Frau Prof. Dr. rer. medic. habil Martina Hasseler ist Professorin für Klinische Pflege (Schwerpunkte: Pflegewissenschaft, Gesundheitswissenschaft, Gerontologie, Rehabilitation) an der Fakultät Gesundheitswesen, Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Campus Wolfsburg. Zudem ist sie stellvertretendes Mitglied der Ethikkommission der Pflegekammer Niedersachsen.
Die Digitalisierung ist einer der großen, übergeordneten, globalen Trends. Beschreiben Sie uns bitte den aktuellen Entwicklungsstand bzw. den Reifegrad der Digitalisierung in der Pflege im Vergleich zu anderen Branchen.
Prof. Martina Hasseler: Die Digitalisierung in der Pflege ist definitiv wenig ausgereift. Es gibt kaum gut entwickelte und in der pflegerischen Versorgung integrierte neue Technologien. Viele Projekte befinden sich in der Erprobungs- und Evaluierungsphase, aber von einer Digitalisierung der Pflege können wir noch nicht sprechen.
Meine Erfahrung ist bis jetzt, dass diverse Projektideen zur Weiterentwicklung der Pflege durch Digitalisierung von vielen Förderern nicht gesehen werden. Das hat meines Erachtens auch mit einem geringen Verständnis einer professionellen Pflege zu tun.
Es werden in der Literatur Digitalisierungstrends wie Informations- und Kommunikationstechnologien beschrieben oder Ergebnisse von Projekten zur Entwicklung von Service-, Logistik- und Sozialrobotik vorgestellt, aber diese sind noch nicht so ausgereift, dass sie nachhaltig in der praktischen Versorgung umgesetzt sind. Hinzu kommt das Problem, dass in der öffentlichen Debatte neue Technologien und Digitalisierung in der Pflege häufig mit dem Argument angeführt werden, diese sollten doch die Pflege entlasten. Dieser Impetus ist meines Erachtens ein falscher. Neue Technologien und Robotik sollten die Pflege und den Pflegeprozess unterstützen. Aus diesem Grunde kann ich nur formulieren, dass viele Projekte zur Digitalisierung in der Pflege noch in den Anfängen stecken, noch kaum gut und nachhaltig umgesetzt und wenig geleitet sind von dem Gedanken, wie sie die pflegerische Versorgung so unterstützen können, dass gute Ergebnisse in der Versorgung von Patienten und Patientinnen und Pflegebedürftigen erzielt werden können.
Hat die Corona-Pandemie hier konkrete Schwachstellen und neue Herausforderungen offengelegt? Welche sind das?
Prof. Martina Hasseler: Die Corona-Pandemie hat sehr die Schwachstellen für die pflegerische Versorgung insgesamt offengelegt. Wir haben in Deutschland einen Pflegefachpersonenmangel, der sich mit der Pandemie noch einmal stärker zeigt. Aber der gering ausgeprägte Digitalisierungsstand in der Pflege wurde mit der Pandemie noch deutlicher. Auf einmal konnten keine Hauarztbesuche mehr stattfinden oder Angehörige konnten nicht in die Pflegeheime oder Krankenhäuser gehen; die interprofessionelle und sektorenübergreifende Kommunikation wurde erschwert; Pflegeheimbewohner wurden nicht selten in der ersten Welle in ihre Zimmer eingeschlossen, da keine anderen Möglichkeiten gesehen wurden, sie zu schützen u. v. m. Es zeigte und zeigt sich, dass wir kaum differenzierte Informations- und Kommunikationstechnologien haben, die die Sektoren, Settings und Berufsgruppen miteinander verbinden. Es gibt keine Servicerobotik, die z. B. Pflegeheimbewohnende hätten unterstützen können. Insgesamt waren die pflegerischen Berufsgruppen auf sehr analoge Kommunikationsmittel wie Telefone und Smartphones angewiesen, um mit Verwandten, Ärzten und Ärztinnen oder anderen Berufsgruppen zu telefonieren und in Kontakt zu treten. Ähnlich erging es vielen pflegebedürftigen Menschen im häuslichen Bereich.
