Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko ist Inhaberin des Lehrstuhls für Management und Innovation der Universität Witten/Herdecke und forscht an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Gesundheitsversorgung zu Innovationen auf Produkt-, Prozess-, Organisations- und Systemebene (www.uni-wh.de/mig). Gemeinsam mit Kolleginnen aus der Pflegewissenschaft hat sie zur Situation pflegender Angehöriger in Deutschland und zur Vermeidung von Krankenhauseinweisungen aus dem Pflegeheim geforscht (www.pflegeheim-sensitive-krankenhausfaelle.de). Für den Forschungsschwerpunkt der digitalen Transformation im Gesundheitswesen hat sie die Dialogplattform ATLAS Digitale Gesundheitswirtschaft (gefördert durch das Land Nordrhein-Westfalen) entwickelt (www.atlas-digitale-gesundheitswirtschaft.de). 

Die Beschäftigung mit welchen Techniken, Anwendungen und neuen Technologien in der Pflege sehen Sie als am drängendsten/wichtigsten an – und warum?

Prof. Sabine Bohnet-Joschko: Aus meiner Sicht ist die Implementierung und der Ausbau der elektronischen Patientenakte und damit die digitale Pflegedokumentation besonders dringlich und bedeutsam für den Pflegesektor. Dieser Schritt bildet ein Fundament für die Schaffung effizienter und ressourcenschonender Prozesse in Pflegeeinrichtungen, setzt jedoch zukunftssichere sowie stabile Infrastrukturen voraus – eine Hürde, die es noch zu überwinden gilt. 

Die digitale Pflegedokumentation erleichtert nicht nur die Dokumentation und Kommunikation zwischen allen beteiligten Akteuren im Gesundheitssystem, sondern stärkt zugleich auch die Autonomie der Pflegebedürftigen durch den einfachen Zugang zu ihren Gesundheitsinformationen.

Für professionell Pflegende ermöglicht sie nach einer etwaigen Eingewöhnung – weg von Papierakten –, letztlich eine schnellere und präzisere Übertragung von Informationen und eine bessere Koordination der Pflegeleistungen. Zudem wird es möglich, die häufig knapp bemessene Zeit, die Pflegende haben, intensiver für die direkte Patientenversorgung zu nutzen.

Auch auf der Organisationsebene ist ein solides Datenmanagement mithilfe elektronischer Akten entscheidend. Die Verfügbarkeit von präzisen und umfassenden Informationen ist notwendig, um operative Abläufe zu optimieren und damit den Unternehmenserfolg zu sichern. Aber denken wir noch größer – auf Makroebene. Die gesammelten Daten können uns zum Beispiel dabei helfen, Gesundheitstrends zu erkennen, seltene Nebenwirkungen zu erfassen und Zusammenhänge innerhalb von Bevölkerungsgruppen zu entdecken, die uns bisher verborgen geblieben sind. Dies alles unterstreicht, wie entscheidend eine solide digitale Infrastruktur für die Zukunft der Pflege ist – und warum wir hier dringend Fortschritte machen müssen.

Wie muss sich heute schon die Ausbildung in der Pflege anpassen, um für neue Technologien und sich verändernde Prozesse gewappnet zu sein? 

Prof. Sabine Bohnet-Joschko: Digitale Kompetenzen sind unerlässlich, um im heutigen digitalen Zeitalter eine optimale Patientenversorgung sicherzustellen. Dies betrifft Pflegekräfte in der Ausbildung ebenso wie erfahrene Pflegefachkräfte. Das heißt jedoch nicht, dass der Pflegenachwuchs von morgen Programmierfähigkeiten erwerben muss. Wir haben im ATLAS Projekt ein White Paper zum Thema Digital Upskilling veröffentlicht, das weiterführende Informationen bietet, und das demnächst auf unserer Website zum Download bereitsteht.

