Stephanie Hollaus widmet sich als CARE Trendforscherin seit mehr als zehn Jahren der alternden Gesellschaft in Deutschland. Innerhalb von verschiedenen Forschungsfeldern eruiert sie Trends und geht Fragestellungen zu Produkten und Dienstleistungen im Ageing- und Pflegemarkt nach.

Wie hat sich die Definition von Alter und altern bzw. die Betrachtung und Wahrnehmung einer alternden Bevölkerung in den vergangenen Jahren verändert?

Stephanie Hollaus: Diese Frage wirft bei mir sofort die Gegenfrage auf. Meinen Sie die Selbst- oder Fremdwahrnehmung von Alter und altern? Denn in der Fremdwahrnehmung haben wir in Deutschland nach wie vor das Problem der Akzeptanz, des Respektes vor dem Alter etc. – nicht zu vergleichen mit anderen Kulturen, in denen man eher weise als alt ist. Sie müssen doch nur die Werbung als Maßstab heranziehen, die sich zumeist an junge und fidele Zielgruppen richtet und kaum die finanz- und konsumkräftigen Alten adressiert.

Unternehmen schließen in ihrer Betrachtungsweise diese Zielgruppe aus, was ich beinahe diskriminierend finde.

Ich weiß, wovon ich als CARE Markt- und Trendforscherin spreche. In nahezu allen Studien, die ich auftragsbezogen für Wirtschaftsunternehmen durchführte, endete die Alters-Range für die Teilnehmenden, welche in die Studie eingeschlossen werden dürfen, bei 65. Wieso, frage ich mich? Wir müssen umdenken. In der Tat waren die „alten Alten“ aus der typischen Kriegsgeneration bescheiden, haben sich kaum etwas gegönnt – weder Urlaub, Kleidung oder sonstigen Konsum – und waren somit komplett uninteressant im Targeting von Unternehmen. Anders dagegen die „neuen Alten“, welche das absolute Gegenteil darstellen. Ich möchte eine rhetorische Frage stellen:

Hören wir mit 65 etwa auf zu konsumieren?

Nein, selbst mit 80+ konsumieren die Menschen in allen Bereichen des Lebens, seien es nochmal größere Anschaffungen wie ein Auto oder liebgewonnene Güter des täglichen Bedarfs … Die „neuen Alten“ unterscheiden sich von der Lust am Konsum überhaupt nicht von allen anderen Altersgruppen.

Zurück zu Ihrer Ausgangsfrage: An der Wahrnehmung hat sich also leider noch nicht viel geändert, aber an der Tatsache schon, dass wir uns aktuell in einer Transformationsphase von alten zu neuen Alten befinden, die dringend ein gesamtgesellschaftliches, politisches und natürlich wirtschaftliches Umdenken nach sich ziehen muss.

Immer wieder taucht in der Gesellschaft und auch in der Industrie der Begriff Silver Ager auf, der fast schon inflationär verwendet wird. Was sagen Sie dazu?

Stephanie Hollaus: Die Silver Ager sind ja schon länger ein Begriff und werden von Unternehmen ausgeschlachtet. Ebenso das Buzz-Word Babyboomer, was man ja schon fast nicht mehr ertragen kann. Spontan assoziiert man damit genau diese digital-affinen, konsumfreudigen und finanzkräftigen Alten. Mir kommt bei den Begriffen immer spontan das typische von Werbungen genutzte Bild in den Sinn, das tanzende Alte barfuß im Sonnenuntergang vor einem Luxus-Liner zeigt. Aber diese Kategorisierung greift zu kurz, weshalb ich auch in meinem CARE-Trendreport 2022, welcher in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsinstitut Ipsos entstanden ist, die Zielgruppendefinition erweitert habe – hin zu den sogenannten White Ager.

Lassen Sie uns also bitte von Bedürfnissen und Ansprüchen der Silver Ager und White Ager sprechen, um diese Zielgruppe der „neuen Alten“ vollständig zu erfassen.

Sehr gern: Welche Bedürfnisse und Ansprüche stehen bei den „neuen Alten“ im Mittelpunkt?