Insgesamt zeigt sich, dass weder Informations- und Kommunikationstechnologien noch robotische Systeme oder Monitoringsysteme oder Assistenzsysteme sinnhaft so in den Settings umgesetzt sind, dass sie auch in Krisen eine reibungslose und qualitativ hochwertige Pflege ermöglichen. Meiner Meinung nach gibt es noch viel zu tun.
Vor allem benötigen wir für die weitere Entwicklung erst einmal eine Vorstellung darüber, was eine professionelle und qualitativ hochwertige Pflege ist, welche Ziele sie erreichen soll und wie diese dann mit neuen Technologien und Digitalisierung zu unterstützen ist.
Welche Folgen haben Digitalisierung und Technisierung auf die strukturelle Organisation in Gesundheits-/Pflegebetrieben?
Prof. Martina Hasseler: Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. In den Krankenhäusern wird die Veränderung vermutlich schneller gehen, da die Finanzierungssystematiken andere sind und gleich das gesamte System mit der Einführung neuer digitaler Technologien verändert wird. Damit möchte ich sagen, wenn in den OP-Sälen robotische Systeme eingesetzt werden, hat das Einfluss auf die gesamte Arbeitsorganisation, Dokumentation etc. – nicht nur auf die Arbeit der OP-Säle, sondern auch die pflegerische Versorgung in den chirurgischen Abteilungen, z. B. auch, weil die Operationen beispielsweise minimal-invasiver oder schonender erfolgen können, die postoperative Versorgung sich dadurch anders gestaltet, das OP-Personal anders eingesetzt werden kann etc.
In der Langzeitpflege wird es weitaus schwieriger werden, da mit der Pflegeversicherung als Teilleistungsrecht die Finanzierung neuer Technologien und die Übernahme der Kosten gar nicht so klar geregelt ist. In diesem Bereich wird die Veränderung der Struktur und Organisation langsamer voranschreiten.
Aber es ist anzunehmen, dass neue Technologien zu einer Demokratisierung in den Gesundheitsberufen führt und die bestehenden Hierarchien verändern, da beispielsweise mit künstlicher Intelligenz viele Tätigkeiten entfallen werden. Diese Veränderungen werden auch die Ärztinnen und Ärzte betreffen. Es ist möglich, dass die berufsgruppen- und sektorenübergreifende Versorgung durch künstliche Intelligenz und neue Technologien schneller erfolgt, klinische Entscheidungsfindung von künstlicher Intelligenz übernommen wird und Berufsgruppen diese dann gegebenenfalls nach Prüfung lediglich noch durchführen. Es ist möglich, dass Terminierungen durch neue Technologien übernommen werden und damit Reibungspunkte und Schnittstellen entfallen.
Vorstellbar ist auch, dass sich mit zunehmender Technologisierung und Digitalisierung nicht nur die Berufsbilder ändern, neue entstehen und alte entfallen werden, sondern auch, dass neue Arbeitszeitmodelle Einzug halten. Im Bereich der häuslichen Pflege liegen Potenziale im Ambient Assistent Living, aber auch hier gilt, dass sich AAL noch nicht im Entwicklungsstadium der nachhaltigen Umsetzung und Finanzierung im häuslichen Bereich befindet. Darüber hinaus sind offensichtlich viele nicht kompatible Systeme durch Projektförderungen entstanden und für die Nutzergruppen augenscheinlich auch noch zu teuer.
Aus meiner Perspektive müssen wir mit der Entwicklung und Erprobung von neuen Technologien in der Pflege oder für die Pflege die Auswirkungen auf die Organisation mitdenken und evaluieren, um die praktische Gestaltung und die Auswirkungen auf den Pflegeprozess sogleich evaluieren und sinnhaft gestalten zu können.
Und wie wandelt sich durch die Digitalisierung die Ausbildung/Qualifizierung in der Pflege?
Prof. Martina Hasseler: Damit versuchen wir uns gerade in einem Projekt zu beschäftigen. Die pflegerischen Berufsgruppen werden sich definitiv Kenntnisse im Bereich der IT, Informations- und Kommunikationstechnologie und Robotik aneignen müssen.
