Passt der Begriff Triage für die Pflege? Ja, meint Tanja Segmüller, Professorin für Alterswissenschaft an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Und empfiehlt allen dringend, für den eigenen Pflegefall vorzusorgen.
Wo findet Triage heute vor allem statt?
Besonders in stationären Alteneinrichtungen, weil dort zu viele alte pflegebedürftige Menschen auf Hilfe und Pflege angewiesen sind und rund um die Uhr betreut werden müssen. Die Heime haben zu wenig Fachkräfte und auch zu wenig andere Arbeitskräfte. Deswegen müssen sie ihre freien Zimmer sehr dosiert anbieten. Ich bin zum Beispiel im Aufsichtsrat einer katholischen Stiftung in Essen, die auch Altenheime betreibt. Dort kommen teilweise auf einen Altenheimplatz zehn bis fünfzehn Bewerber und Bewerberinnen. In manchen Gebieten ist die Zahl der Bewerber pro Platz noch viel größer. Dann werden halt eher Pflegebedürftige genommen, die nicht so betreuungsintensiv sind, also die unteren Pflegegrade 2 oder 3.
Triage bedeutet Auswahl oder Sichtung. Manche sprechen von einem unglücklichen Wort.
Natürlich ist der Begriff etwas unglücklich, aber er trifft die Situation. Der Begriff kommt aus Kriegs- und Katastrophenszenarien, wenn das medizinische Personal schauen muss, wo es sinnvoll ist zu behandeln, wer die höchste Wahrscheinlichkeit zu überleben hat. In der Regel können wir in Deutschland keine sichere Pflege mehr anbieten. Wir sind am anderen Ende der Fahnenstange angekommen. Das konnte man kürzlich wieder in einem Altenheim in Berlin sehen, wo nachts niemand zur Arbeit erschienen ist und der Katastrophenschutz verständigt werden musste. Sie waren für mehrere Stunden auf die Betreuung durch die Feuerwehr angewiesen.
Was für Konsequenzen hat es, wenn man lange auf einen Platz warten muss?
Das hat viele Auswirkungen. Zum einen, dass zeigt die Pflegestatistik für NRW, werden inzwischen 85 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt. Vor zehn Jahren waren das noch zwischen 70 und 75 Prozent. Wenn die Angehörigen die Pflege aber nicht mehr leisten können, weil sie arbeiten müssen, kleine Kinder versorgen oder selber alt und krank sind, muss eine stationäre Einrichtung die Versorgung übernehmen. Wenn dort kein Platz frei ist, erleiden die Angehörigen vielleicht einen Zusammenbruch. Dann müssen beide, der pflegende Angehörige und der Pflegebedürftige, notfallmäßig in eine Klinik aufgenommen werden. Dann das andere Setting: Jemand wird pflegebedürftig, muss wegen einer akuten Erkrankung zunächst in ein Krankenhaus und soll nach der Entlassung in ein Altenheim umziehen. Dann staut sich alles. Denn die Betten, die eigentlich für Akutfälle benötigt werden, sind von den Pflegebedürftigen belegt.
Und es gibt immer weniger Krankenhäuser.
Ja, die sollen ja laut den Plänen von Herrn Lauterbach abgebaut werden. Außerdem können immer mehr stationäre Alteneinrichtungen wegen Inflation, steigenden Energie- und Lohnkosten nicht mehr überleben. Praktisch täglich gehen Einrichtungen insolvent. Ein weiteres Problem ist, dass viele Pflegebedürftige die Plätze im Heim nicht bezahlen können. Wenn sie aber keine Angehörigen mehr haben – heute hat jeder dritte über 60 keine Kinder – brauchen sie oft eine gesetzliche Betreuung. Nur wenige wollen aber diese Arbeit übernehmen. Weil bei den Vormundschafts- und Betreuungsgerichten ein Riesenrückstau herrscht, haben Einrichtungen hohe Außenstände. Bei kleineren Trägern kann das dazu führen, dass sie deswegen insolvent gehen, weil einfach die Kosten nicht bezahlt werden.
Was hat das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) gebracht, wonach Versicherte einen Anspruch auf eine bis zu zehntägige Übergangspflege im Krankenhaus haben?
