Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, geboren 1958, hat die Professur für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung im Institut für Soziologie und Sozialpsychologie (ISS) inne und ist Geschäftsführender Direktor des Seminars für Genossenschaften an der Universität zu Köln.

Altern wir heute anders als früher?

Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt: Ja, die Menschen werden nicht nur im Durchschnitt (mit einer unter anderem von sozialer Ungleichheit geprägten) inter-individuellen Varianz älter. Auch die Art und Weise, sprich die Formen des Verlaufs des Alterns haben sich verändert und sind ebenso von einer inter-individuellen Varianz geprägt. Wichtigste Determinante ist die Bildung (korreliert mit Einkommen, Wohnen etc.) des Menschen in seiner Wechselwirkung zur Umwelt im Lebenslauf.

Auch intra-individuell altern die Menschen differenziert anders: ökonomisch, sozial, kulturell, ökonomisch, rechtlich, seelisch, geistig, spirituell etc. Alle Schattierungen sind vorhanden: mehrdimensional positiv, mehrdimensional negativ und dazwischen Mischlagen.

Besonders bedeutsam ist die Hochaltrigkeit und die zunehmende Langlebigkeit: Dort nimmt die Verletzbarkeit (Vulnerabilität) zu. Zum Beispiel im Fall von Alzheimer-Demenz und Netzwerklosigkeit.

Und wie wirkt sich das „neue Altern“ auf die Bedürfnisse älterer Menschen aus?

Prof. Schulz-Nieswandt: Mit der Kompetenz wächst die Betonung höherer Sinnschichten von Lebensqualität: Vor allem partizipativer Art im Sinne der Teilhabechancen.

Die älteren Menschen wollen eine bedeutsame Rolle in der Gesellschaft spielen (sogenannte Generativität). Dies dürfte auch demokratiepolitisch bedeutsam sein.

Wie haben sich die Wohnformen im Alter über die Jahre verändert?

Prof. Schulz-Nieswandt: Immer noch dominiert die Dichotomie: Privat-häuslich (mit oder ohne Vernetzung) oder bei Pflegebedürftigkeit in die stationäre Langzeitpflege (Pflegeheim).

Dazwischen haben wir eine gravierende Lücke alternativer Wohnformen wie Hausgemeinschaften, Wohngemeinschaften und anderer Formen gemeinschaftlichen/alternativen Wohnens. Das ist nicht bedürfnisgerecht.

Und welche Wohnformen sind Ihrer Meinung nach die zukunftsträchtigsten – vom Heim zum Quartier?

Prof. Schulz-Nieswandt: Ja, vom Heim zum Quartier.

Wir benötigen sozialraumintegrierte Wohnformen mit hoher Formendifferenzierung als Grundlage von Wahlfreiheiten.

Ältere Menschen brauchen keine „Sonderwohnformen“: Das ist ausgrenzend und stigmatisierend. Sie sollen genauso normal wohnen wie andere Menschen (obwohl manche Normalität auch zu Problematisieren ist). Sie sollen in ihrer Nachbarschaft integriert, wenngleich mit spezifischen Hilfesystemen unterstützt, leben, ihr Leben führen, nicht ihre Existenz fristend, sondern ihr Dasein führend. Teilhabe, Mobilität, Bedeutung haben – das setzt Integration im sozialen Leben voraus. Das hat Folgen für die Frage nach geeigneten Wohnformen: Nicht aussondern in – wenngleich mitunter hoch entwickelten – stationären Formen (da gibt es auch Abgründiges), sondern „mitten Im Leben“, mit den anderen Mitmenschen, nicht sich zurückziehend oder zurückgezogen werden in abgeschlossenen oder verschlossenen Räumen, wo es einsam wird. In Generationenwohnhäusern, in Wohngemeinschaften oder – durchaus allein, aber nicht einsam-alleine – in nachbarschaftlich gut vernetzten Privathäuslichkeiten. 

Welchen positiven Beitrag können neue Wohnformen für unsere Gesellschaft leisten?

Prof. Schulz-Nieswandt: Sie sind die Grundlagen für frei gewählte Formen der Daseinsführung bis ins hohe Alter hinein und stellen die notwendige Voraussetzung für selbständige Selbstbestimmung teilhabender Art als Grundrecht der Menschen dar.

Die Lebensqualität steigt mit dem Grad der inkludierenden Teilnahme an Netzen sozialer Beziehungen. Mit der Ausgrenzung der Menschen wird das Wohlbefinden der Menschen in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht gefährdet.

Welche Bedeutung kommt dabei der sozialraumorientierten Pflegestrukturplanung zu?

Prof. Schulz-Nieswandt: Eine zentrale Rolle! Der Sozialraum ist nicht da, er muss gebildet werden. Es geht um Netzwerkbildung und um Sicherstellung von Mobilität und sozialer Infrastruktur im kommunalen (lokalen, regionalen) Raum im Wohnumfeld des Wohnens.

Das kann man nicht einfach den Märkten überlassen.

Da reicht auch nicht im engeren Sinne Qualitätsmanagement. Wir müssen integrierte Räume entwickeln. Das ist die Aufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge in Kooperation mit den Sozialversicherungen (Kranken- und Pflegekassen). Schlussfolgerungen: raus aus dem obligatorischen Kontrahierungszwang der Kassen: Die Pflegestrukturplanung definiert, was wir im Lichte der obigen Antworten als Bausteine einer Vision des „guten Lebens“ benötigen – und was eben nicht (zum Beispiel einfach nur mehr Heimbettenkapazitäten).

Besten Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Foto: © Lisa Beller


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1 comment
  1. Diese Grundgedanken sind moderat und führen vielleicht zum Umdenken aber wichtig. Es sind für Deutsche Bürger neue Gedanken in den Niederlanden bereits umgesetzt. Danke für den Beitrag. Wir arbeiten im gleichen Sinne.

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