Prof. Helmut Kreidenweis, Dipl.-Päd. (Univ.), Dipl.-Sozialpäd. (FH), ist Professor für Sozialinformatik und Leiter der Arbeitsstelle „Sozialinformatik“ an der der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und gab dem CareTRIALOG Auskunft zum Thema „Digitalisierung und Technisierung in der Pflege“ (weitere Infos unter www.sozialinformatik.de/ und www.sozialinformatik.de/arbeitsstelle/).

Beschreiben Sie aus Ihrer Sicht den Status quo der Digitalisierung und Technisierung in der Pflege. 

Prof. Helmut Kreidenweis: Da gibt es Licht und Schatten. Es existiert heute schon ziemlich ausgereifte Software für die Pflege, auch wenn die Anwenderfreundlichkeit teils noch zu wünschen übriglässt. Viele ambulante Dienste sind mit klassischer und mobiler IT schon sehr gut ausgestattet, die stationäre Pflege arbeitet überwiegend auch schon IT-gestützt aber noch wenig mobil, etwa mit Tablets direkt im Bewohnerzimmer. Doch Digitalisierung bedeutet weit mehr als klassische IT: Interaktive Websites, auf denen ich direkt chatten und Termine vereinbaren kann, Nutzung moderner Assistenztechnologien und kompetente Beratung dazu oder die Integration von Angehörigen in die elektronische Dokumentation. Davon sind die meisten Pflegeeinrichtungen noch Meilen entfernt

Was sind die größten Trends bei der Digitalisierung und Technisierung des Pflegebereichs? 

Prof. Helmut Kreidenweis: Momentan ganz klar die mobile IT-Nutzung. Heute stehen dafür hinreichend robuste und erschwingliche Geräte bereit, und es gibt spezielle Apps, die deutlich schicker sind, also so manches mittlerweile angestaubte PC-Programm. Spracheingabe statt Tippen wird der nächste Schritt sein, dann sicherlich Anwendungen aus dem Smart-Home-Bereich, die Menschen – ob pflegebedürftig oder nicht – das Leben erleichtern: sprachgesteuerte Haustechnik für Licht oder Rollos, Tür- und Fenstersensoren und vieles mehr.

Was sind die ausgewiesenen Chancen

Prof. Helmut Kreidenweis: Da gibt es viele. Nehmen wir etwa die Assistenztechnologien: Der Einsatz moderner Lösungen kann die Sicherheit für Bewohner und Patienten erhöhen und die Mitarbeitenden entlasten. Mobile Dokumentation und Information spart Laufwege und erhöht die Qualität. Und Angehörigenintegration in die Dokumentation kann ein viel engeres Miteinander von familiärer Sorge und professioneller Pflege schaffen.

Welche dringendsten Herausforderungen sehen Sie? 

Prof. Helmut Kreidenweis: Die oben genannten Chancen verwandeln sich natürlich nicht von selbst in tatsächliche Erfolge. Erste und größte Herausforderung ist es, Akzeptanz und Verständnis auf Seiten der Mitarbeitenden und Leitungskräfte herbeizuführen. Wenn sich alle anderen Lebensbereiche digitalisieren, kann doch die Pflege nicht außen vor bleiben. Warum kann ich heute jedes bestellte Päckchen fast auf den Meter genau tracken, aber nicht auf dem Smartphone sehen, wann der Pflegedienst heute bei meiner Mutter war und ob etwas Besonderes vorgefallen ist. Digitalisierung hilft auch, für junge Mitarbeitende attraktiver zu sein. Wer sein ganzes Leben über das Smartphone organisiert, möchte keine Stundenzettel oder Urlaubsanträge mehr auf Papier ausfüllen und dreimal kopieren. Das gilt natürlich auch für den Bewerbungsprozess: schlank, schnell und voll-digital sollte er sein. Die Liste der Herausforderungen ließe sich noch beliebig fortsetzen.

Welche Folgen haben Digitalisierung und Technisierung auf die strukturelle Organisation in Gesundheits-/Pflegebetrieben? 

Prof. Helmut Kreidenweis: Eine sinnvolle Techniknutzung bringt immer auch Veränderungen in den Prozessen mit sich. Hier ist aktives Prozessmanagement – und entsprechendes Wissen bei den Leitungskräften – gefragt. Wir brauchen künftig agile Prozesse, die radikal vom Kundennutzen her gedacht sind. Dieses Denken sind wir bislang in der Pflege nicht gewohnt, wir denken oft noch zu Hierarchie- und Institutions-bezogen. Das fängt schon bei der Anfrage an: Kunden wissen doch oft nicht einmal, ob sie nun mit ihrem Problem beim Pflegeheim St. Anna, der Sozialstation West oder der Tagespflege Sonnenschein richtig sind. Und schon gar nicht möchten sie am Telefon von Hinz zu Kunz verbunden werden. Wir müssen einen digitalen und analogen „single point of contact“ bieten, an dem kompetent beraten und geholfen wird – und das auch zu den Zeiten, an denen in der Familie über solche Probleme gesprochen wird: am Abend und am Wochenende.

Wie wirken sich die Digitalisierung und Technisierung auf die Beschäftigungsarten und die Qualifizierung der in der Pflege Beschäftigten aus? 

Prof. Helmut Kreidenweis: Die Digitalisierung in der Pflege ist sicher nicht die Zauberformel gegen den Fachkräftemangel. Aber sie kann an verschiedenen Stellen zur Entlastung beitragen. Und sie wird Berufsbilder in Teilen verändern. Zwar wird die Pflege auf absehbare Zeit eine primär menschliche Dienstleistung bleiben, aber wir müssen moderne Technik schrittweise integrieren und beispielsweise die Beratungskompetenzen von Pflegedienstleitungen zum sinnvollen Technikeinsatz aufbauen. Die Qualifizierung ist sicherlich die größte Herausforderung: Auch im Jahr 2018 ist moderne Techniknutzung immer noch nicht in die meisten Lehrpläne der Pflegeaus- und Weiterbildung integriert. Das halte ich im Jahr 2018 für ziemlich skandalös. Auch Leitungskräfte brauchen künftig fundiertes IT-Know-how und gezielten Erfahrungsaustausch, um sinnvolle von weniger sinnvoller Technik unterscheiden zu lernen. Und sie sollten einen Satz aus ihrem Kopf verbannen: „In unserer Einrichtung geht das auf keinen Fall.“

Haben Sie vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen!


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