Im Schlagschatten von Energiekrise und Inflation rollt eine Kostenlawine auf die Pflegeunternehmen und deren Kunden zu. „Wenn die Politik nicht endlich aufwacht, implodiert das gesamte Pflegesystem“, formuliert Ulrich Christofczik als Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege. Die Gründe für die jetzt absehbaren Kostensteigerungen sind vielfältig und nicht durch schnelle Adhoc-Maßnahmen zu kompensieren. „Politik hat in den letzten Wochen und Monaten Entscheidungen getroffen, ohne sich über die finanziellen Konsequenzen auch nur annähernd im Klaren zu sein. Die Zeche zahlen in naher Zukunft die Pflegebedürftigen und die sowieso schon stark belasteten Kommunen. Normalerweise heißt es: Wer bestellt, bezahlt. Zurzeit bestellt die Politik und lässt dann die bezahlen, die sowieso schon stark belastet sind. Wir brauchen ein Sondervermögen für die Pflege, um den Kollaps zu verhindern. Aus dem bisherigen System der Pflege- und Krankenversicherung ist das nicht zu stemmen“, spitzt Ulrich Christofczik in seiner Funktion als Vorstand des Christophoruswerkes und Geschäftsführer der evangelischen Altenhilfe in Duisburg zu. Schließlich sind schon heute fast zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner in seinen Einrichtungen Sozialhilfeempfänger. Und die Aussichten sind nicht rosig. Mit Blick in die Zukunft sagt Ulrich Christofczik: „Bei der jetzt absehbaren Entwicklung werden Ende nächsten Jahres 100% der Bewohnerinnen und Bewohner Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen müssen. Dabei geht auch nicht um eine Kostenübernahme in bisheriger Höhe. Die Kosten für Unterkunft, Versorgung und sonstige Sachmittel werden um mindestens 50 % steigen. Das wird die Kommunen in einem noch nie da gewesenen Maße belasten.“
Versorgungssicherheit gefährdet
„Pflege wird jetzt endgültig zum Armutsrisiko“, sagt Martin Behmenburg vom gleichnamigen Pflegedienst in Mülheim an der Ruhr. Der Pflegedienst verhandelt gerade mit den Kassen über eine deutliche Steigerung seiner Kostensätze. Der Grund dafür ist eine gesetzlich verordnete und gesellschaftlich gewollte Verbesserung der Bezahlung für die Beschäftigten in der Pflege. Für viele Anbieter greift ab dem 1. September eine Tarifpflicht und damit eine zu erwartende Verbesserung der Bezüge für die Beschäftigten um bis zu 30 %.
„Nach den Jubelrufen zur Tariftreue, die wahrscheinlich am 1. September von den beiden Ministern Lauterbach und Heil sowie anderen Politikern wiederholt werden, müssen die Pflegebedürftigen nun erkennen, dass sie die daraus entstehenden Mehrkosten 1:1 selbst bezahlen. Politik und Pflegekassen verschweigen diese Tatsachen und versuchen, durch die Blockade höherer Pflegesätze die Wirkungen zu verzögern bzw. abzuschwächen!“ Für die Arbeitgeber aus der Pflege gefährdet das die Versorgungssicherheit von Menschen mit Pflegebedarf massiv. Allein bei den Anbietern der zeitintensiven, nach Stundenleistungen abrechnenden ambulanten Dienstleistern, sind von diesen Entwicklungen bis zu 50.000 pflegebedürftige Menschen gefährdet. Auch der Fortbestand von ambulant betreuten Wohngemeinschaften hängt von zeitnah umzusetzenden Vergütungssteigerungen ab. Es bedarf einer schnellen Anpassung der Pflegesätze damit einerseits die höheren Löhne bezahlt werden können und anderseits die Versorgung sichergestellt werden kann. Martin Behmenburg kennt viele seiner Mitbewerber aus Mülheim und Umgebung persönlich. Er sagt: „Einige Kollegen haben geäußert, dass sie ans Aufgeben denken. Die haben schlicht die Nase voll von der fortwährenden Mangelverwaltung und den ständigen Hinhaltemanövern!“
Thomas Eisenreich, Home-Instead und Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege
4.000 Euro Eigenanteil erwartet
Doch die Tariftreue und ihre Folgen sind nur ein Teil des Problems. Aktuell erhalten die Unternehmen in der Pflege nahezu täglich Anrufe ihrer zahlreichen Zulieferer, um mit ihnen über Preissteigerungen zu verhandeln. Wäschereien, Caterer, Lebensmittellieferanten und selbst Sanitätsfachgeschäfte klagen über enorm gestiegene Kosten und kündigen die Einstellung der Lieferungen an, weil ihnen ohne Nachverhandlungen die Insolvenz droht. Hier schlägt die Inflation voll durch. Aber das ist alles nichts im Vergleich zu den Preissteigerungen, die Gas- und Energielieferanten jetzt aufrufen. „Unser Gaslieferant hat uns gerade eine Preiserhöhung von über 1000% angekündigt“, berichtet Ulrich Christofczik. Bislang hat das Christophoruswerk für seinen Einrichtungen auf dem Pflegecampus in Duisburg-Meiderich 340.000 Euro jährlich für Gas bezahlen müssen. Das aktuell günstigste Angebot für die gleiche Verbrauchsmenge liegt bei 3,8 Mio. Euro. Ulrich Christofczik rechnet das für die Bewohnerinnen und Bewohner zusammen: „Bislang musste jeder Bewohner und jede Bewohnerin bei uns maximal 180 Euro pro Monat für Gas und Strom bezahlen. Ab dem kommenden Jahr werden das 900 Euro sein. Die Preissteigerungen für Wäsche, Mahlzeitenversorgung und Verbrauchsmaterialien kommen noch oben drauf. Das kann niemand mehr bezahlen!“ Er nimmt gerade Verhandlungen mit der Pflegekasse über eine Erhöhung der Pflegesätze auf. Schon heute müssen in NRW die Bewohnerinnen und Bewohner mit einem durchschnittlichen Eigenanteil von monatlich 2.500 Euro rechnen. „Wir erwarten in Zukunft Eigenanteile von bis zu 4.000 Euro, wenn die Preisspirale sich so ungebremst weiterdreht“, malt Thomas Eisenreich ein düsteres Bild von der Zukunft.
Es geht um die Existenz
Die Pflegekassen versuchen gerade dieser Entwicklung entgegenzusteuern, in dem sie beispielsweise die bisher gültigen Verträge zur Versorgung mit Inkontinenzmaterial kündigen und die Träger zum Abschluss kostengünstigerer Verträge auffordern. In Pflegesatzverhandlungen werden Angebote unterbreitet, die die gerade laufende Kostenwelle fast vollständig ignorieren. „Uns wurden Erhöhungen in Aussicht gestellt, die bei weitem nicht ausreichen, um die aktuellen Preissteigerungen zu kompensieren. Für uns und andere Träger geht es in den Verhandlungen um die Existenz“, beschreibt Ulrich Christofczik die aktuelle Situation.
Leistungsverdichtung ist keine Lösung
Thomas Eisenreich ergänzt aus der ambulanten Pflege: „In den Augen vieler Pflegekassen bietet das „klassische“ Preismodell von Leistungs-Paket-Preisen die Möglichkeit, durch Leistungsverdichtung die Personalmehrkosten aufzufangen. Leistungsverdichtung bedeutet, dass eine Versorgung von beispielsweise 20 Minuten auf 15 Minuten (und ggf. sogar noch weniger) gekürzt wird. Die Pflegemitarbeitenden müssen daher schneller arbeiten, um die eigene Gehaltssteigerung „zu verdienen“. Die Regelungen des Tariftreuegesetzes wurden geschaffen, um durch eine massive Steigerung der Gehälter der Pflege-Mitarbeitenden den Beruf attraktiver zu machen. Wenn jedoch eine Leistungsverdichtung die Antwort auf mehr Gehalt ist, wird die Attraktivität abnehmen.
Systemfrage steht an
Für die Ruhrgebietskonferenz-Pflege stellt sich die Systemfrage. „Mit Krediten für die Kassen und homöopathischen Beitragserhöhungen ist es nicht getan. Um die außerordentlichen Belastungen durch die aktuelle Gas- und Energiekrise sowie die Entgeltsteigerungen abzufedern benötigen wir kurzfristig ein Sondervermögen für die Pflege und langfristig eine grundlegende Neuaufstellung der Finanzierung von Pflege- und Betreuungsleistungen, wie wir von der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und andere Interessenvertretungen sie schon lange fordern“, formuliert Ulrich Christofczik den zentralen Vorschlag der Ruhrgebietskonferenz-Pflege. „Ein ´weiter so´ darf es nicht geben. Die Zeche zahlen die Betroffenen und die Kommunen. Damit muss jetzt Schluss sein!“
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Online-Petition gestartet:
Mit der Online-Petition fordert die Ruhrgebietskonferenz Pflege die Bundesregierung auf, endlich auch in der Pflege den Mut für große Lösungen aufzubringen. Mit Krediten und homöopathischen Beitragserhöhungen ist es nicht getan. Deshalb ein “Sondervermögen für die Pflege!” – jetzt.
Damit die Petition ein Erfolg wird, braucht es SIE. Ihre Unterschrift (https://www.change.org/sondervermoegenfuerdiepflege) und die Weiterleitung in ihre Netzwerke und Social-Media-Kanäle würde helfen, der Forderung Nachdruck und öffentliche Aufmerksamkeit zu verleihen.