Beim Stichwort Digitalisierung in der Pflege werden häufig die Anforderungen an Pflegefachpersonen nicht ausreichend analysiert, und somit wird im Rahmen von Digitalisierungsprojekten nicht selten missachtet, dass der Einzug digitaler Innovationen auch die Vermittlung von digitalen Kompetenzen der Nutzenden verlangt.
Die Einbindung der Pflegefachpersonen in die Entwicklung digitaler Technologien ist maßgeblich, da es mit dem Einsatz zu disruptiven Veränderungen im Verständnis, in der Rolle, in den Aufgaben, in den Verantwortlichkeiten und demzufolge in den Kompetenzen pflegerischer Versorgung führt. In der logischen Folge setzt eine Erhöhung von Mensch-Technik-Interaktionen ein, der den konsequenten Auf- bzw. Ausbau digitaler Kompetenzen der Pflegeprofessionen erfordert. So kann die künftige Anwendung zielgerichtet, systematisch in der Gesundheitsversorgung sowie den Zielen entsprechend, gesichert werden. Die Pflegeberufe müssen in Zukunft nicht nur die neuen digitalen Technologien in ihrer Sinnhaftigkeit bewerten können, sondern auch in die pflegerische Versorgung integrieren, mit den Daten umgehen, an der Entwicklung von neuen Technologien mitwirken, die ethischen Problematiken reflektieren können, die menschliche Interaktion aufrechterhalten, die veränderte berufsgruppen- und sektorenübergreifende Zusammenarbeit gestalten können u. v. m. Es ist definitiv erforderlich, dass sie die Kompetenzen erwerben, die Technologien zu verstehen und mitzugestalten. Es werden ganz neue Kompetenzprofile entstehen und sich ein Teil der pflegerischen Verantwortlichkeiten auf das Beherrschen und Verstehen der Technologien verlagern.
Es werden immer wieder viele Gründe aufgeführt, warum digitale Veränderungen nicht oder nur sehr langsam umgesetzt werden können. Welche Vorhaben werden durch die aktuellen Gesetzgebungen erschwert und wo fehlt es nur an Kompetenz und Engagement?
Prof. Martina Hasseler: Die Vorhaben werden insgesamt durch ein geringes Verständnis behindert, dass auch die pflegerische Versorgung neue Technologien und Digitalisierung benötigt. Das Mindset der Entscheidungsträger ist, wenn es um professionelle Pflege geht, in Deutschland sehr eng und wird allenfalls im Kontext der Pflegeversicherung und hier im Bereich der Verrichtungsorientierung gedacht.
Aus diesem Grunde werden nicht selten Projekte gefördert, die als Ziel haben, z. B. Robotik im Bereich der sozialen Interaktion oder Kommunikation zu fördern, weil die Förderer glauben, die professionelle Pflege müsste von Kommunikation und sozialer Interaktion befreit werden. Es fehlt ein völliges Verständnis z. B. für Telenursing-Konzepte, für KI in der Pflege, für neue Technologien und Digitalisierung, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken u. v. m.
Bei den Förderungen behindern also nicht nur die Gesetzgebungen, sondern auch die Vorstellungen der Förderer über die Pflege und welche Technologien diese aus ihrer Sicht benötigt. Insgesamt spielt bei der Förderung von Projekten wenig das Kriterium eine Rolle, wie die professionelle Pflege, wie die Pflegeprozesse und eine qualitativ hochwertige Pflege mit neuen Technologien unterstützt und weitere entwickelt werden können.
Des Weiteren werden die Entwicklungen von neuen Technologien und Digitalisierung für das Gesundheitswesen kaum Pflegeberufe mitgedacht.
Es ist auch in den Wahlprogrammen der Parteien im Moment zu sehen, aber auch in vielen gesetzlichen Vorhaben: Bei Digitalisierung wird zumeist an die Leistungen der Ärztinnen und Ärzte gedacht, aber Pflegeberufe nicht ansatzweise integriert.
Es bedarf demzufolge eines Umdenkens der Entscheidungsträger im Gesundheitswesen, wenn sie Digitalisierung fördern wollen. Sie müssen die Gesundheitsversorgung als interdisziplinäre Prozesse denken und alle Berufsgruppen integrieren. Anderenfalls werden die Digitalisierungsbemühungen nicht erfolgreich sein.