Stephanie Hollaus: Die White Ager von morgen erfordern meines Erachtens das größte Umdenken, vor allem von Wirtschaftsunternehmen: das kann ein Automobilhersteller sein, aber auch ein Essenslieferant oder eine stationäre Pflegeeinrichtung. Für letztere spinne ich im Kopf meinen Lieblingsgedanken: Toast Hawaii im Speisesaal war gestern – morgen gibt es Sushi. Oder von „Hoch auf dem gelben Wagen“ zur Spotify-Playlist. Ich hatte eingangs ja bereits gesagt, dass wir uns in einer Transformationsphase zwischen „alten Alten und „neuen Alten“ bewegen. Als ich 2023 auf der Altenpflege-Messe in Nürnberg war, sah ich einen Unterhaltungsroboter, der das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ spielte – das war für mich der Inbegriff dieser Transformation. Man lässt beide Welten verschmelzen, um aktuell noch jedem gerecht zu werden.

Die Kriegsgeneration wird jedoch bald nicht mehr existieren, und dann sollte man absolut zielgerichtet auf die „neuen Alten“ reagieren. 

Das heißt, dass sich der Pflegemarkt und Anbieter von Produkten und Dienstleistungen auf die differenzierteren und individualisierten Zielgruppen einstellen müssen. Was sind hierbei die größten Trends im Transformationsprozess des Pflegemarktes?

Stephanie Hollaus: Ich beschäftige mich auch mit den Megatrends – das Zukunftsinstitut ist hier beispielsweise eine absolut wertvolle Quelle, wer genauer nachlesen will. Es geht um Gender Shift, Gesundheit, Globalisierung, Individualisierung, Konnektivität, Mobilität, Neo-Ökologie, New Work, Sicherheit, Urbanisierung, Wissenschaftsgesellschaft und eben auch um die Silver Society. Interessant ist hierbei für mich, ob und wie viele Aspekte aus diesen Megatrends bis in den eigentlichen Pflegemarkt herüberschwappen. In meinem CARE-Trendreport 2022[1] habe ich einen Ausblick auf die zehn wichtigsten Trends innerhalb des Pflegemarktes für die kommenden fünf bis zehn Jahre gegeben. Diese sind:

Trend 1: Ein Markt wird entdeckt

Trend 2: Neue Allianzen

Trend 3: Eldorado für Marketingprofis

Trend 4: Ein Markt wird smart

Trend 5: Topthema Prävention

Trend 6: Eine Zielgruppe individualisiert sich

Trend 7: Beratung ist gefragt

Trend 8: Zartes Pflänzchen Nachhaltigkeit

Trend 9: Fokus auf Mobilität

Trend 10: Arbeitgeberattraktivität entscheidet

Seit der Formulierung dieser Trends im Pflegemarktes schaue ich mir das Delta an: Was hat sich weiterentwickelt, wo sind wir stehengeblieben oder sogar wieder einen Schritt zurückgegangen (beispielsweise durch Krisen etc.)?

Welche Trends zeichnen sich im Alter beim Thema Wohnen ab? Welche Wohnformen und (innen)architektonischen Gestaltungsmerkmale sind hier besonders hervorzuheben?

Stephanie Hollaus: Wohnen im Alter hat ja zahlreiche Facetten: Je nach Alter stellt sich die Frage, ob ich noch autark in meinen eigenen vier Wänden lebe oder ab einem bestimmten Zeitpunkt Unterstützung benötige und beispielsweise in eine betreute Wohnform umziehe. Wie ich es bereits mehrfach herausgestellt habe, unterscheiden sich „neue Alte“ in keiner Weise von anderen Zielgruppen – und diese Ansprüche stellen sie auch an das Wohnen.

Praktisch war gestern, wohlfühlen ist heute und auch morgen, das heißt, wir sprechen nicht mehr von Räumen mit praktischer Ausstattung, sondern Lebenswelten mit ästhetischen Elementen in Wohlfühlambiente.