Die Pflegefachkraft von heute nutzt bereits routinemäßig verschiedene Hard- und Software – das ist keineswegs eine neue Entwicklung. Schon zu Beginn der Ausbildung sollte ein Fokus auf der Informations- und Datenkompetenz liegen. Das korrekte Erfassen, Verstehen und Nutzen von Daten innerhalb digitaler Systeme hat direkte Auswirkungen auf die Behandlungsergebnisse der Patienten. Pflegekräfte tragen durch tägliche Dokumentation und Kodierungsprozesse in elektronischen Aufzeichnungen wesentlich zur Datenqualität bei, was wiederum für die Weiterentwicklung dieser Anwendungen entscheidend ist. Zudem ist es wichtig, dass bereits in der Ausbildung potenzielle Unsicherheiten hinsichtlich ethischer und rechtlicher Fragen im Umgang mit digitalen Technologien thematisiert werden. Beruflich Pflegende müssen in der Lage sein, die Vor- und Nachteile digital gestützter Instrumente zu verstehen und kritisch zu hinterfragen, ohne dabei die eigene klinische Expertise oder die Wichtigkeit persönlicher Interaktion zu vernachlässigen.

Angesichts ihrer beratenden Funktion müssen Pflegekräfte heute und in Zukunft Patienten nicht nur pflegen, sondern auch anleiten, ihre Gesundheitsdaten zu verstehen und darauf zugreifen zu können.  

Letztlich ist der digitale Wandel in der Pflegebranche ein kontinuierlicher Prozess – und auch das ist nicht neu. Pflegekräfte lernen in allen Bereichen ständig dazu, das gilt selbstverständlich genauso für den Bereich der digitalen Kompetenzen.

Der Einsatz welcher (digitalen) Technik und von welchen neuen Technologien bieten sich 1.) ambulant und 2.) stationär an? 

Prof. Sabine Bohnet-Joschko: Die Digitalisierung hat im ambulanten Sektor insbesondere in der Optimierung interner Prozesse wie Tourenplanung und Leistungserfassung große Fortschritte gemacht. Darüber hinaus birgt die ambulante Versorgung durch die Einführung digitaler Pflegeanwendungen (DiPA) sowie der Telemedizin bzw. Telepflege ein enormes Potenzial für die Zukunft. Diese Technologien gestatten es Pflegekräften, eine durchgehende Betreuung zu gewährleisten und Gesundheitsdaten ihrer Patienten in Echtzeit zu erfassen. Vor allem chronisch erkrankten oder älteren Personen wird dadurch ermöglicht, länger in ihrem vertrauten häuslichen Umfeld zu bleiben. Hier spielen mobile Anwendungen zur Kontrolle von Vitalparametern eine Rolle, ebenso wie Programme, die als digitale Hilfsmittel zur Prävention von Stürzen oder zur Förderung der kognitiven Fähigkeiten dienen, aber auch Telepflegedienste, die eine Ferndiagnose und -beratung durch Pflegefachpersonal ermöglichen.

Im stationären Sektor hingegen eröffnen technische und digitale Assistenzsysteme, wie Robotik und Sensorik, völlig neue Einsatzfelder in der Pflege.

Die Befürchtung, dass Roboter menschliche Pflegekräfte ersetzen könnten, wird durch den praktischen Einsatz entkräftet: Sie dienen als Assistenz, die das Personal entlastet, indem sie vor allem logistische Aufgaben übernehmen – etwa Getränke zu Patienten zu transportieren. Menschen werden sich weiterhin um Menschen kümmern.

Darüber hinaus bieten Robotik-Lösungen Unterstützung bei der Bewegungsförderung von Patienten und können bei einfachen Pflegeaufgaben behilflich sein. Automatisierte Systeme zur Medikamentenverabreichung ermöglichen eine präzise und zeitgerechte Abgabe der Medikation, während intelligente Sensortechnologie eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung kritischer Patientendaten sicherstellt, um im Notfall schnell reagieren zu können. Nicht zu vergessen sind auch hier die digitalen Patientenakten, die nicht nur die Zugänglichkeit von Patienteninformationen verbessern, sondern ebenso die Präzision und Effektivität der Pflege und damit die Patientensicherheit erhöhen.

Welche technischen Anwendungen können in welchem Bereich ganz konkret für Entlastung 1.) bei Bewohnern und 2.) beim Pflegepersonal sorgen? 