Die Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Genomik findet immer schneller statt. Auf welche Technologien und Methoden wird man zukünftig in der Pflege nicht mehr verzichten können?
Prof. Martina Hasseler: Diese Frage werden wir erst beantworten können, wenn sinnhaft daran gearbeitet worden ist, inwiefern und wie neue Technologien und Digitalisierung die professionelle Pflege unterstützen können, um qualitativ hochwertige Ergebnisse zu erzeugen. Des Weiteren ist die Entwicklung der Technologien für den Bereich der Pflege noch weit in den Anfängen. Da die meisten Projekte noch nicht verstetigt oder sinnvoll integriert worden sind, kann ich diese Frage nicht sicher beantworten.
Zum Teil führe ich diesen Mangel aber auch darauf zurück, dass nicht die richtigen Projekte für Digitalisierung in der Pflege gefördert werden. Sie haben offensichtlich keine nachhaltige Wirkung.
Die Pflegeberufe entlasten und unterstützen würden beispielsweise robotische Systeme, die die Transfers und das Tragen, also die körperlich anstrengenden Tätigkeiten übernehmen. Sehr sinnvoll wären Technologien, die das Bestellsystem automatisieren oder die hauswirtschaftlichen und patientenfernen Tätigkeiten übernehmen. Eine digitale Erfassung und Verarbeitung von Patienteninformationen haben das Potenzial einer reliableren und valideren Erfassung und könnte somit die Qualität der Versorgung verbessern. Dafür müssen aber diese Systeme gut in den Pflegeprozess integriert werden. Die Entwicklung von künstlicher Intelligenz zur Unterstützung der Dokumentation und Entscheidungsfindung hätte das Potenzial, eine qualitativ hochwertige Pflege zu unterstützen.
Aber im Moment bleiben alle Prognosen im Vagen, da in der Entwicklung so wenig über die Unterstützung einer fachlichen und prozesshaften Pflege nachgedacht wird.
Die digitale Transformation beeinflusst unsere Gesellschaft, das soziale Miteinander, unser Lebensumfeld und unsere Arbeitsgewohnheiten. Beschleunigt die Corona-Pandemie diese Entwicklung? Und was sind die größten, nachhaltigen Veränderungen?
Prof. Martina Hasseler: Ich glaube, dass die Corona-Pandemie erst mal gezeigt hat, dass wir als soziale Wesen auf soziale Kontakte angewiesen sind. Deswegen sollte bei der Entwicklung neuer Technologien und Digitalisierung für die Pflege darauf geachtet werden, dass diese für die patientenfernen Aufgaben, Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten entwickelt werden.
Im Moment gibt es die Tendenz, insbesondere in der Robotik-Entwicklung, dass diese für die sozialen Interaktionen und Kommunikation hergestellt werden. Dafür benötigen wir diese aber nicht.
Aus meiner Beobachtung kann ich nicht sagen, dass die Corona-Pandemie die digitale Transformation in der Pflege beschleunigt hätte. Wir sind nun in der vierten Welle, und immer noch müssen die Kontaktverfolgungen per Telefon, Paper und Pencil erfolgen, und die pflegerische Versorgung ist nicht auf die vierte Welle vorbereitet. Auch konnte ich keine öffentlichen Debatten verfolgen, dass die Fragen der neuen Technologien und Digitalisierung für die Pflege und wie mit diesen eine gute Versorgung zu erreichen ist und welche Entwicklungen wir sinnvollerweise benötigen, diskutiert werden.
Es scheint so, dass vor der Pandemie wie mitten in der Pandemie und nach der Pandemie ist und eine nachhaltige Wirkung der erschreckenden Erlebnisse in der pflegerischen Versorgung keinen Hall erzeugt hat.
Für die Pflegeberufe bedeutete die Pandemie eine Verschlechterung der Versorgung, sie konnten nicht im Homeoffice arbeiten und mussten beispielsweise die Situationen in den Pflegeheimen oder auf den Intensivstationen ertragen. Ich kann nicht erkennen, dass ein öffentliches Interesse daran besteht, diese Erlebnisse aufzubereiten und sich zu fragen, wie jetzt die Pflegeberufe und die pflegerische Versorgung mit neuen Technologien und Digitalisierung unterstützt werden können.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.