Wir erleben hier noch ein Cultural Gap zwischen den existierenden Angeboten von Pflegeanbietern und den Wünschen der „neuen Alten“. Es gibt bereits wunderbare Vorzeigeprojekte (Carestone-Wohnprojekte, „Die weiße Dame“ von Lively oder die Schönes Leben Gruppe etc.), aber diese befinden sich eindeutig in der Minderheit. Es bleibt also spannend zu sehen, in welchem Tempo die verkrusteten Wohn- und Pflegestrukturen aufbrechen und Anbieter nachziehen.

Während sich die „Welt da draußen“ schon mit Radical Materials aus Algen, Muscheln und Eierschalen beschäftigt, herrscht in der Pflege vermutlich noch das „Eiche-rustikal-Ambiente“. Wohntrends zeigen, dass sterile Badezimmer immer mehr in Richtung Spa-Räume mit Design- und Lifestyle-Objekten umgewandelt werden, in welchen die neuen Bedürfnisse neue Raumkonzepte mit dem Fokus auf Lebensqualität, Sinn und Nachhaltigkeit nach sich ziehen. 

Ob und was davon auch in Wohnprojekten der Pflege umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.

Selbstbestimmt zu leben heißt, dass ich vielleicht auch als White Ager gerne mein Hochbeet auf dem Stadtbalkon bepflanzen und von einem Lieferdienst meine Lieblingssushi geliefert bekommen möchte – egal, ob im Eigenheim oder in einem Mikroappartement der betreuten Wohnform. In letzterem zu leben, kann ich mir für mich im hohen Alter übrigens durchaus als attraktive Möglichkeit vorstellen.

Wie können sich Pflegeanbieter auf die Trends beim Wohnen und der Gestaltung einstellen? Wie sollten sie sich verändern und anpassen?

Stephanie Hollaus: Abgesehen von den Vorzeigewohnprojekten in der Pflege kann sich die breite Masse an stationären Einrichtungen ja zumindest kleine Schritte vornehmen:  weg vom kargen Holztisch und Holzkreuz mit armseligem Ficus hin zu einem Wohn- und Wohlfühlambiente – abgeschaut aus der Hotellerie, wo Übernachten auch nicht immer hochpreisig sein muss. Ich liebe es, wenn man Gebäude betritt und einem im Eingang durch dezente Raumbeduftung das Gefühl vermittelt wird, dass man sich hier gerne niederlassen möchte, statt fluchtartig das Gebäude verlassen zu wollen.

Da kann man in Pflegegebäuden sicherlich noch viel bewegen, und Anbieter können an vielen Stellschrauben drehen: Licht, Farben, Böden, Wände, Gerüche, Geräusche. Duft-, Licht- und Klangfunktionen werden immer wichtiger – Räume wollen erlebbar werden.

Was erwarten die Älteren heute an Funktionen und Dienstleistungen – sei es im eigenen Zuhause oder in einer Pflegeeinrichtung?

Stephanie Hollaus: Trotz der Transformationsphase mit „neuen Alten“ vor der Tür werden selbst jetzt noch neue Pflegeeinrichtungen ohne W-LAN gebaut. Wie kann das sein? Die Antwort ist meistens: Das brauchen wir nicht. Diese Aussage ist absurd.

Die „neuen Alten“ werden mit E-Book-Readern in stationäre Pflegeheime einziehen und über WLAN-Verfügbarkeit nicht im Geringsten nachdenken, sondern diese schlicht und ergreifend voraussetzen.

Nicht zu vergessen, dass Töchter und Söhne im Internet recherchieren und derartige Einrichtungen auch nach solchen Kriterien auswählen. Sie werden knallharte Anforderungen an eine Unterkunft stellen: Ladestationen, Touchpads, Sensoren, digitale Assistenten, funktional-ästhetische Einrichtung, Wellnessbereiche fürs Auge, Berücksichtigung von Trends und Gewohnheiten beim Essen – von vegan, über Flexitarier, Vegetarier, Laktose-frei bis hin zu Glutenfrei. Da müssen sich Anbieter in der Pflege radikal umstellen.

Herzlichen Dank!


[1] Der Trendreport kann auf dem LinkedIn-Profil von Stephanie Hollaus heruntergeladen werden: https://www.linkedin.com/in/stephanie-hollaus/. Und auch für weitere Fragen und Informationen steht Ihnen Frau Hollaus sehr gern zur Verfügung.

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