Prof. Sabine Bohnet-Joschko: Die Liste könnte vermutlich sehr lang werden, da zahlreiche digitale Innovationen sowohl dabei unterstützen, die Autonomie von Pflegebedürftigen zu stärken, wie auch die Arbeitsbelastung des Pflegepersonals zu reduzieren.

Für die Bewohner liegt der Fokus sicherlich auf Technologien, die ihre Selbstständigkeit erhöhen und gleichzeitig Sicherheit bieten.

Zum Beispiel erleichtern Ambient-Assisted-Living-Systeme das alltägliche Leben durch Sensoren in Pflegebetten, welche die Bewegungen überwachen und einen Alarm auslösen, falls nötig. Intelligente Fußmatten, die Stürze erkennen, und Hausnotrufsysteme, die per Knopfdruck Hilfe holen, bieten für viele Menschen notwenige Voraussetzungen, um in einer vertrauten Umgebung sicher leben zu können. 

Was das Pflegepersonal anbelangt, so habe ich bereits einige spannende Dinge genannt. Pflegeroboter, die bei physisch anstrengenden Aufgaben wie dem Heben von Patienten assistieren, und Transportroboter, die Logistikaufgaben wie die Verteilung von Wäsche, Getränken oder Medikamenten übernehmen, entlasten das Personal erheblich. Digitale Patientenakten und automatisierte Pflegepläne reduzieren den administrativen Aufwand und verbessern die Koordination der Pflegetätigkeiten. Auch die Telemedizin spielt in der Pflege eine wichtige Rolle: Sie ermöglicht Pflegefachkräften außerhalb von Kliniken, Fachärzte zu konsultieren und sie virtuell ans Krankenbett zu bringen, was dadurch vermeidbare Patiententransporte und Einweisungen ins Krankenhaus reduzieren kann.

Welche Förderungen/Förderprogramme gibt es, um die Digitalisierung in der Pflege (in Bezug auf Ausrüstung und auf Schulungen) voranzubringen? 

Prof. Sabine Bohnet-Joschko: Das ist nicht meine Expertise, doch dies habe ich dazu recherchiert: Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, das zu Beginn des Jahres 2019 in Kraft trat, zielt darauf ab, die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte deutlich zu verbessern. Von 2019 bis 2030 sind spezielle Fördertöpfe eingerichtet, die darauf ausgelegt sind, Projekte in Pflegeeinrichtungen zu unterstützen. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auch in der Digitalisierung im Pflegebereich. Zugelassene ambulante oder stationäre Einrichtungen können einen einmaligen Zuschuss von bis zu 12.000 Euro für die Anschaffung digitaler und technischer Ausrüstung beantragen. Interessant ist hierbei, dass bis zu 40 Prozent der von den Pflegeeinrichtungen getätigten Ausgaben förderfähig sind. Diese Förderung umfasst finanzielle Beihilfen sowohl für Software und Hardware als auch für entsprechende Schulungsmaßnahmen. Die Anträge müssen je nach Bundesland an die zuständigen Pflegekassen gerichtet werden. Es gibt eine online verfügbare Orientierungshilfe des Bundesministeriums für Gesundheit, außerdem lohnt es sich, bei den Verbänden der Leistungsträger und Leistungserbringer auf Bundesebene zu recherchieren. Dort sind viele weitere Informationen zu dieser Förderung zu finden. 

Wie sieht für Sie die ideale Pflege der Zukunft aus?

Prof. Sabine Bohnet-Joschko:

In der idealen Pflege der Zukunft sehe ich eine Synergie aus menschlicher Fürsorge und fortschrittlicher Technologie.

Hierbei dient die Technik als wertvolle Ergänzung, die Pflegefachkräften ermüdende Routine- und Servicetätigkeiten abnimmt und ihnen ermöglicht, sich auf patientennahe pflegerische Tätigkeiten zu konzentrieren. 

Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass die Digitalisierung auch neue Karrierechancen durch Spezialisierung bieten wird. Insofern sehe ich nicht alle Pflegefachkräfte am Patientenbett, sondern auch in Koordinierungs- und Führungspositionen zur Gestaltung einer digital unterstützten Gesundheitsversorgung der Zukunft.

Herzlichen Dank für Ihre detaillierten Antworten.


Anzeige

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert