Und sicher kann man darüber diskutieren, ob das nicht noch besser bezahlt werden muss. Doch es sind keine Hungerlöhne oder schlechte Bezahlungen, wie es pauschal in den Medien dargestellt wird. Es ist an der Zeit, auch hierauf eine andere Sichtweise zu entwickeln. Es geht nicht darum, irgendetwas zu klein zu reden, sondern es geht darum, den Blick der (jungen) Menschen darauf zu verändern. Des Weiteren arbeiten wir verstärkt mit Programmen wie z. B. Firstbird, einer digitalen Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Internetplattform und mobilen App mit Gaming- und Challenge-Aspekten. Mitarbeiter werden zu aktiven Markenbotschaftern ihres Unternehmens und bauen über ihr Empfehlungsnetzwerk quasi einen Recruitingkanal auf, teilen Jobs in sozialen Medien und verändern so die Wahrnehmung und das Image eines Unternehmens Unterstützt wird dies durch unsere jährlichen Befragungen, die zeigen, dass über 80 % der Befragten ihr Pflegeunternehmen weiterempfehlen würden. Da liegt noch ein riesiges Potenzial brach, Mitarbeiter einzusetzen und gutes, qualifiziertes (Fach-)Personal zu finden!
Und wir benötigen eine ganz andere Form der Lobbyarbeit. Wir benötigen keine Lobbyisten (und das sind leider oft Lobbyisten aus Trägerverbänden und Verbünden), die sich als Verkünder der Apokalypse darstellen.
Wir benötigen Lobbyisten, die sich der Balance stellen, zwischen Forderung an Rahmenbedingungen und Kommunikation gegen die Klischees. Dafür gibt es bereits funktionierende Beispiele wie die unabhängigen, träger- und verbandsübergreifenden Arbeitgeberinitiativen „Ruhrgebietskonferenz Pflege – die Einflussnehmer“ oder „Starke Pflege in Münster – die Pflegemodellregion“.
Doch den Fachkräftemangel können wir trotz allem nicht wegdiskutieren.
Roland Weigel: Hierzu kann ich sagen, dass es regional sehr unterschiedlich ist. Und zumindest bei den Einrichtungen, die einen sehr großen Fachkräftemangel verzeichnen, ist er (und ich möchte den Fachkräftemangel gar nicht wegdiskutieren) zum Teil auch hausgemacht. Dabei denke ich beispielsweise an die immer noch anzutreffende Praxis, Arbeitsverträge zu befristen. Auch die Führungskultur in einem Unternehmen ist „hausgemacht“. Hinsichtlich der Mitarbeitergewinnung und -bindung gilt der alte Grundsatz: Die Führung macht den Unterschied.
Wie sollte ein Unternehmen heutzutage (organisatorisch & personell) idealerweise aufgestellt sein, um seine Mitarbeiter langfristig zu binden? Welche Maßnahmen und welches Arbeitsumfeld fördern die langfristige Bindung?
Roland Weigel: Wir wissen, dass kleinräumige Versorgung ein wichtiges Strukturmerkmal und in der Regel besser für Kunden sowie für Mitarbeiter ist. Damit meine ich kleinräumige Versorgung in kleinen Teams, in „überschaubaren“ Betreuungs- oder Pflegesettings. So messen wir zum Beispiel bei kleineren Wohngemeinschaften bis 12 Personen für Menschen mit erhöhtem Betreuungsbedarf im Vergleich zu größeren Einheiten bzw. größeren stationären Einrichtungen eine höhere Zufriedenheit der Beschäftigten und auch der Angehörigen. Quartiersnahe und wohnortnahe Versorgungskonzepte zählen ebenfalls dazu. Denn hier können die Beschäftigten zu Kunden und Nutzern eine andere Beziehung aufbauen, als wir sie in größeren Settings haben.
Es ist nicht ganz einfach zu realisieren, doch Unternehmen müssen sich heute viel, viel bunter und facettenreichen aufstellen. Wir diskutieren z. B. zurzeit an vielen Stellen unterschiedliche Arbeitszeitmodelle und (vermeintlich) familienfreundlichere Arbeitsbedingungen. Unglücklicherweise findet hier nämlich oft eine Befeuerung von außen statt, dass die Pflegebranche nicht familienfreundlich sei. Ich kenne bereits ein gutes Dutzend stationärer Einrichtungen und ambulanter Dienste, die etliche verschiedene Arbeitszeitmodelle bzw. flexible Arbeitsbeginne oder sogenannte Mütterschichten (Anrecht auf bestimmte Arbeitszeiten; das Pendant sind die Müttertouren im ambulanten Bereich) anbieten. Da passiert schon recht viel. Unternehmen experimentieren mit der 3- oder 4-Tage-Woche oder mit 24-Stunden-Einsätzen. Was ich damit ausdrücken möchte: Wir brauchen am Ende nicht das eine Modell, sondern – wie beim Thema Führung – das Modell, welches zum jeweiligen Unternehmen, zur jeweiligen Einrichtung und den Mitarbeitern passt. Dazu braucht es sicher Mut, doch genau das macht einen Arbeitgeber auch attraktiv. Und dazu ist es ebenfalls wichtig, der Pflegebranche noch mehr Raum zum Experimentieren zu geben und sie nicht permanent in ein Korsett aus Vorschriften und Regeln einzuzwängen.
Zum Schluss möchte ich nochmal betonen, es geht vor allen Dingen darum, die Wahrnehmung und das Image von innen zu leben und nach außen zu tragen, um mehr Wertschätzung und ein positiveres Bild in den Medien zu erzielen.
Und der Aufbau eines positiven Images fängt eben innen an. Es ist DIE Rolle, die das Unternehmen und somit die Führung erfüllen muss. Nehmen wir ein plakatives Beispiel: Ein Pflegeunternehmen erhält eine sehr gute MDK-Bewertung. Anstatt über das sehr gute Ergebnis zu reden und daraus ein Stärkenprofil zu entwickeln, wird nur über die Mängelliste gesprochen, die es abzuarbeiten gilt. Ich kenne nur wenige Unternehmen, die auch die Stärken herausstellen: Was zeichnet das Pflegeunternehmen aus, was bestätigen und empfehlen die Mitarbeiter tatsächlich aus tiefer Überzeugung in authentischen Rückmeldungen, was macht die Mitarbeiter stolz, in der Pflege zu arbeiten und warum sind sie stolz usw. Und sie sind stolz, man muss sie nur fragen und hören! Und so findet auch eine bessere Bindung statt.
Herzlichen Dank für das informative Gespräch.