Ach je, man muss wirklich sagen, dass im Gesundheitspflegebereich der Karren in den Dreck gefahren ist. Diese ganzen Reförmchen, das ganze Nachjustieren haben zu keiner Verbesserung geführt. Vor allem nicht für die Betroffenen. Ich habe mal mit Studierenden versucht, all die Namen wie Pflegeweiterentwicklungs- und Pflegestärkungsgesetz usw. auf einer Tafel abzubilden. Dafür reichte die riesige Tafel im Seminarraum nicht aus. Und alles wird immer teurerer. Vor kurzem schrieb mir eine Kollegin, deren Vater in einem Altenheim in Bochum lebt. Sie ist verzweifelt, weil der Vater rückwirkend ab Januar 500 Euro pro Monat bis zum Mai nachzahlen soll. 2500 Euro mal eben.
80 Prozent der Altenheimbewohner und -bewohnerinnen bekommen mittlerweile Hilfe zur Pflege.
In welchen Versorgungsbereichen ist die Lage noch schwierig?
Viele Pflegedienste gehen insolvent, weil die ambulanten Träger bekanntlich nur einzelne Leistungen refinanziert bekommen, wie zum Beispiel die große Körperpflege. Da ist alles so knapp bemessen und eng getaktet, dass viele Probleme haben zu überleben. Ich bin in Wuppertal ehrenamtlich im Vorstand eines Wohlfahrtverbandes. Einer der dazugehörigen Pflegedienste macht jedes Jahr Minus. Wenn man den Dienst nicht aus anderen Bereichen finanziell unterstützen kann, geht es nicht mehr. Für die Krankenhäuser zeigen alle Studien, dass es früher genug Pflegende auf den Stationen gab. Das gibt es inzwischen kaum noch. Alle meine Kollegen, die in den Stabsstellen solcher Häuser arbeiten, sind jeden Tag damit beschäftigt, Personal zu rekrutieren. Es gibt einfach keinen Bereich, wo es gut läuft. Ausgenommen vielleicht im Hospizbereich und in der Psychiatrie.
Haben Sie Vorschläge, die die Lage ein bisschen verbessern könnten?
Wir müssen uns an den Ländern orientieren, in denen die Versorgung gut klappt wie in Skandinavien. Dort gibt es eine andere Art von Finanzierung, zum Teil steuerfinanzierte Systeme. Ich glaube, wir bräuchten einen totalen Neustart. Aber bis das passiert…… wir haben hier ein Politikversagen. In anderen Ländern werden Pflegende wertgeschätzt und akademisch ausgebildet. Wenn man sich nur überlegt: Jeder und jede von wird einmal alt und zu 30 bis 40 Prozent Wahrscheinlichkeit pflegebedürftig. Ich kann nur vorschlagen, selber Vorsorge zu treffen. Wer 50 Jahre alt ist, sollte sich ein Umfeld bauen, in dem er auch mit Pflegebedürftigkeit leben kann. Wie sieht meine Wohnung aus, welche Umbauten sind nötig, gibt es Menschen, die mich unterstützen, habe ich ein soziales Netzwerk, die Einkäufe machen oder mir in die Badewanne helfen? Es wird nur über ein solches Netzwerk gehen, denn fachliche bzw. staatliche Angebote allein werden nicht ausreichen. Eine solche Vorsorge machen aber die allerwenigsten, weil man das Thema Alter und Pflegebedürftigkeit wegschiebt nach dem Motto „Der Kelch wird hoffentlich an mir vorbeigehen“.
Selbst vorsorgen, damit Pflegefachkräfte dort eingesetzt werden, wo es ohne sie nicht geht?
Genau. Und wir brauchen auch Übergangsformen, zum Beispiel die rehabilitative Kurzzeitpflege. Ein alter Mensch, der mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus liegt, kann nach der Operation für drei bis vier Wochen in eine solche Pflege gehen, damit er wieder fitter wird. Dieses Modell gibt es in Dänemark, wo 60 Prozent der Menschen nach der Reha wieder zu Hause leben können. Bei uns geht es eher ins Altenheim, dort findet aber kaum Therapie und Aktivierung statt. Auch eine Pflegebedürftigkeit lässt sich mit Reha und Aktivierung verbessern – aber das Potenzial wird leider nicht ausgeschöpft.